BUDDHA UND DIE ZWEI JESUSKNABEN – DIE VIER EVANGELIEN – MISSION DES ALTHEBRÄISCHEN VOLKES / R.Steiner

Hinweis: Es ist empfehlenswert, sich erst mit einigen Grundlagenthemen der anthroposophischen Thematik zu befassen:
Phänomenologisches Herantasten an das anthroposophische Welt- und Menschenbild: hier weiter
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RUDOLF STEINER – GA 117
Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien

Zwölf Vorträge, gehalten in Berlin, Stuttgart, Zürich und München
vom 11. Oktober bis 26. Dezember 1909

1.) BUDDHA UND DIE ZWEI JESUSKNABEN
Berlin, 11. Oktober 1909 (Notizen)

2.) DIE VIER VERSCHIEDENEN ASPEKTE IN DER CHRISTUS-DARSTELLUNG DER VIER EVANGELIEN
Berlin, 2. November 1909 Erster Vortrag

3.) DIE MISSION DES ALTHEBRÄISCHEN VOLKES
Berlin, 9. November 1909 Zweiter Vertrag

Inhalt/Kurzübersicht:
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Dabei hat man es mit sehr komplizierten Verhältnissen zu tun. In den Leib des Jesus von Nazareth zog bekanntlich ein hohes Sonnenwesen ein und lebte drei Jahre lang darin, von der Jordantaufe bis zum Mysterium von Golgatha. Über dieses hohe Christus-Wesen ist schon öfters geredet worden. Aber über das, was als die Persönlichkeit des Jesus von Nazareth vor unserer Seele lebt und jene Wesenheit aufgenommen hat, kann nur in Anknüpfung an ein Evangelium, welches die Geschichte des Jesus von seiner Kindheit an umfaßt, Genaueres gesagt werden…
Jene Persönlichkeit, die in dem dreißigsten Jahre die Christus-Wesenheit in sich aufnahm, ist in sehr komplizierter Weise zusammengesetzt. Nur aus der Akasha-Chronik heraus sind die richtigen Anhaltspunkte zu gewinnen, warum in den verschiedenen Evangelien die Vorgeschichte Jesu verschieden dargestellt ist.
Heute soll in kurzen Umrissen einiges über den Jesus von Nazareth erzählt werden…
Die Chronik des Hellsehers, die Akasha-Chronik, enthüllt uns in lebendigen Schriftzeichen das, was im Laufe der Zeit geschehen ist. Der Gang der spirituellen Mitteilungen ist in der Regel so, daß zunächst Tatsachen der Akasha-Chronik bekanntgegeben werden, ohne Anknüpfung an eine bestimmte Urkunde. Erst nachher wird dann gezeigt, daß sich alle diese Dinge in gewissen Urkunden wiederfinden lassen, besonders in den Evangelien, die nur mit Zuhilfenahme der Tatsachen der Akasha-Chronik richtig zu verstehen sind…
…könnte man von drei geistigen Strömungen reden, die sich im Christus-Ereignis getroffen haben. Die eine ist an Buddha geknüpft, die andere an Zarathustra, und die dritte war verkörpert in der althebräischen Kultur. Diese drei Strömungen flössen in einem konkreten Ereignis zusammen, eben in jenem Christus-Ereignis.
Die buddhistische Strömung erreichte ihren Höhepunkt im Gautama Buddha. Er hatte vorher Verkörperungen durchgemacht. Jene Verkörperung im 6. Jahrhundert vor Christus war jedoch in seinem Dasein ein bedeutungsvoller Höhepunkt…
Heute zum Beispiel kann der Mensch aus sich heraus gewisse logische und Sittengesetze erkennen, kann seine Urteilskraft anwenden, aus sich heraus dies oder jenes erkennen. So war es aber in den Urzeiten nicht. Damals hätte zum Beispiel der Mensch nichts über das Sittliche in sich gefunden. Er würde solche Gesetze, wenn sie ihm in den heutigen Worten beigebracht worden wären, auch gar nicht verstanden haben…
Durch ihre Einweihung ragten aber die Bodhisattvas in die geistigen Regionen empor, wo sie derartige Lehren wie diejenige von Mitleid und Liebe herunterholen konnten…
Bis nach etwa dreitausend Jahren, von jetzt ab gerechnet, sind genug Menschen reif geworden, den achtgliedrigen Pfad zu wandeln, und dann wird Mitleid und Liebe der Menschheit zu eigen geworden sein…
Was ist nun aus jenem Buddha, dessen Mission gewesen ist, Mitleid und Liebe an die Menschheit zu bringen, geworden, nachdem er den physischen Körper verlassen hatte?…
Jener Buddha kann also heute nur noch vom Hellseher geschaut werden. Eine solche Form, die eine Individualität annimmt, ohne den physischen Leib mitzuenthalten, nennt man Nirmanakaya. Darin leitet die Wesenheit die Mission weiter, die ihr als Bodhisattva übertragen worden war…
Aus der Akasha-Chronik heraus freilich kann man den richtigen Aufschluß erhalten, warum die beiden Stammbäume verschieden sind und sein müssen.
Ungefähr in derselben Zeit, als Jesus geboren wurde, ward in Palästina einem andern Elternpaar, das auch Joseph und Maria hieß, auch ein Kind geschenkt, mit demselben Namen Jesus. Es gab also damals zwei Jesuskinder…
In dem bethlehemitischen Kinde nun war inkarniert der große Zarathustra der Vorzeit…
Jene Übertragung des Zarathustra-Ich auf den nazarenischen Jesus beschreibt uns Lukas in der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Es war nämlich seinen Eltern unerklärlich, warum ihr Kind plötzlich so weise redete…
Es beginnt das Johannes-Evangelium mit der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth in der Zeit, als er dreißig Jahre alt war. Es tritt uns da in ihm die hohe Sonnenwesenheit entgegen, die Christus-Wesenheit.
Wir haben es hier zu tun mit den drei letzten Lebensjahren des Christus Jesus…
Was zusammenhängt als ein Ganzes bei dem gewöhnlichen Menschen, die Kräfte, die wir Denken, Fühlen und Wollen nennen, das steht dann sozusagen jedes für sich da. Der Mensch wird über diese einst Herrscher werden; er ist nachher eine Dreiheit, man könnte sogar sagen eine Vielheit, wie es in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» ausgeführt ist…
So sehen wir, wie hier der Buddhismus einströmt in das Christentum…
Bevor es im Menschen ein Gewissen gegeben hat, bevor es ein logisches Denken gegeben hat, wenn man da an sein Gewissen, an sein Denken appelliert hätte, so wäre es gewesen, als ob man zu einem Stein oder zu einer Pflanze spräche…
Wodurch unterscheidet sich das, was der Welt gebracht worden ist durch den Buddha, von dem, was gebracht worden ist durch die Individualität des Moses ?
Man faßt gewöhnlich als Entwickelung auf, daß das Folgende immer aus dem Früheren hervorgeht. So geht aber die Entwickelung nicht vor sich. Entwickelung kommt durch ganz andere Voraussetzungen zustande…
Es hängt der Mensch mit seinen Vorfahren so zusammen. Das wußte man in alten Zeiten. Das weiß man auch heute innerhalb der Geisteswissenschaft. Weil der Mensch in dieser Weise mit seinen Vorfahren zusammenhängt, deshalb ließen die alten Ägypter in ihrem Totenbuch den Menschen nach dem Tode vor zweiundvierzig Totenrichtern erscheinen…
Die Liebe vollführt die größten Taten, wenn sie von Weisheit durchflössen ist…
Dies sind die drei höchsten der geistigen Hierarchien: Cherubim, Seraphim und Throne…

Empfmdungs-, Verstandes- oder Gemüts- und Bewußtseinsseele. Wenn wir das Wort Bewußtseinsseele auf den Christus anwenden, so können wir sagen: sie wird uns ahnend zum Verständnis gebracht im Johannes-Evangelium; Gemütsseele des Christus: sie wird uns zum Verständnis gebracht durch das Lukas-Evangelium; Empfindungsseele mit all ihren Kräften des Wollens: durch das Markus-Evangelium…
Sind im Markus-Evangelium die Geheimnisse enthalten von allen Reichen und Wesenheiten der Erde und des Kosmos, der zur Erde gehört, so sind im Matthäus-Evangelium die Geheimnisse der menschlichen Geschichte zu suchen. Lernt man die Ideen der Sophia durch das Johannes-Evangelium, lernt man die Mysterien des Opfers und der Liebe durch das Lukas-Evangelium, lernt man die Kräfte der Erde und der Welt durch das Markus-Evangelium, so lernt man Menschenleben, menschliche Geschichte, Menschenschicksal kennen durch die Betrachtung im Hinblick auf das Matthäus-Evangelium…
In der theosophischen Bewegung hat man lange nicht verstanden, daß des Menschen Leiblichkeit der Tempel der Seele ist. Man muß berücksichtigen, was von uns schon so oft betont worden ist: daß das menschliche Ich in drei Hüllen wohnt, von denen eine jede älter ist als das Ich selber. Dieses Ich ist ein Erdenwesen, das jüngste unter den menschlichen Gliedern….
Wir wissen ja, wie das, was die menschliche Leiblichkeit auf der Erde ist, zusammenhängt nach Zahl, Maß und Gewicht mit all den Gesetzen, welche die Sternenwelten beherrschen. Der Mensch ist aus den Sternenwelten herausgeboren; er trägt in sich die Gesetze der Sternenwelten…
Das Ich stand vor dem Entscheidungspunkt. Es mußte völlig entfesselt, seiner selbst vollständig bewußt werden. So stand mit Ausnahme der orientalischen Völker die ganze Menschheit der alten Welt vor einer neuen Geburt des Ich, vor einer solchen Geburt des Ich, durch welche dieses Ich zu der aus dem Ich selber herausgeborenen Liebe kommen sollte…
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1.) BUDDHA UND DIE ZWEI JESUSKNABEN
Berlin, 11. Oktober 1909 (und Notizen)

Im letzten Basler Kursus war es zum ersten Male möglich, über ein Thema zu sprechen, das bis dahin innerhalb der Deutschen Sektion noch nicht berührt worden ist. Über das Christus-Ereignis selber ist freilich schon öfters gesprochen worden, besonders in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium.
Durch Anknüpfung an das Lukas-Evangelium, wie das in Basel geschehen ist, war es möglich, besonders auch das zu berühren, was die Vorgeschichte des Christus genannt werden kann. Dabei hat man es mit sehr komplizierten Verhältnissen zu tun. In den Leib des Jesus von Nazareth zog bekanntlich ein hohes Sonnenwesen ein und lebte drei Jahre lang darin, von der Jordantaufe bis zum Mysterium von Golgatha. Über dieses hohe Christus-Wesen ist schon öfters geredet worden. Aber über das, was als die Persönlichkeit des Jesus von Nazareth vor unserer Seele lebt und jene Wesenheit aufgenommen hat, kann nur in Anknüpfung an ein Evangelium, welches die Geschichte des Jesus von seiner Kindheit an umfaßt, Genaueres gesagt werden. Die Entwickelung des Jesus von seiner Geburt bis zur Jordantaufe bildete das Hauptthema der Basler Vorträge. Schon in dieser Vorgeschichte haben wir sehr komplizierte Verhältnisse vor uns. Das Größte, muß man stets bedenken, ist eben nicht leicht zu fassen und so einfach darzustellen. Das Weltgebäude ist mit ein paar wenigen Strichen nicht zu zeichnen oder mit ein paar bequemen Begriffen zu begreifen.

Jene Persönlichkeit, die in dem dreißigsten Jahre die Christus-Wesenheit in sich aufnahm, ist in sehr komplizierter Weise zusammengesetzt. Nur aus der Akasha-Chronik heraus sind die richtigen Anhaltspunkte zu gewinnen, warum in den verschiedenen Evangelien die Vorgeschichte Jesu verschieden dargestellt ist.

