Bibel als Erziehungsmittel der Seelen – Wo und wie findet man den Geist? Rudolf Steiner

Hinweis: Es ist empfehlenswert, sich erst mit einigen Grundlagenthemen der anthroposophischen Thematik zu befassen:
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Kurzübersicht:

Denn die Bibel ist wahrlich nicht nur ein Dokument, obwohl sie das in hervorragendstem Maße ist, da sie die Seele erfüllt mit einer Summe von Vorstellungen über die Welt und das Leben, das der Seele also eine Weltanschauung gibt, sondern die Bibel war, durch Jahrtausende hindurch, ein gewaltiges Erziehungsmittel der Seelen…
Die Bibel kann man nur richtig mit Hilfe der Geisteswissenschaft verstehen…
Diejenigen, die heute vielleicht noch in einer ganz unerschütterlichen Weise auf dem Boden der Bibel stehen, könnten das, worauf damit hingedeutet ist, vielleicht zu gering einschätzen. Sie könnten sagen: Mag es auch mancherlei Leute geben, die heute sich aus diesen oder jenen Gründen von der Bibel abwenden, die behaupten, daß die Bibel nicht mehr dasjenige für die Menschheit sein könne, was sie durch Jahrtausende war, so wird das vermutlich nur eine vorübergehende Zeiterscheinung sein; wir glauben an die Bibel…
Man könnte dieses Urteil, wenn man suchen wollte, unter gewissen Persönlichkeiten sehr verbreitet finden, und es ist nur natürlich, denn wer noch immer das Glück seiner Seele, die Sicherheit und die Kraft der Seele für sich aus der Bibel zu schöpfen vermag, der kann nach seiner subjektiven Beschaffenheit gar nicht genügend vieles in die Waagschale werfen gegen diejenigen Erscheinungen, die um ihn herum als Kritik und Ablehnung der Bibel vorliegen…
Dennoch wäre ein solches Urteil im Grunde genommen recht leichtsinnig. Es wäre sogar in gewisser Weise egoistisch, denn der Mensch, wenn er ein solches Urteil ausspricht, sagt sich: Mir gibt die Bibel dieses oder jenes; ob sie anderen Menschen dasselbe gibt, darum kümmere ich mich nicht. -Ein solcher Mensch gibt nicht acht darauf, daß die Menschheit im Grunde genommen ein Ganzes ist, und daß dasjenige, was zunächst in einzelnen lebt, von einzelnen gedacht und empfunden wird, hinabflutet in die ganze Menschheit und Allgemeingut wird…
Wer sagt: Ich will nicht hören, was die Kritik und die Gelehrten von der Bibel heute sagen, ich kümmere mich darum nicht —, der urteilt nur für sich und denkt nicht daran, ob auch seine Nachkommen, ob diejenigen Menschen, die auf ihn folgen werden, das Glück haben können, eine solche Befriedigung aus diesem Dokumente zu gewinnen, wenn die Kritik und die Wissenschaft sich anschicken, dieses Dokument der Menschheit zu nehmen. Die Gewalt der Autoritäten, die an dem Leben dieses Dokumentes beteiligt sind, ist eine große und starke…
Es heißt eigentlich doch, sich blind und taub stellen gegenüber dem, was um einen herum vorgeht, wenn man nur von dem eben charakterisierten Gesichtspunkte des naiven Glaubens, des unbeirrten Glaubens ausgehen will. Heute muß man schon hören, was bei unseren Mitmenschen das Ansehen und die Bedeutung dieses Menschheitsdokumentes erschüttern kann. Die Erschütterung, die Umwälzungen, die im Verlaufe der letzten Jahrhunderte mit Bezug auf dieses Dokument vor sich gegangen sind, sind ganz gewaltig.
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BIBEL UND WEISHEIT I
Berlin, 12. November 1908
Es gibt in unserer Kultur ja zweifellos kein Dokument, das in so tiefer Weise und in so intensiver Art in das ganze Geistesleben eingegriffen hat wie die Bibel. Eine Geschichte, nicht von Jahrhunderten, sondern von Jahrtausenden müßte man schreiben, wenn man die Wirkung der Bibel auf die Menschheit schildern wollte. Und wenn man ganz absehen wollte von dem Einfluß dieses Dokumentes in die Breite, so würde man noch immer in bezug auf den Einfluß und die Wirkung in die Tiefen der Menschenseele in der Bibel ein Unermeßliches finden. Ja, in bezug auf den letzteren Gesichtspunkt wird vielleicht gesagt werden dürfen, daß gerade unsere heutige Zeit des Interessanten außerordentlich vieles darbietet, denn man könnte zeigen, daß heute nicht nur diejenigen, welche in schwächerem oder stärkerem Maße auf dem Boden der Bibel stehen, von diesem Menschheits-Dokumente tief beeinflußt sind, sondern daß auch sogar die, welche sich von der Bibel abgewendet haben, welche heute glauben, frei zu sein von den Einflüssen der Bibel, daß auch sogar diese, tief bedeutsam, noch immer diesen Einflüssen unterliegen.

