Bewusstseinsentwicklung / Rudolf Steiner

ALTEUROPÄISCHES HELLSEHEN/Rudolf Steiner
Berlin, 1. Mai 1909

Im Laufe dieser Wintervorträge ist immer wieder davon die Rede gewesen, daß es Erkenntnisse übersinnlicher Welten gibt. Es ist davon die Rede gewesen, wie der Mensch zu solchen Erkenntnissen kommen kann, und von den Ergebnissen dieser Erkenntnisse übersinnlicher Welten haben wir so manches Mal gesprochen. Nunmehr soll in zwei Vorträgen etwas gegeben werden wie eine Illustration zu dem, was man Erkenntnisse höherer Welten nennt. Und an Beispielen soll gezeigt werden, wie sich auf einem gewissen Gebiete hellseherisches Erkennen entwickelt hat, jenes hellseherische Erkennen, welches von unserer heutigen Menschheit im Grunde überwunden ist oder überwunden sein sollte. Von einem gewissermaßen wie durch Naturkräfte, Naturfähigkeiten gegebenen hellseherischen Erkennen soll heute die Rede sein. Das nächste Mal soll davon gesprochen werden, wie durch strenge Schulung, durch ganz bestimmte Methoden hellseherisches Erkennen zu erlangen ist, und zwar wiederum an bestimmten Beispielen. Von jenem hellseherischen Erkennen, das sozusagen unsere Altvordern zu ihren heute überwundenen Anschauungen geführt hat, wollen wir heute sprechen; von jenem hellseherischen Erkenntnisvermögen, das in einer freien selbstbewußten Weise in die höheren Welten führt, soll das nächste Mal die Rede sein.
Es ist auch schon erwähnt worden, daß die Geisteswissenschaft zu sprechen hat von einer Entwickelung des menschlichen Bewußtseins. Das, was wir heute unser Bewußtsein nennen, wodurch wir uns in unserem Innern die äußere Welt in Gedanken, Vorstellungen und Ideen wieder erschaffen, ist nur eine Entwickelungsstufe. Ihm ging in der Entwickelung der Menschheit ein anderes Bewußtsein voraus und wird ein anderes folgen. Wenn heute von Entwik-kelung im gewöhnlichen Sinne gesprochen wird, so meint man in der Regel eine Entwickelung der äußeren Formen, der materiellen Daseinsgestalten. Die Geisteswissenschaft spricht von einer Entwickelung der Seele und des Geistes, also auch von der Entwickelung des Bewußtseins. Wir können zurückblicken auf eine frühere Form des Bewußtseins, die durch unsere gegenwärtige Stufe der Entwickelung überwunden ist, und wir können hinblicken in die Perspektive eines Zukunftsbewußtseins, das erst allmählich sich auf tun wird. Wenn wir die heutige Bewußtseinsstufe «Bewußtsein» schlechthin nennen, so können wir das frühere Bewußtsein nennen ein Unterbewußtsein, und das, wozu sich das jetzige durch geisteswissenschaftliche Methoden hinauf entwickeln wird, ein Überbewußtsein. So unterscheiden wir drei aufeinanderfolgende Stufen: Unterbewußtsein, Bewußtsein und Überbewußtsein.
In gewisser Beziehung ist alles heutige Bewußtsein eine Entwickelungsstufe des Bewußtseins überhaupt, wie die höheren Tierformen Entwickelungsformen sind der allgemeinen Tiergestalt. Das heutige Bewußtsein hat sich aus untergeordneten Bewußtseinsstufen herausentwickelt. Unser heutiges Bewußtsein, das wir auch Gegenstandsbewußtsein nennen können, können wir so charakterisieren, daß wir sagen: Es nimmt die äußeren Gegenstände wahr durch die Sinne wie Gehör, Gesicht, Tasten und so weiter. Es macht sich Begriffe, Vorstellungen und Ideen von dem, was erst Wahrnehmung war. So spiegelt sich in unserem Bewußtsein eine äußere Welt von auf unsere Sinne einwirkenden Gegenständen.