Heute soll in kurzen Umrissen einiges über den Jesus von Nazareth erzählt werden, um doch eine Übersicht über das in den Basler Vorträgen näher Ausgeführte zu haben. Es wird auch beabsichtigt, in den Mitgliedervorträgen diesen Winter zu sprechen über das Matthäus- oder eventuell über das Markus-Evangelium. Das Christus-Ereignis tritt dann in einer solchen neuen Darstellung wieder in ganz anderem Lichte an uns heran. Man kennt dieses Ereignis in der bloßen Anknüpfung an das Johannes-Evangelium durchaus noch nicht genügend. Doch kann zunächst nur skizzenhaft über diese Dinge gesprochen werden.

Die Chronik des Hellsehers, die Akasha-Chronik, enthüllt uns in lebendigen Schriftzeichen das, was im Laufe der Zeit geschehen ist. Der Gang der spirituellen Mitteilungen ist in der Regel so, daß zunächst Tatsachen der Akasha-Chronik bekanntgegeben werden, ohne Anknüpfung an eine bestimmte Urkunde. Erst nachher wird dann gezeigt, daß sich alle diese Dinge in gewissen Urkunden wiederfinden lassen, besonders in den Evangelien, die nur mit Zuhilfenahme der Tatsachen der Akasha-Chronik richtig zu verstehen sind.

In Palästina sind seinerzeit die geistigen Strömungen zusammengeflossen, die vorher in der Welt getrennt gegangen waren. Anknüpfend an das Lukas-Evangelium könnte man von drei geistigen Strömungen reden, die sich im Christus-Ereignis getroffen haben. Die eine ist an Buddha geknüpft, die andere an Zarathustra, und die dritte war verkörpert in der althebräischen Kultur. Diese drei Strömungen flössen in einem konkreten Ereignis zusammen, eben in jenem Christus-Ereignis. Man redet von solchen geistigen Strömungen meistens viel zu abstrakt. Tatsächlich aber verwirklichen sie sich in speziellen Wesen, die so gestaltet sein müssen, daß in ihnen die Strömungen zusammenfließen konnten. Es ist also nötig, solche Wesenheiten in ihrer inneren Zusammensetzung genau zu erforschen.

Die buddhistische Strömung erreichte ihren Höhepunkt im Gautama Buddha. Er hatte vorher Verkörperungen durchgemacht. Jene Verkörperung im 6. Jahrhundert vor Christus war jedoch in seinem Dasein ein bedeutungsvoller Höhepunkt. Da wurde Gautama erst das, was man einen Buddha nennt. Vorher war er bloß Bodhisattva, das heißt, ein großer Lehrer der Menschheit. Diese letztere nimmt im Laufe der Zeit allmählich andere Fähigkeiten an. Wir selber lebten wohl einst im alten Ägypten, aber mit ganz andern Fähigkeiten ausgestattet, als wir sie heute haben; alte Fähigkeiten sind zum Teil zurückgegangen, neue hinzugetreten.

Wer eine solche Entwicklung nicht berücksichtigt, tut eben keinen unbefangenen Bück hinaus in die Welt. Heute zum Beispiel kann der Mensch aus sich heraus gewisse logische und Sittengesetze erkennen, kann seine Urteilskraft anwenden, aus sich heraus dies oder jenes erkennen. So war es aber in den Urzeiten nicht. Damals hätte zum Beispiel der Mensch nichts über das Sittliche in sich gefunden. Er würde solche Gesetze, wenn sie ihm in den heutigen Worten beigebracht worden wären, auch gar nicht verstanden haben. Es mußte an eine ganz andere Fähigkeit appelliert werden. So gibt es heute gewisse Wahrheitsbestände für den Menschen, die noch vor dreitausend Jahren nicht auffindbar gewesen wären, so zum Beispiel die Lehre vom Mitleid und von der Liebe. Heute belehrt uns eine innere Stimme über die Gesetze von Mitleid und Liebe. Damals hätte der Mensch vergeblich nach einer solchen Stimme gesucht. Da mußte, um ein häßliches Wort zu gebrauchen, dem Menschen Mitleid und Liebe einsuggeriert werden.

Die Wesenheit, deren Aufgabe es während Jahrtausenden war, Mitleid und Liebe in die Menschen aus höheren, geistigen Regionen einfließen zu lassen, war jener Bodhisattva, der sich dann in Indien als Buddha inkarnierte. Als ein Mensch in der physischen Welt hätte er von Mitleid und Liebe nichts in sich gefunden. Durch ihre Einweihung ragten aber die Bodhisattvas in die geistigen Regionen empor, wo sie derartige Lehren wie diejenige von Mitleid und Liebe herunterholen konnten. Es kommt aber einmal der Moment, da die Menschheit reif geworden ist, das nunmehr selber zu finden, was ihr vorher eingeflößt worden war. So war es auch für Mitleid und Liebe.

Als jener Bodhisattva zum Buddha aufstieg, also in der betreffenden Inkarnation im 6. Jahrhundert vor Christus – Sitzen des Bodhisattva unter dem Bodhibaum -, ging in seinem eigenen Wesen nicht nur Wichtiges vor, sondern auf der ganzen Erde überhaupt. Damals ging in dem Mensch gewordenen Buddha jene Lehre von Mitleid und Liebe auf, beziehungsweise eine Umschreibung derselben, nämlich die vom achtteiligen Pfad, der genaueren Ausführung jener Lehre von Mitleid und Liebe. Dadurch, daß der Buddha diese Lehre lebendig in sich erkennen konnte, ward der Menschheit die Möglichkeit geschaffen, künftig dasselbe zu erleben. Seit damals können nun gewisse Menschen solches erkennen und nach dem Vorbild des großen Buddha ein entsprechendes Leben führen, das gleichsam die Lehre vom acht-gliedrigen Pfad lebendig aus sich herauskristallisiert.

Erst dann aber, wenn eine größere Anzahl von Menschen so weit herangereift ist, das zu erfahren, was Buddha damals erfuhr, ist diese Sache zur eigenen und eigentlichen Angelegenheit der Menschheit geworden. So wird aus höheren Sphären herab unserer Welt Mission nach Mission übertragen. Bis nach etwa dreitausend Jahren, von jetzt ab gerechnet, sind genug Menschen reif geworden, den achtgliedrigen Pfad zu wandeln, und dann wird Mitleid und Liebe der Menschheit zu eigen geworden sein. Dann wird ein neues Ereignis kommen und eine neue Mission heranbringen, aus der geistigen in die physische Welt herunter.

Einst ließ also der Buddha jene Lehre von Mitleid und Liebe in die Menschheit einströmen. Nun aber wirkt sie lebendig in ihr weiter, seitdem Buddha den Anstoß dazu gegeben. Wenn ein Bodhisattva nach etwa dreitausendjähriger Tätigkeit sein Amt verwaltet hat, wird er ein Buddha, der dann eben eine gewisse Mission an der Menschheit erfüllt.
Was ist nun aus jenem Buddha, dessen Mission gewesen ist, Mitleid und Liebe an die Menschheit zu bringen, geworden, nachdem er den physischen Körper verlassen hatte? Buddha bedeutet immer eine letzte Inkarnation. Er bedurfte nur noch der Gautama-Inkarnation, um eine Mission zu erfüllen. Seit jener Zeit ist es nun jener Bodhi-sattva-Individualität, weil sie Buddha geworden, nicht mehr möglich, in einen physischen Leib herabzusteigen. Sie kann sich bloß noch bis herab zum Ätherleib inkarnieren. Jener Buddha kann also heute nur noch vom Hellseher geschaut werden. Eine solche Form, die eine Individualität annimmt, ohne den physischen Leib mitzuenthalten, nennt man Nirmanakaya. Darin leitet die Wesenheit die Mission weiter, die ihr als Bodhisattva übertragen worden war. So wurde auch das große Christus-Ereignis durch jenen im Nirmanakaya waltenden Buddha vorbereitet.

Ein Elternpaar, nämlich Joseph und Maria von Nazareth, erhielt ein Kind, Jesus mit Namen. Dieses war eigentümlicherweise so veranlagt, daß der Nirmanakaya-Buddha sich sagen konnte, dieses Kind hätte in seiner physischen Leiblichkeit die Möglichkeit, die Menschheit mittels derselben einen großen Schritt vorwärtszubringen, wenn er als Buddha seinen Beitrag liefern würde. Er senkte sich daher in seinem Nirmanakaya in jenes Kind herab. Unter dem Nirmanakaya hat man sich nicht einen geschlossenen Leib vorzustellen, wie wir ihn haben, sondern das, was sonst bloße Kräfte waren, sind hier besondere Wesenheiten geworden. Dieses System von Wesenheiten wird in den höheren Welten durch das Ich der betreffenden zugrundeliegenden Individualität zusammengehalten, ähnlich wie in uns die Fähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens. Der Hellseher nimmt diese Schar zusammengehöriger Wesenheiten des Nirmanakaya-Buddha wahr.

Analogien hierzu gibt es auch im Naturleben: zum Beispiel ist bei der Gallwespe der Vorderkörper mit dem Hinterkörper nur durch einen dünnen Stiel verbunden. Denkt man sich diesen unsichtbar, so hat man zwei unverbundene, aber doch zusammengehörige Teile. Ähnliche Zusammengehörigkeitsverhältnisse walten im Bienenstock und Ameisenhaufen.
Derartige Verhältnisse waren dem Schreiber des Lukas-Evangeliums durchaus bekannt. Er wußte auch, daß der Nirmanakaya-Buddha sich in das Jesuskind herabsenkte. Er drückt es so aus, daß er sagt: Als das Kind zu Bethlehem geboren wurde, stieg aus den geistigen Welten eine Engelschar herab und verkündigte den Hirten, was geschehen sei. Dieselben sind aus gewissen Gründen hellsichtig geworden in jenem Augenblicke.

Jenes Jesuskind entwickelte sich zunächst nur langsam heran. Es zeigte äußerlich keine besonders hervorragenden Eigenschaften, die auf einen Riesengeist gedeutet hätten. Aber dafür machte sich bald eine tiefe Innerlichkeit und Seelenhaftigkeit bemerkbar, ein reges Gemütsleben. Der Hellseher hätte den Nirmanakaya-Buddha über diesem Kinde schweben sehen. In der indischen Legende wird uns erzählt, daß ein alter Weiser zum Buddhakind gekommen sei und an ihm erkannt hätte, daß hier ein Bodhisattva zum Buddha heranreife. Der Alte brach darob in Tränen aus, weil er nämlich den großen Buddha selber nicht mehr erleben durfte. Asita, so hieß der Weise, wurde wiedergeboren und war wieder ein alter Mann, als Jesus jung war, nämlich der Simeon des Lukas-Evangeliums. Er sah bei der Darstellung des Jesus im Tempel nun den Bodhisattva als wirklichen Buddha vor sich und konnte daher sagen: Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen. – So sah der Weise nach fünfhundert Jahren, was er vorher nicht hatte sehen können.

Wenn man die Herkunft des Jesus im Lukas-Evangelium studiert und sie vergleicht mit der im Matthäus-Evangelium dargestellten, so zeigt sich eine gewisse Verschiedenheit, die man in der Wissenschaft durchaus nicht beachtet hat. Aus der Akasha-Chronik heraus freilich kann man den richtigen Aufschluß erhalten, warum die beiden Stammbäume verschieden sind und sein müssen.

Ungefähr in derselben Zeit, als Jesus geboren wurde, ward in Palästina einem andern Elternpaar, das auch Joseph und Maria hieß, auch ein Kind geschenkt, mit demselben Namen Jesus. Es gab also damals zwei Jesuskinder von zwei Elternpaaren desselben Namens. Der eine Jesus ist der bethlehemitische. Er lebte mit seinen Eltern zu Bethlehem; der andere hatte seine Eltern wohnhaft in Nazareth. Der erstere Jesus stammt aus der Linie des davidischen Hauses, welche durch Salomo durchging. Der nazarenische Jesus hingegen stammt aus der nathanischen Linie des davidischen Hauses. Lukas erzählt mehr von dem einen, Matthäus vom andern Kinde. Das bethlehemitische Kind zeigte in seiner frühen Jugend ganz andere Fähigkeiten als das nazarenische. Ersteres zeigte sich in all den Eigenschaften, die äußerlich hervortreten können, gut entwickelt. So konnte dieses Kind zum Beispiel auch gleich von der Geburt an reden, wenn auch zunächst für die Umgebung noch mehr oder weniger unverständlich. Das andere Jesuskind zeigte eine mehr nach innen gehende Veranlagung.