Denn die Bibel ist wahrlich nicht nur ein Dokument, obwohl sie das in hervorragendstem Maße ist, da sie die Seele erfüllt mit einer Summe von Vorstellungen über die Welt und das Leben, das der Seele also eine Weltanschauung gibt, sondern die Bibel war, durch Jahrtausende hindurch, ein gewaltiges Erziehungsmittel der Seelen. Sie hat nicht nur für das Vorstellungsleben etwas bedeutet, und bedeutet dafür heute noch etwas, sondern es ist vielleicht wichtiger und wesentlicher, was wir als eine Wirkung bezeichnen müssen in bezug auf das Emp-findungs- und Gefühlsleben, in bezug auf die Art der Denkgewohnheiten. Da müssen wir, wenn wir fein zuschauen, ganz gewiß heute vielfach zugeben, daß die Gefühle, die Empfindungen sogar derjenigen, welche die Bibel bekämpfen, durch die Bibel in ihren Seelen erst herangezogen worden sind.
Aber wer nur ein wenig Umschau hält über das Geistesleben der Menschheit, insbesondere über das unserer abendländischen Menschheit und derjenigen, die mit ihr zusammenhängt, der wird bemerken, welch gewaltiger Umschwung eingetreten ist in bezug auf die Stellung der Menschheit, oder wenigstens eines großen Teiles der Menschheit, zur Bibel.

Diejenigen, die heute vielleicht noch in einer ganz unerschütterlichen Weise auf dem Boden der Bibel stehen, könnten das, worauf damit hingedeutet ist, vielleicht zu gering einschätzen. Sie könnten sagen: Mag es auch mancherlei Leute geben, die heute sich aus diesen oder jenen Gründen von der Bibel abwenden, die behaupten, daß die Bibel nicht mehr dasjenige für die Menschheit sein könne, was sie durch Jahrtausende war, so wird das vermutlich nur eine vorübergehende Zeiterscheinung sein; wir glauben an die Bibel; mögen die Herren, die glauben, auf dem Boden der Wissenschaft zu stehen, dieses oder jenes sagen, möge ihnen dieses oder jenes unwahrscheinlich klingen – uns gilt die Bibel! –
Man könnte dieses Urteil, wenn man suchen wollte, unter gewissen Persönlichkeiten sehr verbreitet finden, und es ist nur natürlich, denn wer noch immer das Glück seiner Seele, die Sicherheit und die Kraft der Seele für sich aus der Bibel zu schöpfen vermag, der kann nach seiner subjektiven Beschaffenheit gar nicht genügend vieles in die Waagschale werfen gegen diejenigen Erscheinungen, die um ihn herum als Kritik und Ablehnung der Bibel vorliegen.