Das Unterbewußtsein war noch nicht so; es hatte eine viel unmittelbarere Natur. Wir dürfen es in gewissem Sinne nennen ein niederes Hellseherbewußtsein, weil das Wesen, dem dies Bewußtsein eigen war, nicht mit den Sinnesorganen an die Gegenstände heranging und sie gleichsam abfühlte, um sich einen Begriff davon zu machen, sondern die Begriffe waren unmittelbar da; es stiegen Bilder auf und ab. Nehmen wir an, das Bewußtsein tritt einem äußeren Gegenstande entgegen, der ihm gefährlich ist. Heute sehen wir den Gegenstand, und die durch das Gesicht hervorgerufene Vorstellung bewirkt, daß in uns das Bewußtsein der Gefahr auftritt. So war es nicht bei dem hellseherischen Bewußtsein früher. Der äußere Gegenstand wurde nicht in deutlichen Umrissen wahrgenommen, in den älteren Zeiten überhaupt nicht. Etwas wie ein Traumbild stieg auf und zeigte dem Wesen an, ob etwas Sympathisches oder Unsympathisches ihm entgegentrat. Das können wir uns veranschaulichen durch das heutige Träumen, die auf- und abwogenden Traumbilder. So wie das Träumen heute im normalen Zustande ist, so ist es zu charakterisieren als etwas, das keine wirkliche Beziehung hat zu der äußeren Welt. Dagegen wenn wir uns das Traumbewußtsein so vorstellen, daß einem jeden Bilde, das als Traumbild in uns aufsteigt, etwas ganz Bestimmtes entspricht und zugeordnet ist, so daß ein bestimmtes Bild bei einer Gefahr aufsteigt, ein anderes bei einem nützlichen Gegenstand — wenn also durch diese Bilder eine bestimmte Beziehung zu uns vorhanden wäre —, dann konnten wir sagen, es käme uns nicht darauf an, ob wir träumen oder wachen, dann könnten wir unser praktisches Leben auch nach diesen Traumbildern einrichten.
Aus einem solchen realen Traumleben, das die innere Natur, die innere Seelenhaftigkeit der Dinge in Bildern aufsteigen ließ, aus einem solchen Bewußtsein ist das heutige Bewußtsein hervorgegangen. Und die mannigfaltigsten Gestalten hat es angenommen, bis es sich zu der heutigen Form entwickelt hat. Wenn wir zurückgehen in der Geschichte, wie sie die Geisteswissenschaft an die Hand gibt, würden wir bei alten Völkern zuletzt in ferner, ferner Vergangenheit einen Entwickelungszustand finden, in dem das Äußere nicht wahrgenommen wurde; aber von einem alten, hellseherischen Bewußtsein wurde die Umwelt in innerlicher Weise wahrgenommen. Aber dieses hellseherische Bewußtsein hatte eine Eigenschaft der Seele im Gefolge, welche gegenüber der jetzigen Grundeigenschaft unserer Seele als eine unvollkommene Stufe bezeichnet werden muß. Die Menschenseele war keine selbstbewußte Seele, sie konnte nicht zu sich «ich» sagen, sie konnte sich nicht von der Umwelt unterscheiden. Nur dadurch, daß die äußeren Gegenstände mit ihren festen Konturen der Seele entgegentraten, lernte die Seele, sich von ihnen zu unterscheiden. Es konnte sich dieses Bewußtsein nur dadurch bilden, daß das alte Bewußtsein dahinschwand, als das Tages- oder Gegenstandsbewußtsein eintrat.
So hat der Mensch sein Selbstbewußtsein erkaufen müssen mit dem Aufgeben des alten, ursprünglich hellseherischen Zustandes. Jede Entwickelung ist zugleich eine Höherentwickelung, wenn auch gewisse Vorteile früherer Stufen dabei aufgegeben werden müssen. Nun bleibt sozusagen von jeder Stufe in spätere Zeiten hinein etwas zurück, und wir können in gewisser Beziehung solche Erbschaften früherer Zeiten noch in die gegenwärtige Zeit hineinragen sehen. Das ist etwas Abnormes heute. Es wurde schon darauf aufmerksam gemacht, daß wir ja auch in der äuße-
ren Gestalt solche Atavismen haben, so zum Beispiel die Muskeln in der Nähe des Ohres, die früher das Ohr bewegt haben. Bei den Tieren haben sie ja zum Bewegen des Ohres noch einen Zweck. Beim Menschen haben sie keinen Zweck mehr, und nur wenige Menschen können ihre Ohren willkürlich bewegen. Was sind solche Muskeln? Sie sind Überbleibsel einer früheren Entwickelungsstufe. Der Mensch hat einmal eine solche Kopfform gehabt, daß die Ohren beweglich waren.
So wie solche Organformen in der Entwickelung übrig geblieben sind, so bleiben auch gewisse alte Zustände des Bewußtseins zurück. Deshalb sehen wir solche Überbleibsel, solche Erbstücke alten Hellsehens hineinragen bis in unser heutiges Bewußtsein; aber sie sind getrübt und verändert auf der heutigen Entwickelungsstufe und deshalb abnorm. Wenn wir hinweisen auf das, was zurückgeblieben ist vom Hellsehen, können wir leicht charakterisieren das alte europäische Hellsehen, das in der Entwickelung aller europäischen Völker zu finden ist und unterschieden werden kann von dem Hellsehen des Orients. Auf diese Unterschiede soll heute hingewiesen werden.