In dem bethlehemitischen Kinde nun war inkarniert der große Zarathustra der Vorzeit. Jener Zarathustra hatte bekanntlich seinen astralischen Leib an Hermes abgegeben und seinen Ätherleib an Moses. Sein Ich wurde sechshundert Jahre vor Christus in Chaldäa als Nazarathos oder Zarathos wiedergeboren und schließlich nochmals als der Jesus. Dieses Jesuskind mußte nach Ägypten geführt werden, um da für einige Zeit in der ihm gemäßen Umgebung zu leben und die Eindrücke derselben in sich wieder zu beleben. Man darf also durchaus nicht glauben, daß es derselbe Jesus ist, von dem Lukas spricht, wie derjenige, von dem Matthäus erzählt. Durch die Verordnung des Herodes wurden alle Kinder bis zu zwei Jahren getötet. Da wäre Johannes der Täufer auch mitbetrofFen worden, wenn nicht inzwischen genug Zeit zwischen seiner Geburt und der des Jesus verstrichen wäre.

Im zwölften Lebensjahre geht die Ichheit des bethlehemitischen Jesuskindes, also das Zarathustra-Ich, über in den andern Jesusknaben. Vom zwölften Jahre an also lebte im nazarenischen Jesus nicht mehr das frühere Ich, sondern nun das Zarathustra-Ich. Das bethlehemitische Kind starb bald, nachdem jenes Ich es verlassen hatte. Jene Übertragung des Zarathustra-Ich auf den nazarenischen Jesus beschreibt uns Lukas in der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Es war nämlich seinen Eltern unerklärlich, warum ihr Kind plötzlich so weise redete. Diese Eltern besaßen außer diesem kein weiteres Kind. Das andere Elternpaar hingegen hatte noch weitere Kinder, vier Knaben und zwei Mädchen. Beide Familien wurden später allerdings Nachbarsfamilien in Nazareth, ja, verschmolzen schließlich in eine einzige Familie. Der Vater des bethlehemitischen Jesus war bereits ein alter Mann, als der Jesus geboren wurde. Er starb auch bald darauf, und die Mutter zog mit ihren Kindern nach Nazareth zu der andern Familie.
So wirkte also der Buddha in seinem Nirmanakaya mit dem Ich des Zarathustra in dem Jesus von Nazareth. Buddha und Zarathustra wirkten in diesem Kinde zusammen.

Im Matthäus-Evangelium ist zunächst mehr die Rede vom bethlehemitischen Jesus. Da erschienen bei der Geburt die weisen Magier des Morgenlandes, die von dem Stern dahin geführt wurden, wo der Zarathustra wiedergeboren ward.

DIE EVANGELIEN, BUDDHA UND DIE ZWEI JESUSKNABEN
Berlin, 18. Oktober 1909 (Notizen)

Das letzte Mal erzählte ich hier den Inhalt des Basler Vortragszyklus, wo es sich um das Lukas-Evangelium gehandelt hat. Wir haben dabei auf die Frage hingewiesen, die jemand stellen könnte: Ja, wenn nun schon so vieles gesagt ist in bezug auf das Johannes-Evangelium und im Anschluß daran über das Bild des Christus Jesus, kann es da möglich sein, daß auch im Hinblick auf die andern Evangelien etwas zu sagen ist, daß man in gewissem Sinne ein ebensolches Verständnis bekäme, wie wenn man das tiefste, das Johannes-Evangelium, hat auf sich wirken lassen?

Wenn das so wäre, dann wäre eine Erklärung der drei andern Evangelien nicht etwa im Sinne der Geistesforschung. Denn was wir suchen innerhalb der geisteswissenschaftlichen Forschung, das soll nicht genommen sein aus irgendeiner Urkunde; es soll nicht an uns herantreten als irgend etwas Überliefertes, sondern als etwas, was mit den Mitteln der Geistesforschung erforscht werden kann.

Der Geistesforscher stellt sich die Aufgabe, zu erkunden, wie sich das Ereignis von Palästina darstellt, ohne daß er irgendeine Urkunde zu Hilfe zieht. Ohne Berücksichtigung irgendeiner Urkunde stellt er seine Forschung an. Dann versucht er nachher zu zeigen, wie uns aus den Urkunden dieselben Wahrheiten und Berichte entgegenleuchten.

Wir haben den Weg gewählt beim Lukas-Evangelium und beim Johannes-Evangelium, daß wir aus dem ungeheuren Umfange der Akasha-Chronik herausgeholt haben, was man wiederfinden kann im Lukas-Evangelium und im Johannes-Evangelium. Dadurch, daß man die Forschungen der Geistesforscher auf diese Evangelien in dieser Weise anwendet, lernt man sie im gewissen Sinne erst kennen. Ich habe gezeigt, daß man da bei dem Lukas-Evangelium Gelegenheit hat, etwas anderes zu besprechen als bei dem Johannes-Evangelium. Es beginnt das Johannes-Evangelium mit der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth in der Zeit, als er dreißig Jahre alt war. Es tritt uns da in ihm die hohe Sonnenwesenheit entgegen, die Christus-Wesenheit.
Wir haben es hier zu tun mit den drei letzten Lebensjahren des Christus Jesus.
Das Lukas-Evangelium dagegen gestattet uns, jene bedeutungsvollen Vorgänge kennenzulernen, welche möglich gemacht haben, daß diese bedeutende Wesenheit des Christus einfließen konnte in die Persönlichkeit des Jesus von Nazareth, zu zeigen das Zusammenströmen des Zarathustrismus und des Buddhismus, und wir haben gesehen, wie sich diese zwei gewaltigen Geistesströmungen begegnen und sich vereinigen gerade im Jesus von Nazareth. Er trat uns das letzte Mal entgegen als menschliche Persönlichkeit, die da geboren ward als ein Kind mit ganz besonderen innerlichen Anlagen, aber zunächst nicht mit jenen Anlagen, die den Menschen besonders zum Verständnis der äußeren, gegenwärtigen physischen Welt geführt hätten. Über dieser Persönlichkeit, die als Kind uns entgegengetreten ist in dem nathanischen Jesuskinde, dem eigentlichen Jesus von Nazareth, über ihr sehen wir strahlen das, was wir den Nirmanakaya des Buddha nannten, was wir als Aura dieses Kindes sehen.
Es ist diejenige Gestalt, welche der Buddha annahm nach seiner letzten Inkarnation, in welcher er Buddha wurde. Wir konnten hervorheben, daß dasjenige, was wir unsere abendländische esoterische Lehre nennen, voll rechtfertigt das, was in den morgenländischen Schriften enthalten ist: daß die Individualität vor der Verkörperung des Buddha, in der sie im 6. Jahrhundert vor Christus auftrat, ein Bodhisattva war.

Solch ein Bodhisattva wird in einer ganz bestimmten Verkörperung ein Buddha. Damit hatte jene Individualität eine solche Entwicke-lungsstufe erlangt, daß sie nun nicht mehr in einem physischen Leib auf der Erde verkörpert zu werden brauchte. Das ist eine große Errungenschaft, daß eine Individualität nicht mehr verkörpert zu werden braucht. Daß dieses sein kann, hängt aber nicht nur von der Höhe der Entwickelung einer Individualität ab, sondern auch von der Art einer Individualität. Nach dieser Verkörperung hatte der Bodhisattva-Buddha keine irdisch-fleischliche Verkörperung mehr durchzumachen. Er verkörperte sich dann nicht mehr in einem irdisch-fleischlichen Leibe, sondern nur noch in dem, als unterste körperlich-leibliche Wesenheit, was wir den Äther- oder Lebensleib nennen. Darin verkörperte sich hinfort eine solche Individualität. Er stieg nicht mehr herunter zu einer fleischlichen Verkörperung, dieser Buddha, sondern nur zu einer solchen im Ätherleibe.

Ein solcher ätherischer Leib, in dem sich eine Individualität vorwärtsentwickelt hat, sieht – wenn er gesehen wird – nicht wie ein anderer Leib aus, der als physischer Leib auf der Erde besteht. Was wir als physischen Leib sehen bei einer Individualität, die bis zur Verkörperung im physischen Leib heruntersteigt, das ist da eine geschlossene Einheit. Da ist nirgends eine Unterbrechung. Ein solcher ätherischer Leib aber, in dem sich eine Individualität wie der Buddha verkörpert, ist nicht eine geschlossene Raumeinheit.
Er ist eine Vielheit von nicht zusammenhängenden Gliedern. Erinnern wir uns an die sogenannte Spaltung der Persönlichkeit, die eintritt, wenn der Mensch sich immer mehr hinaufentwickelt. Dieser Vorgang ist beschrieben in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?».
Was zusammenhängt als ein Ganzes bei dem gewöhnlichen Menschen, die Kräfte, die wir Denken, Fühlen und Wollen nennen, das steht dann sozusagen jedes für sich da. Der Mensch wird über diese einst Herrscher werden; er ist nachher eine Dreiheit, man könnte sogar sagen eine Vielheit, wie es in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» ausgeführt ist.
In einem solchen Fall, wie bei der Verkörperung des Buddha in späteren Zeiten, haben wir einen solchen ätherischen Leib, der aus nicht zusammenhängenden Wesen besteht. Bei den gewöhnlichen Menschen ist es auch nur das Prinzip des physischen Leibes, welches den ätherischen Leib zusammenhält.

Wenn ein solcher Bodhisattva-Buddha im ätherischen Leib verkörpert wieder erscheint, so erscheint er dann, wenn er sichtbar wird, als eine Vielheit, als eine Schar von Wesenheiten. Von dieser Schar von Wesenheiten erzählt der Schreiber des Lukas-Evangeliums, wenn er von den Engeln spricht, die den Hirten auf dem Felde erschienen. Dieser ätherische Leib, den man den Nirmanakaya des Buddha nennt, der schwebte über jenem nazarenischen Jesuskinde. Er ist es, welcher der Inspirator wird, der alles das, was der Buddha war, einträufelt in das Christentum auf diese Weise.

So sehen wir, wie hier der Buddhismus einströmt in das Christentum. Ganz konkret muß man sich das denken, nicht nur im Abstrakten. Wer verstehen will, wie sich das in Wirklichkeit abspielt, der muß hinweisen können auf das konkrete Ereignis, wo der bis zu jener nächsten Stufe fortgeschrittene Buddha sich dem Christentum einfügt. Das ist beschrieben im Lukas-Evangelium, in der Engelschar, die der Nirmanakaya des Buddha ist.

Dann haben wir beschrieben, wie ein zweiter Jesusknabe da ist, den wir den bethlehemitischen Jesusknaben nennen können, und haben gesagt, wie der nichts anderes ist als der wiederverkörperte Zara-thustra. Es ist ein außerordentlich frühreifes Kind. In jenem Kinde ist wiederverkörpert der Zarathustra. Das ist ausgedrückt im Matthäus-Evangelium. Denn im Matthäus-Evangelium soll geschildert werden die Individualität, die besonders verständlich war für den Schreiber des Matthäus-Evangeliums, die hinzubrachte zu dem Christentum den Strom des Zarathustrismus. Daher wird auch geschildert, daß dieser Knabe abstammte aus der salomonisch-königlichen Linie des Hauses David, während der Jesus des Lukas-Evangeliums abstammte aus der nathanischen Linie des Hauses David, der priesterlichen Linie.