Dennoch wäre ein solches Urteil im Grunde genommen recht leichtsinnig. Es wäre sogar in gewisser Weise egoistisch, denn der Mensch, wenn er ein solches Urteil ausspricht, sagt sich: Mir gibt die Bibel dieses oder jenes; ob sie anderen Menschen dasselbe gibt, darum kümmere ich mich nicht. -Ein solcher Mensch gibt nicht acht darauf, daß die Menschheit im Grunde genommen ein Ganzes ist, und daß dasjenige, was zunächst in einzelnen lebt, von einzelnen gedacht und empfunden wird, hinabflutet in die ganze Menschheit und Allgemeingut wird. Wer sagt: Ich will nicht hören, was die Kritik und die Gelehrten von der Bibel heute sagen, ich kümmere mich darum nicht —, der urteilt nur für sich und denkt nicht daran, ob auch seine Nachkommen, ob diejenigen Menschen, die auf ihn folgen werden, das Glück haben können, eine solche Befriedigung aus diesem Dokumente zu gewinnen, wenn die Kritik und die Wissenschaft sich anschicken, dieses Dokument der Menschheit zu nehmen. Die Gewalt der Autoritäten, die an dem Leben dieses Dokumentes beteiligt sind, ist eine große und starke. Es heißt eigentlich doch, sich blind und taub stellen gegenüber dem, was um einen herum vorgeht, wenn man nur von dem eben charakterisierten Gesichtspunkte des naiven Glaubens, des unbeirrten Glaubens ausgehen will. Heute muß man schon hören, was bei unseren Mitmenschen das Ansehen und die Bedeutung dieses Menschheitsdokumentes erschüttern kann. Die Erschütterung, die Umwälzungen, die im Verlaufe der letzten Jahrhunderte mit Bezug auf dieses Dokument vor sich gegangen sind, sind ganz gewaltig.

Noch vor wenigen Jahrhunderten hat die Bibel als etwas gegolten, das unbedingte Autorität genoß; sie galt als ein Schriftwerk höheren göttlichen Ursprungs. Dieser Glaube, diese Annahme ist seit langem erschüttert und wird immer mehr und mehr durch immer neue Gründe erschüttert werden. Zunächst war es nicht etwa unsere heutige Wissenschaft, nicht etwa die gegenwärtige Naturwissenschaft, welche sich gegen die alte Auffassung der Bibel wendete. Es war schon vor weit mehr als hundert Jahren, da wendete sich — wir dürfen den Ausdruck gebrauchen, denn wir haben ihn öfter hier erklärt – die mehr materialistisch sich gestaltende Denkgewohnheit dazu, die Bibel vom rein äußerlichen Standpunkte aus anzusehen. Sprechen wir zunächst von dem Teil der Bibel, den wir als das Alte Testament bezeichnen. Er galt, wie das Neue Testament, durch Jahrhunderte hindurch als eine Eingebung höherer Mächte. Er galt als herausgeschrieben aus einem Bewußtsein, das sich erheben konnte zu einer Wahrheitssphäre, zu der sich das sinnliche Bewußtsein nicht erheben konnte. Das erste, was den Glauben daran erschütterte, daß die Bibel aus einem höheren Menschheitsbewußtsein heraus geschrieben sei, daß ihr eine andere Autorität zukomme als irgendeiner Autorität eines menschlichen Schriftstellers, das war, daß man sich sagte: Wenn man die Bibel liest, dann stellt sich heraus, daß sie kein einheitliches Dokument ist. Nehmen wir an, was im achtzehnten Jahrhundert der französische Arzt Astruc sagte:
Man sagt, die Menschen hätten unter dem Einflüsse höherer Gewalten die Kapitel der Bibel, die wir als die Schöpfungsgeschichte Mosis bezeichnen, geschrieben; nun lesen wir aber die Schöpfungsgeschichte, da finden wir, daß einzelne Teile nicht zusammenstimmen; wir finden, daß stilistische und sachliche Widersprüche vorhanden sind; wir müssen daher annehmen, daß nicht ein einzelner Schriftsteller, sei es Moses oder irgendein anderer, dieses Dokument verfaßt hat, denn derjenige, der als Einzelpersönlichkeit die Verhältnisse hintereinander schildert, der würde nicht innere Widersprüche in die Sache hineinbringen…

Ich kann alle diese Widersprüche nur ihrem Geiste nach skizzieren: Da müßten alte Urkunden von verschiedenen Seiten her genommen und durch mancherlei Schriftsteller zusammenkombiniert worden sein. Das war sozusagen ein erstes, das sich gegen die Bibel richtete.