Welches sind die Erbschaften des alten hellseherischen Zustandes der Menschheit? Wir können da zwei Kategorien unterscheiden. Die eine steht gewissermaßen ganz für sich und gehört zu den göttlichen Erbstücken. Das sind der Traum und die Traumerlebnisse. Die anderen Überbleibsel gehören zu einer ganz anderen Kategorie. Der Traum ist nicht durch die Menschen, sondern durch die fortgehende Entwickelung selbst verändert. Die anderen Erbstücke sind die Vision, die Ahnung, und die Deuteroskopie oder das «andere Gesicht».
Wir betrachten zunächst den Traum. Er ist zurückgeblieben von dem alten Bilderbewußtsein. Aber in jenem alten
Bilderbewußtsein hing der Traum noch mit der Wirklichkeit zusammen. Wie ist der Traum heute? Er zeigt noch gewisse charakteristische Eigenschaften des alten Bilderbewußtseins, hat aber den realen Wert, den Wirklichkeitswert des alten Bilderbewußtseins verloren. Denken wir an ein Beispiel: Es träumt jemand, er sehe vor sich einen Laubfrosch, hasche nach ihm und ergreife ihn. Da wacht er auf und hat den Zipfel der Bettdecke in der Hand. Der Traum symbolisiert das äußere Ereignis. Würde der Mensch diesem Traum mit dem Gegenstandsbewußtsein gegenübergestanden haben, so würde er gesehen haben, daß er die Bettdecke in der Hand hielt. So aber symbolisiert der Traum. Er kann zu einem großen Dramatiker werden. Es träumt zum Beispiel einem Studenten, er würde beim Verlassen des Hörsaales von einem anderen angerempelt, ein Verbrechen, das nur durch ein Duell gesühnt werden kann. Er fordert nun den anderen auf Pistolen, die Sekundanten werden bestimmt, man findet sich an dem verabredeten Ort ein, die Distanz wird abgemessen, die Pistolen geladen, und der erste Schuß fällt. Im selben Augenblick aber wacht der Student auf und hat den Stuhl neben seinem Bett umgestoßen. Da haben wir wiederum dasselbe: der Traum verwandelt ein äußeres Vorkommnis in ein Bild. Wenn der Betreffende mit Gegenstandsbewußtsein das Geschehene angesehen hatte, wenn er wach gewesen wäre, so würde er gesehen haben, daß der Stuhl umgeworfen wurde.
Wir sehen bei diesen Traumen, daß es eine gewisse willkürliche Verbindung gibt zwischen dem, was der Träumende erlebt hat und dem, was äußerlich geschieht. Daß man es mit einem Bilde der äußeren Tatsachen zu tun hat, das hat sich der Traum bewahrt aus dem alten Bilderbewußtsein, aber nicht bewahrt hat er sich die unmittelbare Beziehung zu der äußeren Welt. Wenn er diese unmittel-
bare Beziehung noch hätte, dann würde der Mensch nicht nötig haben, das Salz mit der Zunge zu berühren, um es zu erkennen, sondern ein ganz bestimmtes Traumbild würde vor ihm aufsteigen, ein anderes bei Essig, Zucker, bei gefährlichen Wesen und so weiter. Jeder Wesensnatur entsprach ein ganz bestimmtes Bild.
Dieses Bewußtsein ist wie ein Rest zurückgeblieben, wie ein Erbstück im heutigen Traumbewußtsein. Weil der Mensch sozusagen mit seinem ganzen Wesen in seinem Selbstbewußtsein aufging, weil er sich losgerissen hatte von der Umgebung, haben beim heutigen Menschen die Traumbilder keinen Bezug mehr zur Außenwelt. Dadurch, daß der Mensch in ganz normaler Weise vom Traumbewußtsein zum Selbstbewußtsein aufstieg, ist die Beziehung des Traumes zur Außenwelt verlorengegangen.
Anders ist es bei den drei anderen Überresten: bei Vision, Ahnung und bei Deuteroskopie oder dem «anderen Gesicht». Wenn Sie sich erinnern an die ganze Entwickelung des Menschen, wie sie hier oft dargestellt worden ist, so stellt sie sich uns so dar: Der Mensch, wie er heute vor uns steht, besteht aus vier Gliedern: aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich. Das Ich ist das letzte Entwickelungs-glied, und durch das Aufsteigen zum Ich ist der Mensch zu einem selbstbewußten Wesen geworden. Wann hatte nun der Mensch dieses Bilderbewußtsein? Er hatte es, als sein Ich noch schlummerte im astralischen Leibe, als der astrali-sche Leib selbst der Träger des Bewußtseins war. Der astra-lische Leib war es, der diese Bilder auf- und absteigen ließ. Es ist also gleichsam so, als wenn der Mensch aufgetaucht wäre aus dem astralischen Leibe und dadurch sein heutiges Gegenstandsbewußtsein errungen hat. Dadurch ist es auch erklärlich, daß der Mensch noch tiefer verbunden sein mußte mit den anderen Gliedern seiner Natur. So wie er im astralischen Leibe untergetaucht war in früheren Zeiten, so war er untergetaucht im Ätherleibe und noch tiefer im physischen Leibe. Wir haben also drei Stufen des Unterbewußtseins unter dem heutigen Gegenstandsbewußtsein.