Wenn wir das Christentum uns in seiner ganzen tiefen Bedeutung verständlich machen wollen, dann müssen wir uns klarmachen, daß zusammenströmen mußten die wichtigsten Strömungen aus der Welt. Wir sehen, daß die davidische Königslinie sich spaltet in eine salomonische und in eine nathanische Linie. In der salomonischen Linie pflanzen sich fort die königlichen Eigenschaften, in der nathanischen Linie die priesterlichen Eigenschaften. Die königlichen Eigenschaften kommen besonders in den ersten zwei Lebensperioden des menschlichen Lebens heraus; die Eigenschaften, die vor allen Dingen sozusagen hinausgehen auf ein verständnisvolles Beherrschen der Weltverhältnisse, auf alles das, was den Menschen mit den Weltverhältnissen in Harmonie bringt.
Das kann nur geschehen, wenn die Kräfte des physischen und des ätherischen Leibes richtig entwickelt sind. Da der Zarathustra vorzugsweise diese Eigenschaften in innerlicher Weise vollendet ausgebildet hatte, so mußte er sich jetzt gerade bis zum zwölften Jahre all der Anlagen bedienen, die im physischen und Ätherleibe herauskamen.
Solche Anlagen konnten ihm im besonderen gegeben werden durch die im salomonischen Hause vererbten Eigenschaften. Für die Aufgabe, die er hatte, brauchte er aber auch die großen Anlagen des Ich-Trägers, die großen Anlagen des Astralleibes. Sie konnten ihm nur gegeben werden von einer Linie, die aus Generationen heraus gerade diese Anlagen vererbte. Wäre der Zarathustra bis zu dem dreißigsten Jahre in dem Leibe geblieben, wo der Ätherleib und der physische Leib besonders ausgebildet waren, so hätte er seine Wesenheit nicht so vertiefen können. Darum zog er im zwölften Jahre hinüber in den nazarenischen Jesus, so daß in demselben Kinde, worin der Nirmanakaya des Buddha wohnte, vom zwölften Jahre an aufgenommen wurde die Individualität des Zarathustra. So sind diese beiden Strömungen zusammengeflossen in diesem nazarenischen Jesus in seinem zwölften Jahre.

Als dritte Strömung sollte hinzukommen die althebräische Strömung. Nur durch dieses Zusammentreffen konnte jene Individualität auftreten, die den Christus in sich aufnahm.
Wir fragen uns nun, wie ist das dazu eingeflossen, was die althebräische Geistesströmung war? Wir wollen sehen, wie wir aufzufassen haben das Ureigenste der althebräischen Geistesströmung. Denken wir auch einmal daran, was wir als das Wesen der Buddhaentwickelung angesehen haben. Was ist dadurch geschehen, daß aus dem Bodhisatrva ein Buddha geworden ist?

Diese Individualität, die in dem Bodhisattva-Buddha verkörpert war, hatte die Aufgabe, von Epoche zu Epoche zu überliefern, was man nennen kann die Lehre von Mitleid und Liebe. Wenn wir dies verstehen wollen, so müssen wir uns sagen, daß der Mensch früher in einem ganz andern Bewußtseinszustande war. Wir dürfen nicht kurzsichtig sein wie die heutige Wissenschaft, die glaubt, daß immer dieselben Fähigkeiten da waren, die sich aus primitiven Anfängen nach und nach entwickelten, und daß der Mensch vorher auf der Stufe der Tierheit war. So war es eben nicht. Was wir heute menschliches Denken, Fühlen und Wollen nennen, das war nicht immer da. Je weiter wir zurückgehen in der Entwicklung der Menschheit, desto mehr wird dieser heutige Bewußtseinszustand ein traumhaftes, dämmerhaftes Hellsehen. Darum mußte auch alles das, was in alten Zeiten als Lehre gegeben werden sollte, anders gegeben werden als heute.

Heute kann man gewisse moralische Prinzipien aussprechen; die versteht der Mensch dann. Wenn er solche Prinzipien hört, kann er heute sagen: Gewiß, meine eigene Vernunft sagt mir das. – Aber dazu mußten erst die Vernunft und das Gewissen entwickelt sein. Es ist handgreiflich aus der äußeren Geschichte nachzuweisen, daß das Gewissen einmal angefangen hat. Äschylos spricht davon noch nicht. Diese besondere Seelenkraft trat erst in einer bestimmten Zeit ein, vorher war sie nicht da.

Bevor es im Menschen ein Gewissen gegeben hat, bevor es ein logisches Denken gegeben hat, wenn man da an sein Gewissen, an sein Denken appelliert hätte, so wäre es gewesen, als ob man zu einem Stein oder zu einer Pflanze spräche.
Es brauchte damals die Seele Kraft, Impulse, und die mußten der Seele eingeflößt werden. Was zum Beispiel sich auf die Liebe bezieht, wurde wie suggestiv eingegeben durch die Individualität, die man den Bodhisattva nennt, als diese Individualität, die man Bodhisattva nennt, als der Buddha da war. Da war die Zeit gekommen, wo die Menschen aus sich selber heraus die Lehre von Mitleid und Liebe nach und nach gewinnen konnten, die Lehre von dem sogenannten achtgliedrigen Pfad. Diese Lehre, die ihm früher von oben herunter gegeben werden mußte, konnte ihm erst als Lehre gegeben werden, als der Buddha da war. Darum mußte der Bodhisattva Buddha werden.

Jegliches, was vorgeht in der menschlichen Entwickelung, muß vorgehen an seinem bestimmten Ort und in einem bestimmten Volke, aus dem eine Anzahl von Menschen herausgegriffen werden, die Verständnis haben für die Lehre. Vielleicht wird man einen Widerspruch finden zwischen diesem und dem, was früher gesagt worden ist, weil früher gesagt wurde, daß es die Mission des Christus war, die Liebe zu verbreiten. Aber wenn so etwas gesagt wird, ist es notwendig, ganz genau zuzuhören. Es lag in der Mission des Buddha, die Lehre von Mitleid und Liebe zu bringen; aber Christus ist die Kraft der Liebe. Er brachte die Liebe selbst. Es ist etwas anderes, die Lehre von etwas zu bringen, als die Sache selbst zu bringen.

Gerade damit war die Möglichkeit gegeben, daß die Kraft der Liebe herunterströmte und sich offenbarte durch dieses hohe Sonnenwesen auf der Erde, daß diese Lehre gebracht wurde durch den Buddha. Aber wiederum war es notwendig, daß diese Kraft der Liebe sich irdisch offenbarte innerhalb eines Volkes, das eine andere Entwickelung durchgemacht hatte als dasjenige, in welchem der Buddha lebte.

Wodurch unterscheidet sich das, was der Welt gebracht worden ist durch den Buddha, von dem, was gebracht worden ist durch die Individualität des Moses ? Man nennt mit Recht das, was der Buddha gebracht hat, das große Gesetz, Dharma. Der Buddha hat das Gesetz so gebracht, in einer bestimmten Form, so daß es von der Seele in dieser Form erkannt werden konnte, daß die Menschen es innerhalb der eigenen Seele finden konnten. Moses hat ein Gesetz gebracht in einer ganz andern Art und Weise; er brachte es als Gebot. Es konnte nicht bei diesem Volke, dem er es brachte, als ein in der Seele selbst wurzelndes Gesetz angesehen werden, sondern als ein göttliches, aus den Höhen gegebenes Gesetz. Buddha sagte: Ihr werdet in der tiefsten Kraft der Seele selber finden das Gesetz, das ich euch sage. – Aber Moses sagte: Es gibt das Gesetz der Gott, der da kommen wird.

Es mußte sozusagen einem Volke ein Gesetz gegeben werden unter der Voraussetzung, daß man rechnete, dieses Volk steht auf einer jüngeren Stufe als das andere. Es hat gewisse Kräfte noch nicht ausgebildet. Darauf beruht alle Entwickelung, daß die Dinge nicht in gerader Linie weitergehen.

Man faßt gewöhnlich als Entwickelung auf, daß das Folgende immer aus dem Früheren hervorgeht. So geht aber die Entwickelung nicht vor sich. Entwickelung kommt durch ganz andere Voraussetzungen zustande. Wenn wir die Pflanze beobachten in ihrem Wachstum, so sehen wir zuerst den Keim, dann den Stengel emporwachsen, und wie sie dann ansetzt Blatt an Blatt und schließlich die Blüte. Jetzt kommt ein Punkt, wo nicht mehr das Spätere aus dem Früheren sich nach und nach einfach entwickelt, sondern es tritt die Befruchtung ein. Es muß etwas anderes einströmen, ein Staubkörnchen von einer andern Pflanze. Insbesondere im Geistesleben müssen nun die mannigfaltigsten Umstände und Strömungen zusammenfließen.
In Palästina mußte sich vereinigen der Zarathustrismus, der Buddhismus und dann eine ganz andere Strömung. Diese Strömung konnte unter gewissen Verhältnissen jüngere Lebenskräfte zuführen. Lange, lange Zeit hatten gewirkt innerhalb dieses Volkes die Gebote Jahves. Hätte dieses Volk auch auf der Stufe gestanden, daß Buddha sechshundert Jahre vor Christus auch hätte an die eigene Seele dieser Menschen appellieren können, dann hätte das Volk später nicht die jugendlichen Kräfte gehabt. Daher mußte es von seinem Gesetzgeber erhalten Gebote, bei denen man nicht an die eigene Seele appellierte. Es mußte dieses Volk in Vorderasien auf einer früheren Stufe zurückgehalten werden.

Wir können Ähnliches hypothetisch für das einzelne Menschenleben anführen. Denke man sich, es wolle jemand künstlich einen Menschen dazu bringen, daß dieser in einem gewissen Lebensalter besonders schöpferische Fähigkeiten entwickelt. Aber man möge das nicht etwa probieren! Dann müßte ein Kind ganz anders entwickelt werden, als das sonst geschieht. Denn wenn ich versuche, ihm im siebenten Jahre das beizubringen, was ihm heute die Schule beibringt, dann habe ich dadurch die Seele unfähig gemacht, daß später gewisse Kräfte herauskommen. Ich will daher warten bis zum zehnten Jahre. Dann tritt dieses Kind mit ganz andern Kräften heran. Dann hat es etwas an jugendfrischer Kraft bewahrt. Es kommen dann Kräfte heraus, die schöpferische Kräfte sind, die sonst etwa getötet worden wären.

Sie sehen, wie in Vorderasien das ausgeführt worden ist. Es ist das hebräische Volk zurückgehalten worden. Es konnte noch nicht aufnehmen die Lehren des Buddha von Mitleid und Liebe. Das ist ihm als ein Gebot gegeben worden. Es hatte nicht den Appell des Buddha bekommen, aus sich heraus zu entwickeln die Lehre von Mitleid und Liebe. Nur an einer Stelle der Erdentwickelung, wo die Menschen am meisten vorgeschritten waren, konnte der Bodhisattva-Buddha diese Lehre bringen. Als dann ganz andere Kräfte entwickelt worden waren, wurde an einer andern Stelle diese Strömung mit der andern vereinigt.
Worinnen haben wir nun zu suchen das, was da herunterfließt durch die Generationen eines Volkes? Woran hängt das? Womit nimmt der Mensch dasjenige auf, was am ganzen Volke hängt?
Vom ersten bis zum siebenten Jahre ist der Mensch noch eingehüllt in eine Ätherhülle, die er dann abstreift. Dann umgibt ihn noch die Astralhülle, die er mit der Geschlechtsreife abwirft. Der Astralleib wird dann erst geboren. Wenn dann beim Menschen in der Zeit vom zwölften bis fünfzehnten Jahre der Astralleib geboren ist, so ist das dasjenige, worin all die Kräfte sind, die der Mensch gemeinsam hat mit dem Volkstum. Diese astrale Hülle, die der Mensch nun abstreift, die enthält alle die Eigenschaften, die der Mensch bis dahin in seinem Inneren haben konnte. Diese Hülle macht es also, daß der Mensch einem bestimmten Volkstum angehört. Was geschieht nun mit dieser Hülle, wenn sie abgestreift wird ? Diese Hülle, die da abgestreift wird, in der drinnen ist alles das, was der Mensch mit seinem Volkstum gemeinschaftlich hat. Sie vereinigt sich dann mit all den Hüllen, die auch die Vorfahren abgestreift haben. Wir haben gleichsam so eine Kette.
Während der Mensch bis zu seinem vierzehnten Jahre das in sich hat, da hängt er an einer Kette, die hinaufgeht zu den Vorfahren. Bis zu welchem Glied der Vorfahren geht sie hinauf? Sie geht hinauf bis zum zweiundvierzigsten Glied, dem sechsmal siebenten Gliede! Es hängt der Mensch mit seinen Vorfahren so zusammen. Das wußte man in alten Zeiten. Das weiß man auch heute innerhalb der Geisteswissenschaft. Weil der Mensch in dieser Weise mit seinen Vorfahren zusammenhängt, deshalb ließen die alten Ägypter in ihrem Totenbuch den Menschen nach dem Tode vor zweiundvierzig Totenrichtern erscheinen.
Soll eine bestimmte Eigenschaft des Menschen herauskommen, so daß sie in das Volk hineingehört, dann müssen diese Vorfahren so liegen, daß alle diese einzelnen Glieder diese bestimmten Eigenschaften des Volkes zum Ausdruck bringen. Sollte der Zarathustra sich verkörpern, so mußte es sein in einer Hülle, die die wesentlichen Eigenschaften seines Volkes hatte.
Darum läßt Matthäus den Zarathustra hineingeboren werden in das zweiundvierzigste Glied nach Abraham, das alle die Eigenschaften des Volkes hatte. Dadurch sind diese Einflüsse hineingekommen in die dritte Strömung.