Nun wollen wir, abgesehen von dem, wie sich die Dinge abgespielt haben, den Geist dieser Art von Opposition gegen den geistigen Ursprung der Bibel einmal charakterisieren. Man sieht da, wie gleich im Anfange in gewaltigen, überwältigenden Bildern die Schöpfung entrollt wird. In ihr werden das sogenannte Sechs- bis Sieben-Tagewerk erzählt. Es wird da weiter erzählt, wie innerhalb dieser Schöpfung der Mensch entstanden ist, wie er in die Sünde kam, wie er weiter und weiter sich von Generation zu Generation bildete. Da bemerkt man, daß in den ersten Teilen, in den ersten Versen, für die göttlichen Gewalten, für den Gott, eine andere Bezeichnung gewählt ist, als vom vierten Verse des zweiten Kapitels an. Man sieht da, daß tatsächlich diese zwei Bezeichnungen, die Bezeichnung für das Göttliche als die Elohim und die Bezeichnung des Göttlichen als Jahve oder Jehova, abwechseln. Da muß man sich fragen:
Soll ein Schriftsteller das Göttliche mit zwei verschiedenen Namen bezeichnet haben? Woher kann das kommen? Man sagt sich, daß derjenige oder diejenigen, welche zuletzt das Dokument zusammenstellten, alte Traditionen oder auch alte Urkunden gefunden haben, die sie zusammengekoppelt und daraus ein Ganzes gemacht haben. Der eine kann von diesem Volksstamme, der andere von einem anderen Volksstamme gekommen sein, und das habe man zusammengekoppelt. Das ist sozusagen skizzenhaft das eine, das sich geltend macht.
Von diesem ausgehend bemerkt man, immer weiter und weiter gehend, daß ähnliche und auch andere Widersprüche auftauchen. So kam man immer mehr dahin, die ursprünglichen Urkunden in verschiedene Stücke zu sondern und zu zerreißen. Und wenn heute jemand zusammenstellen wollte eine Bibel, wie es ja geschehen ist, aus den verschiedenen Stücken und Fragmenten, aus denen man endlich glaubte, daß sie zusammengesetzt sein müsse, wenn jemand mit blauen Buchstaben druckte alles dasjenige, was man zur einen Urkunde rechnet, mit roten Buchstaben, was zur anderen, mit grünen Buchstaben, was zur dritten und so weiter, dann würde ein merkwürdiges Dokument zusammenkommen. Es ist aber schon zustandegekommen — die sogenannte Regenbogen-Bibel!