Denken Sie sich einmal einen Menschen schwimmend unter der Oberfläche des Meeres, im Meer drinnen. Die Möglichkeit sei ihm gegeben, das, was im Meer ist, zu sehen. Er sieht, was auf dem Grunde des Meeres vorgeht, was dort geschieht, was dort schwimmt, schwebt. Da hat er etwas anderes um sich, als wenn er auftaucht, hinaufschaut und den sternbedeckten Himmel über sich sieht. So können wir uns das Bewußtsein vorstellen, herausgehoben aus seinen Unterstufen, wo dem Menschen das bewußt war, was ihm astralischer, ätherischer und physischer Leib vermittelt haben, hinaufgestiegen zum heutigen Gegenstandsbewußtsein. Nun kann aber der Mensch in gewissen abnormen Fällen wiederum hinuntertauchen sozusagen in dieses Meer des Unterbewußtseins. Er kann sich so hineinbegeben, daß er das, was er schon erobert hatte, nachdem er herausgetaucht war aus dem Meer des Unterbewußtseins, jetzt wieder mit hinunternimmt.
Denken Sie sich einen Menschen, der oben alles gesehen hat, dann wieder hinuntertaucht und nun alles unten Wahrgenommene vergleichen kann mit dem, was er von oben kennt. So ist es mit dem heutigen Menschen: er nimmt dasjenige mit, was er sich oben erworben hat. Es ist nicht so, wie es beim Taucher ist, der alles nur in der Erinnerung mitnimmt und vergleichen kann. Wer da hinuntertaucht, nachdem er ein gegenwärtiger Mensch gewesen ist, dem färbt sich hier alles, was unten ist, mit den Erfahrungen von oben. Man bringt wie eine Hülle das oben Erlebte in dieses Unterbewußtsein hinein und bekommt dadurch keine reine Vorstellung, kein ungetrübtes Bild, sondern ein Bild, das durch die Erfahrungen des Gegenstandsbewußtseins getrübt ist.
Wenn der Mensch da hinuntertaucht in seinen Astralleib, so versetzt er sich künstlich zurück in die Sphäre, die sein Bewußtsein einnahm, als er noch selber im astralischen Leibe lebte. Dadurch entsteht im gegenwärtigen Sinne die Vision. Würde der Mensch hinuntersteigen in das Bewußtsein des astralischen Leibes, ohne etwas von der heutigen Welt zu wissen, so würde er wirklich jene Bilder erleben, die das Innere der Gegenstände darstellen. Da er aber, wenn er hinuntersteigt, das mitnimmt, was er oben erfahren hat, erscheinen ihm alle Dinge, die ihm sonst in ihrer wahren Gestalt erscheinen würden, so, daß sie ihm vorgaukeln, vorspiegeln das, was man nur hier in der Welt des Gegenständlichen erleben kann. Das ist das Wahre und das Trügerische der Vision…

XVII. Vortrag – Alteuropäisches Hellsehen
Berlin, 1. Mai 1909

aus

RUDOLF STEINER
Wo und wie findet man den Geist? GA 57

Achtzehn öffentliche Vorträge
gehalten zwischen dem 15. Oktober 1908
und dem 6. Mai 1909
im Architektenhaus zu Berlin

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Einführung in die Anthroposophie. Rudolf Steiner
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