DIE VIER VERSCHIEDENEN ASPEKTE IN DER CHRISTUS-DARSTELLUNG DER VIER EVANGELIEN
Berlin, 2. November 1909 Erster Vortrag

Die Betrachtungen, die in Anknüpfung an das Johannes- und das Lukas-Evangelium gehalten worden sind, und die Gesinnung, von welcher aus sie ins Auge gefaßt worden sind, können nicht anders charakterisiert werden, als indem man sagt, diese Betrachtungen sind ausgegangen von folgendem Gesichtspunkt:
Das, was wir als die Christus Jesus-Wesenheit bezeichnen, ist – soweit von ihr ein menschliches Verständnis überhaupt in unserer gegenwärtigen Zeit möglich ist – ein so Großes, so Umfassendes, Gewaltiges, daß eine Betrachtung nicht davon ausgehen kann, in irgendeiner einseitigen Weise zu sagen, wer der Christus Jesus war und welche Bedeutung seine Wesenheit für jeden einzelnen Menschengeist und für jede einzelne Seele hat.
Das würde innerhalb unserer Betrachtungen geschienen haben wie eine Unehrerbietung gegenüber dem größten Weltenproblem, das es gibt. Ehrerbietung und Ehrfurcht, das sind die Worte, welche jene Gesinnungen bezeichnen, von denen aus unsere Betrachtungen durchaus gegeben worden sind. Ehrfurcht und Ehrerbietung, die etwa sich ausdrücken könnten in der Stimmung: Versuche selber dasjenige, was menschliches Begreifen ist, gar nicht zu hoch zu stellen, wenn du dem größten Problem gegenübertrittst.
Versuche alles das, selbst was dir eine noch so hohe Geisteswissenschaft geben kann, niemals zu hoch zu stellen, und ginge es auch in die höchsten Regionen hinauf, wenn es sich darum handelt, dem größten Problem des Lebens gegenüberzutreten. Und glaube nicht, daß ein menschliches Wort ausreichen würde, etwas anderes zunächst zu sagen als das, was dieses große und gewaltige Problem von einer Seite aus charakterisiert. Alle diejenigen Vorträge, die jemals im Verlauf der letzten drei Jahre gehalten worden sind, hatten zum Mittelpunkte ein Wort, das uns im Johannes-Evangelium selber erscheint. «Ich bin das Licht der Welt» ist dieses Wort. Dieses Wort des Johannes-Evangeliums zu verstehen, waren alle Vorträge gehalten, welche über das Johannes-Evangelium ausgeführt worden sind. Und es reichen die Vorträge, welche in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium gehalten wurden, ungefähr dazu aus, nach und nach zu verstehen, wenn man sie sich zu eigen macht, diese Worte, die gesprochen worden sind, vielleicht nur ahnend zu verstehen, was es heißt im Johannes-Evangelium selber:

«Ich bin das Licht der Welt.»

Wenn Sie ein Licht leuchten sehen, haben Sie dadurch, daß Sie in dieses Licht hineinschauen, verstanden, daß das, was da leuchtet, ein Licht ist? Und wenn Sie einiges begriffen haben über die Färbung und Eigenheit dieses Lichtes, haben Sie da verstanden, was da leuchtet? Kennen Sie die Sonne, weil Sie hinaufblicken zum Sonnenlicht und das weiße Sonnenlicht als eine Offenbarung empfangen? Könnten Sie sich nicht vorstellen, daß es noch etwas anderes heißt, das Leuchtende zu begreifen als das Licht in dem Leuchtenden ? Weil das Wesen, von dem wir gesprochen haben, von sich sagen kann: «Ich bin das Licht der Welt», waren wir genötigt, dieses Wort zu verstehen, und damit haben wir von jenem Wesen nicht mehr als diese seine Lebensäußerung verstanden: «Ich bin das Licht der Welt.»

Alles das, was an Betrachtungen aufgeboten worden ist in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium, war notwendig, um zu zeigen, daß jenes Wesen, welches in sich enthält die Weltenweisheit, das Licht der Welt ist. Aber dieses Wesen ist weit mehr als das, was im Johannes-Evangelium charakterisiert werden konnte. Und wer da glaubt, aus den Vorträgen über das Johannes-Evangelium den Christus Jesus verstehen zu wollen oder ihn umfaßt zu haben, der glaubt, aus einer einzelnen Lebensäußerung, die er ahnend erkennt, das ganze leuchtende Wesen zu verstehen.

Dann kamen die Vorträge über das Lukas-Evangelium, und wir haben daraus ein anderes ersehen. Konnte man ungefähr dasjenige, was in allen unseren Betrachtungen über das Johannes-Evangelium gesagt worden ist, wie ein Mittel zum Verständnis der Worte «Ich bin das Licht der Welt» betrachten, so könnte eventuell, wenn man sie nur tief genug gefaßt hat, die Betrachtung über das Lukas-Evangelium aufgefaßt werden als eine Umschreibung der Worte: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun», oder:
«Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist.»
Dasjenige, was der Christus Jesus ist – jetzt nicht bloß als Licht der Welt, sondern was er ist als die Wesenheit, die das größte Opfer der Hingebung bringt, die alles in sich vereinigen darf, ohne sich selber zu verlieren, was charakterisiert worden ist als das Opfer der Hingebung -, die Wesenheit, die in sich selber schließt die Möglichkeit des größten Opfers, der größtdenkbaren Hingabe und dadurch der Quell ist von Mitleid und Liebe, der sich warm ergießt durch alles zukünftige Menschen- und Erdenleben, alles, was in diese Worte gefaßt werden konnte, gibt eine zweite Seite von dem, was wir die Wesenheit des Christus Jesus nennen.

So haben wir charakterisiert diese Wesenheit als diejenige, welche in ihrem Mitleid das große Opfer realisieren kann, und welche leuchtet durch die Kraft ihres Lichtes über alles Menschendasein. Licht und Liebe haben wir geschildert, wie sie waren in der Wesenheit des Christus Jesus. Und wer im vollständigen Umfang die Johannes- und Lukas-Evangelienbetrachtungen nimmt, der kann in gewisser Beziehung eine Ahnung von dem erhalten, was in dem Christus Jesus «Licht» war und was in ihm «Liebe und Mitleid» war. Zwei Eigenschaften in ihrer universellen Bedeutung haben wir versucht zu verstehen in Christus Jesus. Was über den Christus zu sagen war als das geistige Licht der Welt, das als urewige Weisheit sich in alle Dinge hineinergießt, um in ihnen zu leben und zu weben, das kann sich der geistigen Betrachtung ergeben, das glänzt uns wiederum entgegen aus dem Johannes-Evangelium, und es gibt keine Weisheit, die man erreichen kann, die nicht in gewisser Weise im Johannes-Evangelium enthalten wäre.

Alle Weisheit der Welt ist in diesem Johannes-Evangelium enthalten, weil derjenige, der die Weisheit der Welt im Christus Jesus betrachtet, sie betrachtet, wie sie sich nicht nur realisiert hat in urferner Vergangenheit, sondern auch realisieren wird in urferne Zukunft hinein. Daher schwebt man in den Betrachtungen, die sich an das Johannes-Evangelium anknüpfen, hoch in den Lüften wie der Adler über allem menschlichen Dasein. So schwebt man, wenn man die großen Ideen zu entfalten hat, die ein Verständnis des Johannes-Evangeliums ermöglichen, mit den umspannenden und um-
fassenden Ideen über dem, was in der einzelnen menschlichen Seele vorgeht. Die umspannenden Weltideen beschäftigen jene Sophia, welche uns fließt, wenn wir in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium Betrachtungen anstellen. Und dann erscheint uns das, was aus dem Johannes-Evangelium fließt, selber in Adlerhöhe kreisend über alledem, was im täglichen und stündlichen und augenblicklichen Menschenschicksal vor sich geht.

Und wenn man dann heruntersteigt und betrachtet das einzelne menschliche Leben von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrtausend zu Jahrtausend, wenn man darin betrachtet insbesondere jene Kräfte, welche man die menschliche Liebe nennt, dann sieht man diese Liebe durch Jahrtausende wallen und weben in den lebenden menschlichen Herzen und Seelen.
Dann sieht man, wie diese Liebe auf der einen Seite die größten, bedeutsamsten, heroischsten Taten innerhalb der Menschheit vollbringt, dann sieht man, wie die größten Opfer der Menschheit geflossen sind aus der Liebe zu dem oder jenem Wesen, zu der oder jener Sache. Dann sieht man, wie diese Liebe in den menschlichen Herzen das Höchste vollbringt, wie sie aber zu gleicher Zeit etwas ist wie ein zweischneidiges Schwert:

Da haben wir eine Mutter; sie liebt ihr Kind innig, tief. Das Kind begeht irgendeine Ausschreitung; die Mutter liebt ihr Kind, sie kann es nicht über das Herz bringen in ihrer tiefen, inbrünstigen Liebe, das Kind zu strafen. Und eine zweite Ausschreitung begeht dieses Kind, und die Mutter kann es abermals in ihrer tiefen Liebe nicht über das Herz bringen, das Kind zu bestrafen. Und so geht es weiter, und das Kind wächst heran, wird unbrauchbar, ein Störenfried für das Leben. Wenn man solche bedeutungsvolle Dinge berührt, ist es nicht gut, Beispiele aus der Gegenwart zu nehmen, und es soll deshalb ein fernerliegendes Beispiel angeführt werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Mutter, welche innig, innig ihr Kind liebte. Ausdrücklich soll es gesagt werden: nichts kann diese Liebe hoch genug preisen, unter allen Umständen ist Liebe etwas, was zu den höchsten menschlichen Eigenschaften gehört.
Jene Mutter nun liebte ihr Kind und konnte es nicht über das Herz bringen, ihr Kind zu strafen wegen eines kleinen
Diebstahls, den es in der Familie beging. Dann beging es einen zweiten Diebstahl, und sie konnte es wieder nicht bestrafen – das Kind wurde eine berüchtigte Giftmischerin. Sie wurde es aus der nicht von Weisheit geleiteten Mutterliebe. Die Liebe vollführt die größten Taten, wenn sie von Weisheit durchflössen ist.
Das aber war gerade die Bedeutung jener Liebe, die von Golgatha geflossen ist in die Welt, daß sie in einem Wesen vereint ist mit dem Licht der Welt, mit der Weisheit. Daher ist das Hinblicken auf den Christus Jesus, wenn wir die beiden Eigenschaften betrachten so, daß wir erkennen, daß die Liebe das Höchste ist in der Welt, aber zu gleicher Zeit erkennen, wie Liebe und Weisheit im tiefsten Sinne zusammengehören.

Was haben wir aber verstanden, wenn man nun alle diese Betrachtungen über das Johannes- und Lukas-Evangelium angestellt hat?
Man hat nichts weiter verstanden als jene Eigenschaft des Christus Jesus, die man nennen kann das universelle Licht der Weisheit, die universelle Wärme der Liebe, die in ihm so geflossen sind wie in keinem andern Wesen in der Welt, die keiner menschlichen Erkenntniskraft jemals zugänglich sein kann. Und während man in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium von großen, gewaltigen Ideen spricht, welche wie in Adlerhöhen über die menschlichen Köpfe hinweggehen, findet man in Anlehnung an das Lukas-Evangelium das, was in jedes einzelne Menschenherz in jedem Augenblicke hineinspricht. Das ist das Bedeutsame des Lukas-Evangeliums, daß es uns mit solcher Wärme erfüllt, welche der äußere Ausdruck der Liebe ist, mit dem Verständnis für jene Liebe, die bereit ist zum größten Opfer, die bereit ist, sich selbst hinzugeben und nichts anderes will, als sich selber hingeben.