Das uralte, ehrwürdige Dokument ist da, man möchte sagen, in einzelne Lappen zerlegt, aus denen es bestehen und aus denen es zusammengefügt sein soll. Die Bibel ist natürlich ein Dokument, von dem man aber glaubt, nachweisen zu können, daß es nicht etwa von Moses herrührt, sondern daß Teile davon sogar aus verhältnismäßig später Zeit stammen von diesem oder jenem Priesterkollegium, während andere Teile der Bibel zusammengestellt seien aus Sagen und Mythen, die man von da und dort zusammengetragen habe aus religiösen Anschauungen dieser oder jener Schule. Was auf diese Weise ein Ganzes geworden ist, das kann nicht gelten als etwas, was durch eine Erhebung des Bewußtseins der Menschenseele, welches hineinschauen kann in die geistigen Welten, in die Geschichte hineingebracht worden wäre.
Nun darf niemand glauben, daß diese beiden Vorträge, die ich heute und am Sonnabend zu halten habe, bestimmt sein sollen, irgendwie den Fleiß und die Emsigkeit der eben nur flüchtig skizzierten Arbeiten herabzusetzen.
Wer die Dinge kennt, die so verwendet worden sind als geistige Hilfsmittel, die Bibel in kleine Stücke zu zerreißen und als kleine Stücke zu erklären, dem zeigen sich der Fleiß und die Emsigkeit und die Forschergeschicklichkeit der ganzen Arbeiten. Sie zeigen sich dem, der es versteht, als das Gewaltigste, was vielleicht in der Wissenschaft geleistet worden ist. Nicht in bezug auf das Formale, nicht in bezug auf das Emsige des Forschens läßt sich etwas Gleiches finden. Wenn man nun das etwas näher betrachtet, was als Folge dieser Forscherarbeit, die von den modernen Theologen geleistet worden ist, also gerade von denjenigen, die vermöge ihres Berufes fest glauben, auf dem Boden des Christentums zu stehen, so müssen wir uns sagen: es muß dazu führen, das Verhältnis zur Bibel ganz anders zu gestalten als es durch Jahrhunderte hindurch war. Wenn diese Forschung ihre Früchte trägt, wird die Bibel nicht mehr sein können — es würde viel dazugehören, dies im einzelnen zu begründen —, es würde die Bibel nicht mehr sein können das Dokument, das den Menschen tröstet und aufrichtet in den traurigsten Angelegenheiten des Lebens.

Dazu kommt noch etwas anderes, nämlich, daß für zahlreiche Menschen, die sich umgesehen haben im Bereiche der naturwissenschaftlichen Forschung, die sich umgesehen haben in der Geologie, in der Entwickelungsgeschichte des Tier- und Pflanzenlebens, umgesehen haben in der Kulturgeschichte, in der Anthropologie und so weiter, daß für diese Menschen kaum noch eine Möglichkeit vorhanden ist, sich bei dem, was sie in der Bibel lesen, etwas zu denken.

Man muß auch in dieser Beziehung gerecht sein und sich nicht einfach auf den Boden des naiven Glaubens stellen und sagen, daß das nichts zu bedeuten hat. Es sind oft diejenigen, die am gewissenhaftesten sind in ihrem Wahrheitsgefühl, in ihrem Erkenntnisdrang, die sich sagen: Wenn ich durch die auf sicherem Boden stehende Forschung sehe, wie sich die Erde entwickelt hat durch geologische Perioden hindurch, wie wir gewisse Hypothesen für die Sache haben, wie die Astronomie zeigt, wie sich die Erde aus einem Nebel von höherer Temperatur heraus zu der heutigen Gestalt entwickelt hat, wie sich das Unlebendige herausentwickelt hat und aus diesem Unlebendigen die lebendige Wesenheit, wie sich nach und nach alles von dem Einfachen bis zum Kompliziertesten, dem Menschen, entwickelt hat, wie die Kulturformen zu den heutigen komplizierten Formen aufgestiegen sind, wenn wir sehen, was die Geologie zeigt, welche gewaltigen Zeiträume nötig waren, um die Erde zu erhalten, als sie noch nicht Amphibien, noch nicht Säugetiere hervorgebracht hatte, wenn wir das alles überblicken und auf uns wirken lassen — so sagen uns zahlreiche Persönlichkeiten —,
was sollen wir da machen, wenn uns die Bibel erzählt, daß in sechs bis sieben Tagen die Welt erschaffen worden sein soll?
Weder mit der Schöpfung in sechs bis sieben Tagen noch mit irgend etwas anderem können wir etwas anfangen. Was können wir anfangen mit der Sintflut, mit der wunderbaren Rettung des Noah, wenn wir lesen, daß Noah so viele Tiere in die Arche gebracht hat, und so weiter? – So kommt es, daß manche mit Würde und ernstem Wahrheitssinn begabte Menschen jene scharfe und schneidige Opposition gegen die Bibel energisch vertreten, die sich von dem heutigen naturwissenschaftlichen Standpunkte aus ergibt, insofern sie sich zu einer Weltanschauung erweitern will. Das alles ist in unserer Weltanschauung vorhanden. Das alles können wir nicht wegleugnen.
Nun entsteht aber die Frage: Sind wirklich alle die Dinge berücksichtigt, die der Bibel gegenüber zu berücksichtigen sind, wenn entweder der erste, der historische, oder der zweite, der naturgeschichtliche Standpunkt geltend gemacht wird? Da muß gesagt werden, daß es heute schon einen dritten Gesichtspunkt gibt gegenüber der Bibel, einen Gesichtspunkt, der sich aus jener realen Forschungsmethode und menschlichen Anschauungsweise heraus entwickelt, die in diesen Vorträgen als die geisteswissenschaftliche oder anthroposophische charakterisiert wird. Mit diesem Gesichtspunkte gegenüber der Bibel haben wir uns heute und übermorgen zu befassen.