Man fühlt so ungefähr – will man ein Bild haben für jene Stimmung, für jene Gemütslage, in der man ist bei der Betrachtung, die anknüpft an das Lukas-Evangelium, wenn man es im richtigen Sinne betrachtet – dasjenige, was uns in jenen Mithrasbildern entgegentritt, wo man den dahineilenden Opferstier hat. Auf ihm sieht man den Menschen sitzen, oben den Gang der großen Weltenereignisse und unten den Gang der irdischen Ereignisse. Der Mensch stößt sein Beil hinein in den Leib des verblutenden Opferstieres, der sein Leben hingibt, damit der Mensch dasjenige überwinden kann, was er überwinden muß. Wenn man diesen unter dem Menschen befindlichen Opferstier betrachtet, der hingeopfert werden muß, damit der Mensch seinen Lebensweg gehen kann, dann hat man ungefähr die Gefühls- und Gemütslage, welche die richtige Grundstimmung abgibt für eine an das Lukas-Evangelium anknüpfende Betrachtung. Was der Opferstier zu allen Zeiten den Menschen war, die das verstanden haben, was im Opferstier liegt, in dem Ausdruck der in sich selber zu vertiefenden Liebe, die verstehen etwas von der Schilderung der Eigenschaften der Liebe, die gegeben werden soll durch die Betrachtung des Lukas-Evangeliums.
Denn nichts anderes als eine zweite Eigenschaft des Christus Jesus sollte geschildert werden. Kennt aber der, der zwei Eigenschaften an einem Wesen kennt, das ganze Wesen? Weil uns in diesem Wesen das größte Rätsel entgegentritt, sind die Ausführungen zum Verständnis zweier Eigenschaften nötig gewesen. Niemand aber sollte sich vermessen, aus der Betrachtung zweier Eigenschaften dieses Wesen selber ins Auge fassen zu können.

Zwei Eigenschaften des Christus Jesus haben wir geschildert und nicht unterlassen, alles das zu tun, was uns zu einem ahnenden Verständnis der hohen Bedeutung dieser zwei Eigenschaften hat bringen können. Aber wir haben zu viel Ehrerbietung und Ehrfurcht vor diesem Wesen selber, als daß wir glauben wollten, wir hätten schon etwas begriffen von den andern Eigenschaften, die dieses Wesen noch in sich birgt. Nun wäre noch ein Drittes möglich, und dieses dritte, da es ja anknüpft an etwas, was in den Betrachtungen innerhalb unserer Bewegung noch nicht gegeben ist, kann nur im allgemeinen charakterisiert werden. Man könnte sagen: Wenn man den Christus des Johannes-Evangeliums schildert, schildert man ihn, wie er wirkt zwar als eine hohe Wesenheit, aber wie eine Wesenheit, die sich bedient des Reiches der weisheitsvollen Cherubim. So schildert man ihn im Sinne des Johannes-Evangeliums mit der Stimmung, die hervorgerufen wird durch die in Adlerhöhen schwebenden Cherubim. Schildert man ihn im Sinne des Lukas-Evangeliums, dann schildert man das, was als das warme Liebesfeuer aus dem Herzen des Christus quillt. Man schildert das, was er der Welt dadurch war, daß er wirkte in jener Höhe, in der die Seraphim sind. Das Liebefeuer der Seraphim strömt durch die Welt, und unserer Erde wurde es mitgeteilt durch den Christus Jesus.

Nun hätten wir ein Drittes zu schildern: dasjenige, was der Christus der Erdenwelt dadurch geworden ist, daß er nicht nur das Licht der Weisheit, die Wärme der Liebe, nicht nur das cherubimische und seraphische Element innerhalb des Erdendaseins war, sondern daß er «war» und «ist» in unserem Erdendasein, wenn wir ihn in seiner ganzen Kraft betrachten, was man bezeichnen kann als «wirkend durch das Reich der Throne», durch welches alles Starke und alle Kraft in die Welt kommt, um das auszuführen, was im Sinne der Weisheit, im Sinne der Liebe ist.

Dies sind die drei höchsten der geistigen Hierarchien: Cherubim, Seraphim und Throne. Die Seraphim führen uns hinein in die Tiefen des menschlichen Herzens mit ihrer Liebe, die Cherubim führen uns hinauf in Adlerhöhen. Weisheit strahlt heraus aus dem Reich der Cherubim. Zum Opfer wird die ergebungsvolle Liebe, das symbolisiert uns der Opferstier. Stärke, die durch die Welt pulst, Stärke, welche die Kraft entwickelt, um alles zu realisieren, schöpferische Kraft, die durch die Welt pulst, das. symbolisiert uns in aller Symbolik der Löwe. Jene Stärke, welche eingezogen ist in unsere Erde durch den Christus Jesus, jene Stärke, welche alles ordnet und richtet, welche ein Höchstes an Macht bedeutet, wenn es entwickelt wird: das schildert uns als dritte Eigenschaft am Christus Jesus der Schreiber des Markus-Evangeliums.

Wenn wir im Sinne des Johannes-Evangeliums von dem hohen Sonnenwesen, das wir als den Christus bezeichnen, sprechen als vom Lichte der Erdensonne im geistigen Sinne, wenn wir im Sinne des Lukas-Evangeliums von der Wärme der Liebe sprechen, die ausquillt von der Erdensonne des Christus, dann sprechen wir, wenn wir im Sinne des Markus-Evangeliums sprechen, von der Kraft der Erdensonne im geistigen Sinne selber. Alles das, was an Kräften in der Erde vorhanden ist, was da und dort webt an geheimen und offenen Erdenkräften und -mächten, das würde uns entgegentreten bei einer Betrachtung, die im Hinblick auf das Markus-Evangelium geschieht.
Kann man sich vermessen, wenn auch nur ahnend, die Ideen, die auf die Erde gekommen sind, wie die Erdengedanken des Christus zu verstehen, wenn man sich zu ihm emporhebt im Sinne des Johannes-Evangeliums, kann man den Wärmehauch der Opferliebe fühlen, wenn man die Wärme des Lukas-EvangeKums durch sich selber strömen läßt, kann man das Denken des Christus ahnen im Johannes-Evangelium, das Fühlen des Christus durch das Lukas-Evangelium, so lernt man das Wollen des Christus durch das Markus-Evangelium kennen. Die einzelnen Kräfte, durch die er Liebe und Weisheit realisiert, lernt man da kennen.

Drei Eigenschaften würde man ahnend erfaßt haben, wenn man zu den Betrachtungen über das Johannes- und Lukas-Evangelium hinzugefügt hätte die Betrachtungen über das Markus-Evangelium. Man würde dann sagen: In Ehrfurcht haben wir uns Dir genahet und haben eine Ahnung bekommen von Deinem Denken, Fühlen und Wollen, wie uns diese drei Eigenschaften Deiner Seele vorschweben als die größten Erdenvorbilder.

So haben wir unsere Betrachtungen angestellt, wie wenn wir im ganz Kleinen einen Menschen betrachten und sagen, er besteht aus Empfindungs-, Verstandes- und Bewußtseinsseele, und betrachten jetzt die Eigentümlichkeiten der Empfmdungs-, Verstandes- oder Gemüts- und Bewußtseinsseele. Wenn wir das Wort Bewußtseinsseele auf den Christus anwenden, so können wir sagen: sie wird uns ahnend zum Verständnis gebracht im Johannes-Evangelium; Gemütsseele des Christus: sie wird uns zum Verständnis gebracht durch das Lukas-Evangelium; Empfindungsseele mit all ihren Kräften des Wollens: durch das Markus-Evangelium. Dieses wird uns, wenn wir es einmal betrachten können, Aufschluß geben über die offenen und verborgenen Naturkräfte, die in unserer Welt sind, konzentriert in der einzigen Individualität des Christus; es wird uns Aufschluß geben über das Wesen aller Kräfte, die in der Welt sind.

Im Johannes-Evangelium haben wir uns in die Gedanken, im Lukas-Evangelium in die Gefühle dieser Wesenheit vertieft, und weil hierbei der Mensch nicht so tief in diese Individualität hineinzugehen braucht, sind diese Betrachtungen einfach gegenüber dem, was uns im Markus-Evangelium entgegentritt – als das System aller verborgenen Natur- und
Geisteskräfte der Welt. Das alles steht in der Akasha-Chronik.

Das alles wird sich uns widerspiegeln, wenn wir das gewaltige Dokument des Markus-Evangeliums auf uns wirken lassen. Dann werden wir ahnend verstehen, was in der einzelnen Wesenheit des Christus konzentriert ist: dasjenige, was sonst verteilt ist über die einzelnen Wesenheiten der Welt. Wir werden verstehen können, und es wird uns in einem höheren Glänze und Lichte erscheinen, was wir als die elementaren Richt- und Grundlinien der verschiedenen Wesenheiten kennengelernt haben. Wenn wir das Markus-Evangelium, das die Geheimnisse des ganzen Weltenwillens enthält, uns enthüllen, so nähern wir uns in Ehrerbietung dem Weltenmittelpunkt, dem Christus Jesus, indem wir nach und nach sein Denken, Fühlen . und Wollen erfassen.

Wenn wir Denken, Fühlen und Wollen ineinanderwirkend betrachten, so gibt das uns ungefähr ein Bild des ganzen Menschen. Aber wir können nicht umhin, auch beim einzelnen Menschen Denken, Fühlen und Wollen getrennt zu betrachten. Wenn wir alles zusammenfassen, wird unser Blick auch hier nicht mehr ausreichen, um alles überschauen zu können. Während wir uns verhältnismäßig unsere Aufgabe erleichtern dadurch, daß wir die drei Eigenschaften getrennt und jede für sich betrachten, so wird unser Bild erblassen, wenn wir diese drei Eigenschaften in der menschlichen Seele zusammenfassend betrachten. Unsertwegen tun wir das, weil unsere Kraft nicht ausreicht, alles zusammen zu betrachten, denn wenn wir die Eigenschaften zusammenfassen, so erblaßt das Bild.

Hat man die drei Evangelien, das Johannes-, Lukas- und Markus-Evangelium betrachtet und dadurch eine Ahnung bekommen von dem Denken, Fühlen und Wollen des Christus Jesus, dann kann man zusammenfassen, was diese drei Eigenschaften wiederum in eine Harmonie bringen kann. Da wird dann notwendigerweise das Bild undeutlich und blaß werden müssen, denn keine menschliche Kraft kann ausreichend das zusammenfassen, was von uns auseinandergehalten wurde. Denn im Wesen ist eine Einheit und keine Trennung vorhanden; zuletzt erst dürfen wir es in eine Einheit zusammenfassen. Dann aber wird es vor uns erblassen. Dafür wird aber zuletzt dasjenige vor uns stehen, was der Christus Jesus als Erdenmensch, als Mensch erst war.

Die Betrachtung, was der Christus Jesus als Mensch war, wie er als Mensch gewirkt hat in den dreiunddreißig Jahren seines Erdendaseins, kann entwickelt werden in Anknüpfung an das Matthäus-Evangelium. Das, was im Matthäus-Evangelium enthalten ist, gibt uns ein in sich harmonisches Menschenbild.
Wenn wir im Johannes-Evangelium geschildert haben einen dem gesamten Weltenall angehörigen kosmischen Gottesmenschen, wenn wir im Lukas-Evangelium schildern mußten ein sich hinopferndes einzelnes Liebewesen, und im Markus-Evangelium den Weltenwillen in einer einzelnen Individualität zu schildern hätten, so haben wir im Matthäus-Evangelium die wahre Gestalt des einzelnen Menschen von Palästina, jenes Menschen, der da gelebt hat dreiunddreißig Jahre, in dem eine Einheit ist von alledem, was wir durch die Betrachtung der drei andern Evangelien gewinnen können.
In Anknüpfung an das Matthäus-Evangelium tritt uns die Gestalt des Christus Jesus ganz menschlich, als der einzelne Erdenmensch entgegen, den man aber nicht verstehen kann, wenn die andern Betrachtungen nicht vorausgegangen sind. Wenn auch der einzelne Erdenmensch dann verblaßt, so ist doch in diesem blassen Bilde wiedergegeben, was durch die andern Betrachtungen gewonnen worden ist. Ein Bild von der Persönlichkeit des Christus kann erst eine Betrachtung geben, die anknüpft an das Matthäus-Evangelium.