Was ist dies für ein Gesichtspunkt? Man sagt heute vielfach, der Mensch dürfe sich nicht auf eine äußere Autorität stützen, er müsse voraussetzungslos an die Welt und an das Leben herangehen und die Wahrheit erforschen, und man glaubt gerade die Bibel zu treffen, wenn man sich auf einen solchen Gesichtspunkt begibt. Trifft man in Wahrheit damit die Bibel?

…Wir können zurückgehen in frühere Zeiten, wo noch die geistigen Urgründe waren. Wir finden da den Menschen mit diesen geistigen Vorgängen verknüpft, und erst später entwickeln sich zu dem Menschen hinzu die niederen Geschöpfe. So wie in der Entwickelung überhaupt gewisse Dinge zurückbleiben und andere sich herausentwickeln, so ist auch hier das Niedere von dem Höheren abgezweigt, abgegangen. Der Geistesforscher weiß, daß geistige Forschungsorgane entwickelt werden können durch Methoden, die der Geistesforscher zu zeigen vermag.
So lehrt die Geistesforschung Weltentstehung und -werden nach Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig sind von jedem Dokumente, nur aus den eigenen Gesetzmäßigkeiten heraus, so wie auch die heutige Erlernung der Mathematik nicht gebunden ist daran, wie sie sich im Laufe der Geschichte entwickelt hat.

Und so, wie sich der Forscher von dieser Weisheit ein Wissen angeeignet hat, so geht er an die Bibel heran, so schaut er jetzt die Bibel an. Und jetzt zeigt sich uns, warum sowohl vom Gesichtspunkte der historisch-kritischen Bibelforschung wie auch vom Gesichtspunkte der naturwissenschaftlichen Forschung Widersprüche in der Bibel sind. Beide Gesichtspunkte kommen aus einem einzigen großen Irrtum, der dadurch entstanden ist, daß man allgemein glaubte, die Wahrheiten der Bibel von physischsinnlichen Wahrnehmungs- und Beobachtungsstandpunkten aus auffassen zu sollen. Man meinte, es sei möglich, mit solchen Maßstäben an die Bibel heranzutreten. Man hatte noch nicht die Forschungsergebnisse der anthroposophi-schen Geisteswissenschaft.

Es soll jetzt an einzelnen Beispielen gezeigt werden, was eben gesagt worden ist. Die Geisteswissenschaft zeigt uns, daß wir bei der Erforschung der irdischen Schöpfung zunächst mit den Methoden der Geologie und so weiter nur bis zu einem gewissen Punkte kommen, und daß dann die Menschheitsentwickelung weiter zurück ins Unbestimmte zu verlaufen scheint. Und warum? Niemals, soviel sie auch hoffen mag, wird die sinnliche Wissenschaft den Menschen bis zum Ursprünge verfolgen können, aus dem Grunde, weil die sinnliche Wissenschaft nur das Sinnliche finden kann. Aber dem Sinnlichen im Menschen ist das Seelische und Geistige vorangegangen. Der Mensch war zuerst Seele und noch früher Geist, und er ist dann heruntergestiegen in das Erdendasein.