So stellt sich jetzt die Sache dar, die wir vorher anders charakterisieren mußten, als wir an das erste Evangelium herangingen. Da wir jetzt die Betrachtung zweier Evangelien hinter uns haben, können wir sagen, wie diese Evangelien innerlich zueinander stehen, und wie wir ein Bild des Christus Jesus erst gewinnen können, wenn wir, in entsprechender Weise vorbereitet, herangehen an den Menschen, der da geworden ist auf der Erde durch den Christus Jesus.
Der Gottmensch tritt uns entgegen in den Betrachtungen, anknüpfend an das Johannes-Evangelium, und in Anknüpfung an das Lukas-Evangelium dasjenige Wesen, das in sich vereinigt die Strömungen, die da flössen von allen Seiten in dem, was sich auf der Erde entwickelt hat im Zarathustris-mus, Buddhismus, in der Lehre von Mitleid und Liebe. Alles, was
vorher da war, trat uns entgegen, als wir an die Betrachtungen herangingen im Hinblick auf das Lukas-Evangelium. Wenn das Matthäus-Evangelium betrachtet wird, dann wird uns vor allen Dingen intim und genau entgegentreten dasjenige, was herausgeboren wird aus seinem eignen Volke, aus dem althebräischen Volke: der Mensch Jesus, wie er wurzelt in seinem Volke, der Mensch Jesus, wie er so sein mußte gerade innerhalb des althebräischen Volkes. Und wir werden erkennen, warum das Blut des althebräischen Volkes in einer ganz bestimmten Weise verwendet werden mußte, um beizutragen für die Erdenmenschheit gerade dieses Blut des Christus Jesus.

Es wird uns bei der Betrachtung des Matthäus-Evangeliums das Wesen des althebräischen Altertums entgegentreten; aber nicht nur das Wesen des althebräischen Altertums, sondern die Mission dieses Volkes für die ganze Welt, die Geburt der neuen Zeit, die Geburt des Christentums aus der althebräischen Welt heraus. Und wenn man lernen kann große, bedeutsame, umfassende Ideen durch das Johannes-Evangelium, wenn man gewinnen kann ein Gefühl für die wärmste, grenzenlos warme Opferliebe durch das Lukas-Evangelium, wenn man gewinnen kann eine Erkenntnis von den Kräften aller Wesen und Reiche durch die Betrachtung des Markus-Evangeliums, so bekommt man nun eine Erkenntnis und ein Gefühl von dem, was da lebt innerhalb der Menschheit und innerhalb der menschlichen Entwickelung auf der Erde durch den Christus Jesus in Palästina. Was der Christus Jesus als Mensch war, was er als Mensch ist, alle Geheimnisse der menschlichen Geschichte und menschlichen Entwickelung sind im Matthäus-Evangelium enthalten.
Sind im Markus-Evangelium die Geheimnisse enthalten von allen Reichen und Wesenheiten der Erde und des Kosmos, der zur Erde gehört, so sind im Matthäus-Evangelium die Geheimnisse der menschlichen Geschichte zu suchen. Lernt man die Ideen der Sophia durch das Johannes-Evangelium, lernt man die Mysterien des Opfers und der Liebe durch das Lukas-Evangelium, lernt man die Kräfte der Erde und der Welt durch das Markus-Evangelium, so lernt man Menschenleben, menschliche Geschichte, Menschenschicksal kennen durch die Betrachtung im Hinblick auf das Matthäus-Evangelium.

Hätte man in den sieben Jahren unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung vier Jahre zur Verarbeitung der Richt- und Grundlinien und drei Jahre zu ihrer Vertiefung verwendet, als ein Licht, das auf die verschiedenen Gebiete des Lebens geworfen werden soll, so würde jetzt folgen können die Betrachtung des Markus-Evangeliums. Dann hätte zuletzt das ganze Gebäude gekrönt werden können durch die Betrachtung des Christus Jesus im Hinblick auf das Matthäus-Evangelium. Da aber das Menschenleben unvollkommen ist, und das nicht der Fall war, mindestens nicht bei allen, die in der geisteswissenschaftlichen Bewegung stehen, so ist es nicht möglich, sogleich, ohne Mißverständnis zu erwecken, zur Betrachtung des Markus-Evangeliums überzugehen.

Man würde die Gestalt des Christus völlig verkennen, wenn man glaubte, aus der Betrachtung des Johannes- oder Lukas-Evangeliums könnte folgen irgendein Wissen über das Wesen des Christus Jesus. Man würde wiederum glauben, daß man einseitig alles anwenden darf, was in bezug auf das Markus-Evangelium gesagt werden müßte. Und die Mißverständnisse würden noch größer sein, als sie schon gewesen sind. Daher muß mit Rücksicht darauf der andere Weg gewählt werden. Es muß jetzt folgen, so gut es möglich ist, in der nächsten Zeit eine Betrachtung im Hinblick auf das Matthäus-Evangelium. Damit wird zunächst verzichtet auf die großen Tiefen des Markus-Evangeliums, es wird aber dafür vermieden werden, daß wieder jemand glaubt, daß mit einer Eigenschaft der ganze Mensch bereits geschildert sei. Dadurch wird es möglich, Mißverständnisse zu beseitigen. Und es wird zunächst eine Betrachtung angestellt werden, soweit es möglich ist, über den Hervorgang des Christus Jesus aus dem althebräischen Volke, über dasjenige, was man nennen kann die Geburt des Christentums in Palästina.
Darüber sollen im Hinblick auf das Matthäus-Evangelium in nächster Zeit unsere Betrachtungen angestellt werden, und dadurch soll vermieden werden, daß wiederum verwechselt wird eine der Eigenschaften mit der Betrachtung der ganzen Wesenheit. Dann wird leichter das folgen können, was im Hinblick auf das Markus-Evangelium wird zu sagen sein.

DIE MISSION DES ALTHEBRÄISCHEN VOLKES
Berlin, 9. November 1909 Zweiter Vertrag

In der letzten Vortragsstunde wurde bereits auseinandergesetzt, daß wir einige Betrachtungen anstellen wollen über die Evangelien, und es wurde der Grund charakterisiert, warum wir uns jetzt einiges aus dem Matthäus-Evangelium vorhalten wollen. Es ist in gewisser Beziehung die menschlichste Seite des Christus Jesus, die uns in diesem Evangelium entgegentritt. Auf der andern Seite ist darin auch gegeben ein vollständiger Überblick über die geschichtlichen Ereignisse, welche zeigen, wie der Christus Jesus aus der Menschheit selber herauswächst. Da damit gezeigt ist, wie die größte Erscheinung der Erdenentwickelung aus der Geschichte herausgewachsen ist, so liegt es nahe zu vermuten, daß die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens uns gerade in diesem Evangelium entgegentreten können.

Ich möchte auch heute wiederum nicht unterlassen, ausdrücklich zu betonen, daß die Dinge, die bei dieser Gelegenheit gesagt werden, subtil sind, und daß man sehr leicht die geisteswissenschaftliche Bewegung schwer schädigen kann, wenn man in irgendeiner einseitigen Weise das, was diese Geheimnisse anbetrifft, vor die Welt bringt. Daher sollte mit einer jeglichen Mitteilung über diese Dinge die größt-denkbare Vorsicht verknüpft werden. Es wäre nicht einmal zuviel verlangt, wenn ein jeder sich in die Geduld finden würde, erst dann über ein Christus-Bild etwas mitzuteilen, wenn er dasselbe von den vier Seiten her charakterisiert bekommen hat, die in den vier Evangelien gegeben sind. An der Betrachtung über das Lukas-Evangelium ist schon zu ersehen, wie die beiden großen vorchristlichen Geistesströmungen, der Zarathustrismus und das, was im Buddhismus seinen vorchristlichen Abschluß erlangt, zusammengeflossen sind, um sich zu ergießen in den großen christlichen Strom des irdischen Geisteslebens.

Das Matthäus-Evangelium hat es zuerst mit einem ganz andern Thema zu tun, nämlich zu zeigen, wie jene Körperlichkeit, in der sich inkarnierte die Individualität des Zoroaster, herauswächst aus dem althebräischen Volke. Es setzt sich zur Aufgabe, zu zeigen, welchen Anteil das althebräische Volk an der gesamten Entwicklung der Menschheit hat. Es könnte leicht jemand meinen, wenn die Individualität des Zoroaster sich verkörpert hat in dem bethlehemitischen Jesus, daß dann nur die Körperlichkeit herausgeboren wäre aus dem althebräischen Volke und daß damit nichts anderes gesagt wäre, als daß Zoroaster wiedergeboren wäre in einer Leiblichkeit, die aus dem althebräischen Volke herauswuchs. Wollte man eine solche Gefühlsnuance hineinlegen, so ergäbe sich ein ganz falsches Bild von der Wahrheit.

Durch solche Betrachtungen soll uns immer klarer werden, daß eine solche Individualität, wie die des Zarathustra, die Leiblichkeit als Instrument braucht. Wenn aus den höchsten der Welten, aus der göttlichsten der göttlichen Welten irgendeine Individualität auf die Erde herabstiege und sich in einer ungeeigneten Körperlichkeit inkarnierte, so könnte sie aus einer solchen nichts anderes machen als das, wozu dieselbe das Instrument eben sein kann. Diese falsche Gefühlsnuance, von der eben gesprochen worden ist, könnte leicht mancherlei Mißverständnisse herbeiführen. In der theosophischen Bewegung hat man lange nicht verstanden, daß des Menschen Leiblichkeit der Tempel der Seele ist. Man muß berücksichtigen, was von uns schon so oft betont worden ist: daß das menschliche Ich in drei Hüllen wohnt, von denen eine jede älter ist als das Ich selber.
Dieses Ich ist ein Erdenwesen, das jüngste unter den menschlichen Gliedern. Der astralische Leib nahm auf dem alten Monde, der ätherische oder Lebensleib auf der alten Sonne seinen Anfang, hat also drei planetarische Entwicke-lungsstufen hinter sich; der physische Leib ist in seiner Art der vollkommenste Teil und hat vier planetarische Entwickelungsstufen hinter sich. Der physische Leib ist von Äon zu Äon ausgestaltet worden, so daß er heute dieses vollkommene Werkzeug ist, in dem das menschliche Ich sich entwickeln konnte, um den Menschen allmählich wieder zu den Höhen des Geistigen aufsteigen zu lassen. Wenn der physische Leib so unvollkommen wäre wie der astralische Leib und das Ich, so wäre eine menschliche Entwicklung auf Erden nicht möglich.

Nehmen Sie das in vollem Ernste, so können Sie nicht mehr eine falsche Gefühlsnuance verbinden mit der Vorstellung, daß der Zoro-aster aus dem hebräischen Volke herausgeboren worden sei. Jenes Volk mußte eben so beschaffen sein, wie es war, wenn es die Leiblichkeit liefern sollte für eine Wesenheit wie den Zarathustra. Wenn wir uns vorstellen, daß diese Wesenheit, seit jener Zeit, als sie noch Lehrer des urpersischen Volkes war, sich immer höher entwickelt hat, so müssen wir eben sagen, daß es nötig war, ihr ein Instrument zu geben aus einer Volkheit heraus von einer seiner Wesenheit angemessenen Größe. Ein für ihn taugliches Instrument mußte geschaffen werden.
Durch Saturn, Sonne, Mond und Erde hindurch haben sich die Götter bemüht, den physischen Leib des Menschen im allgemeinen auszugestalten. Daraus dürfen wir wohl den Schluß ziehen, daß die intimere Zubereitung eines Menschenleibes manches notwendig machte an geistig-göttlicher Arbeit, um den Menschenleib in der speziellen Form zur Ausbildung zu bringen, wie er dem Zarathustra damals diente.