Nur insofern beim Heruntersteigen des Menschen in das Erdendasein das physische Leben beteiligt ist, kann uns die Naturwissenschaft diesen Entwik-kelungsgang zeigen. Das seelische Leben können wir nicht mit den gewöhnlichen Kräften der sinnlichen Beobachtung erforschen. Auch die Geologie kann uns keinen Leitfaden bieten. Sie bietet uns die Erforschung desjenigen, was zurückgeblieben ist an sinnlich wahrnehmbaren Materien. Sie kann also nur angeben, was man sehen würde, wenn man einen Stuhl in das Weltall hätte hinaus setzen können und von dort alles gesehen hätte, was sich auf der Erde entwickelt hat. Darauf geht die Geisteswissenschaft nicht ein. Aber um den Menschen in urferner Vergangenheit als Geistwesen zu sehen, dazu muß man die geistigen Augen und die geistigen Ohren entwickelt haben. Hat man diese nicht, dann verschwindet das Seelische und Geistige des Menschen dem Blick. Hat man aber die geistigen Augen, dann verschwindet das Sinnliche, und es ersteht das geistige Bild. Das kann man aber nicht in derselben Weise sehen wie das Sinnliche. Man muß sich ganz andere Begriffe über das Erkennen aneignen, wenn man in solche Urzeiten zurückgehen will. Was man da vom Menschen sich entwickeln sieht, als er erst Seele war, das zeigt sich nicht in sinnlichen gegenständlichen Wahrnehmungen wie die äußere Sinneswelt sie bietet. Das zeigt sich uns in Bildern. Unser Bewußtsein wird durch die Entwickelung der inneren Kräfte der Seele das, was wir ein Bilderbewußtsein, ein imaginatives Bewußtsein nennen. Es ist dann das Bewußtsein ausgefüllt mit Bildern. Wir sehen in einem anderen Bewußtseinszustande das, was sich damals abgespielt hat, jetzt in Bildern. Bildhaft ist das, was so im Innern des Sehers vorgeht…

aus:
Rudolf Steiner GA 57

INHALT
Zu dieser Ausgabe 8
I. Wo und wie findet man den Geist?
Berlin, 15. Oktober 1908 9
IL Goethes geheime Offenbarung – exoterisch
Berlin, 22. Oktober 1908 23
III. Goethes geheime Offenbarung – esoterisch
Berlin, 24. Oktober 1908 51
IV. Bibel und Weisheit I
Berlin, 12. November 1908 85
V. Bibel und Weisheit II
Berlin, 14. November 1908 112
VI. Der Aberglaube vom Standpunkte der Geistes
wissenschaft
Berlin, 10. Dezember 1908 141
VII. Ernährungsfragen im Lichte der Geisteswissenschaft
Berlin, 17. Dezember 1908 168
VIII. Gesundheitsfragen im Lichte der Geistes
wissenschaft
Berlin, 14. Januar 1909 186
IX. Tolstoj und Carnegie
Berlin, 28. Januar 1909 215
X. Die praktische Ausbildung des Denkens
Berlin, 11. Februar 1909 245
XL Die unsichtbaren Glieder der Menschennatur und
das praktische Leben
Berlin, 18. Februar 1909 266
XII. Das Geheimnis der menschlichen Temperamente
Berlin, 4. März 1909 281
XIII. Die Rätsel in Goethes «Faust» – exoterisch
Berlin, 11. März 1909 297
XIV. Die Rätsel in Goethes «Faust» – esoterisch
Berlin, 12. März 1909 330
XV. Nietzsche im Lichte der Geisteswissenschaft
Berlin, 20. März 1909 365
XVI. Isis und Madonna
Berlin, 29. April 1909 381
XVII. Alteuropäisches Hellsehen
Berlin, 1. Mai 1909 401
XVIII. Die europäischen Mysterien und ihre Eingeweihten
Berlin, 6. Mai 1909 422

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