Damit solches möglich war, mußte die ganze Geschichte des althebräischen Volkes so ablaufen, wie sie eben abgelaufen ist. Die Akasha-Chronik zeigt uns, daß das, was im Alten Testament da ist, wirklich mit den geschichtlichen Tatsachen übereinstimmt. Es mußte sozusagen im althebräischen Volke alles so eingerichtet sein, daß es zuletzt in jener einen Persönlichkeit des bethlehemitischen Jesus gipfelte. Dazu aber waren besondere Einrichtungen notwendig. Es war notwendig, daß aus der Gesamtsumme der Kultur der nachatlantischen Zeit dasjenige herausgenommen wurde, was am meisten fähig war, jene Kräfte in der Menschheit zu entwickeln, die entwickelt werden mußten, auf daß die Menschheit etwas an die Stelle des alten hellseherischen Vermögens setzen konnte.
Es war gerade das hebräische Volk dazu ausersehen, zunächst eine solche Körperlichkeit darzubieten, die bis in die feinsten Fasern des Gehirns hinein so organisiert war, daß das, was wir Erkenntnis der Welt nennen, ohne den Einfluß des alten Hellsehens zustande kam. Das sollte die Mission dieses Volkes sein. In dem Stammvater dieses Volkes, in Abraham, war auch tatsächlich eine solche Individualität auserlesen, daß dessen Leiblichkeit ein geeignetes Instrument war für das urteilende Denken.
Alles, was vorher groß und bedeutend war, stand noch unter den Nachwirkungen alten Hellsehens. Nun sollte aber eine Persönlichkeit ausersehen werden, welche das geeignetste Gehirn hatte, um sich nicht drängen und stoßen zu lassen von den hellseherischen Imaginationen und Intuitionen, sondern berufen war, die Dinge rein mit dem Verstände zu betrachten. Dazu aber bedurfte es eines besonders eingerichteten Gehirnes, und die Persönlichkeit, die dieses Gehirn hatte, mußte ausersehen werden. Diese haben wir zu sehen in Abram oder Abraham.

Und auch das stimmt mit den Beobachtungen der Akasha-Chronik überein, daß die Richtung, aus der jener Abraham herkam, von jenseits des Euphrat nach dem Westen ging, gegen Kanaan zunächst. Abraham wurde hergeholt, wie es in der Bibel heißt, aus Ur in Chaldäa. Während in der ägyptischen sowohl wie in der chaldäisch-babylonischen Kultur noch die Nachklänge des alten dämmerhaften Hellsehens da waren, wurde aus dem chaldäischen Volke ein Individuum auserlesen, welches nicht mehr darauf aufbaute, sondern auf die Beobachtungen der Erscheinungen der Außenwelt. Damit sollte jene Kultur eingeleitet werden, deren Früchte noch heute unserer ganzen westlichen Kultur und Zivilisation einverleibt sind. Jenes kombinatorische Denken, die mathematische Logik, wurde durch Abraham eingeleitet; ihn sah man bis ins Mittelalter hinein in gewissem Sinne als Vertreter der Arithmetik an. Die ganze Anlage seines Denkens war eben eine solche, die Welt nach dem Verhältnis von Maß und Zahl anzusehen.

Eine derartig beschaffene Persönlichkeit war dazu geeignet, ein lebendiges Verhältnis zu gewinnen zu derjenigen Gottheit, welche sich offenbaren sollte durch das Medium der Außenwelt. Alle andern Gottheiten außer Jahve kündigten sich im Inneren der menschlichen Seele an, und man mußte Imagination, Intuition und so weiter in seiner Seele erwecken, um etwas von ihnen zu wissen. Im alten Indien sah man hinaus, sah die Sonne aufgehen, sah die verschiedenen Reiche der Erde, die Vorgänge des Luftkreises, des Meeres und so weiter, aber all das betrachtete man als eine große Täuschung, als Maja, worin der Inder nichts von einer Göttlichkeit gefunden hätte, wenn er sie nicht durch innere Imagination gewonnen und dann hinterher mit den Erscheinungen der Außenwelt in Beziehung gebracht hätte.
Auch bei Zarathustra haben wir es uns so zu denken, daß er nicht hätte hinweisen können auf das große Sonnenwesen, wenn ihm nicht im Inneren aufgegangen wäre das große Wesen des Ahura Mazdao. Besonders aber sehen wir dies an den ägyptischen Gottheiten, die ganz aus inneren Seelenerlebnissen herausgeholt und nachher mit äußeren Dingen in Beziehung gebracht werden.

Alles, was an vorhebräischen Gottheiten da war, muß von diesem Gesichtspunkte aus aufgefaßt werden. Jahve jedoch ist diejenige Gottheit, welche einen von außen her anschaut, von außen an den Menschen herankommt, sich in Wind und Wetter offenbart. Wenn der Mensch alles, was in der Außenwelt an Zahl, Maß und Gewicht vorhanden ist, durchdringt, nähert er sich dem Jahvegott. In früherer Zeit war der Gang ein entgegengesetzter. Brahma wurde zuerst im Inneren der Seele erkannt und von da wird dann erst hinausgegangen. Den Jahve jedoch erkennt man zuerst draußen und dann erst kann er auch im eigenen Inneren nachgewiesen werden. Das ist die geistige Seite dessen, was genannt wird: der Bund Jahves mit Abraham. Dieser Mann war eben eine Persönlichkeit, die den Jahve fassen und verstehen konnte. Die Leiblichkeit des Abraham war so, daß dieser den Jahve oder Jehova als den die Welterscheinungen draußen durchlebenden und durchwebenden Gott verstehen konnte.

Nun handelt es sich darum, aus dieser Eigentümlichkeit jenes einen Mannes, des Abraham, die Mission eines ganzen Volkes zu folgern. Es war notwendig, daß Abrahams Geisteskonstitution sich auch auf andere übertrug. Dieselbe ist aber an die physischen Werkzeuge gebunden; denn alles, was nach außen gebracht werden soll, ist gebunden an eine ganz bestimmte Organisation des physischen Leibes. Die alten auf der Grundlage des dämmerhaften Hellsehens aufgebauten Religionen brauchten nicht so viel Gewicht darauf zu legen, ob die einzelnen Teile des Gehirns so oder so geformt waren; das Verständnis des Jehova aber war streng gebunden an die Konstitution des physischen Gehirnes. Nur auf dem Wege der physischen Vererbung innerhalb eines durch Blutsverwandtschaft zusammenhängenden Volkes konnte eine Übertragung solcher Eigenschaften geschehen.

Da mußte etwas ganz Besonderes geschehen. Abraham mußte eine Nachkommenschaft haben, die weiterbaute jene eigenartige Konstitution des physischen Leibes, die bis dahin die Götter aufgebaut hatten und die in Abraham in höchster Blüte vorhanden war. Es mußte nun als selbständig von den Menschen der Aufbau des physischen Leibes in die Hand genommen werden, damit das weitergeführt wurde, was bislang die Götter getan haben, und zwar durch viele Generationen hindurch mußte dies geschehen. Es mußte ein den Jahve verstehendes Gehirn sich durch physische Vererbung erhalten. Der Bund des Jahve mit Abraham sollte auch auf die Nachkommen übergehen. Dazu aber gehörte eine ungeheure Hingebung der Individualität des Abraham an den Jahve; denn man erlangt die Möglichkeit, eine gewisse Konstitution mehr und mehr auszubilden, nur dann, wenn man dieselbe in dem Sinne gebraucht, wie sie geschaffen ist. Wenn man die Hand zum Beispiel besonders geschickt machen will zu einem gewissen Zwecke, so kann das nur geschehen, indem man sie in dem Sinne weiter ausbildet, in dem sie geschaffen ist. Wollte man die physischen Eigenschaften des Gehirns als eines Jahve-Begrei-fers ausbilden, so mußte diese Hingabe und dieses Begreifen des Jahve bei Abraham einen denkbar höchsten Grad erreichen.

Und das war auch tatsächlich der Fall. In der Bibel wird uns erzählt, wie dies geschah. Eine Hingabe wird dann am größten, wenn man hinopfert, was man selber für die Zukunft werden soll. Abraham soll dem Jahve seinen Sohn Isaak hinopfern. Er würde damit das ganze hebräische Volk hinopfern und alles, was er selber war und was in die Welt durch ihn getragen werden sollte. Abraham war der erste Jehova-Versteher. Wollte er sich diesem ganz ergeben zeigen, so mußte er sich ihm ganz hingeben. Durch Hingabe seines einzigen Sprosses verzichtete er auf jede Fortpflanzung seines Stammes in der Welt.
Und er hat es so weit gebracht in der Hingabe, daß er den Isaak hingeopfert hat; sein Wille war es. Und er bekommt den Isaak wieder zurück. Was heißt das? Das heißt etwas ganz Ungeheures. Er bekommt ihn von Jahve selber zurück, das heißt, Abraham geht so weit, die Mission, die er vermöge der Individualität seines Selbstes hat, nicht durch sich auf die Nachwelt weiter zu übertragen, sondern sie als Gabe des Jahve oder Jehova in seinem eigenen Sohn zu empfangen. Wer sich das überlegt, wird bemerken, daß hierin eine weltgeschichtliche Tatsache liegt, die in die Geheimnisse des geschichtlichen Werdens der Menschheit in unbegrenztem Maße hineinleuchtet.

Nun sehen wir zu, wie die Ereignisse weitergehen. Durch jene Hingabe des Abraham an den Jahve wird es möglich, daß wirklich das sich fortsetzt, was bisher die Götter geschaffen haben. Das, was die physische Menschheit ist, wurde aus dem Weltenall herausgeboren. Wir wissen ja, wie das, was die menschliche Leiblichkeit auf der Erde ist, zusammenhängt nach Zahl, Maß und Gewicht mit all den Gesetzen, welche die Sternenwelten beherrschen.
Der Mensch ist aus den Sternenwelten herausgeboren; er trägt in sich die Gesetze der Sternenwelten. Es mußten die Gesetze der Sternenwelten sozusagen hineingeschrieben werden in das durch die Generationen des althebräischen Volkes von Abraham aus herunterfließende Blut. In dem althebräischen Volke mußte alles so geordnet sein, daß der Strom von Gesetzmäßigkeit weiterfloß, der aus dem Weltenall heraus nach Maßgabe von Zahl, Maß und Gewicht den menschlichen physischen Leib geordnet hat im Sinne der Sternenordnung. Das finden wir wieder in einem Ausspruch, der in der Bibel so ungeheuer entstellt ist. So heißt es dort, daß Gott die Israeliten so zahlreich machen will wie die Sterne am Himmel. Gemeint ist aber, daß er in der Art, wie sie sich fortpflanzen und verbreiten auf der Erde, die Gesetze, die Zahlenverhältnisse walten lassen will, wie sie in den Sternen am Himmel herrschen. Nach der Zahlenharmonie der Sterne soll das hebräische Volk in seiner Fortpflanzung geordnet sein.

Wir sehen, wie das geschieht. Isaak hatte zwei Söhne, Jakob und Esau. Wir sehen auch, wie alles das, was da durch das Blut der Generationen hinunterrinnt – während das der Esau-Richtung Angehörige ausgeschaltet und die geeignete Richtung herausgeholt wird -, wie sich das weiter gestaltet. Jakob hatte zwölf Söhne entsprechend den zwölf Teilen des Tierkreises, durch welche die Sonne am Himmel zieht, um die Ordnung der Sterne zu bewirken. Das ist die innere Gesetzmäßigkeit. Es erscheint uns tatsächlich im Leben und in der Fortpflanzungsart des hebräischen Volkes ein Abbild von Zahl und Maß, wie sie am Himmel herrschen. Abraham war bereit, seinen Sohn Isaak zu opfern. Damit hat er seine ganze Mission von Jahve wieder entgegengenommen. An Stelle des Isaak wurde geopfert ein Widder oder Lamm. Was heißt das ?

Hier verbirgt sich etwas ungeheuer Tiefes. Jene menschliche Leiblichkeit, die sich fortpflanzen sollte und an welche jene Fähigkeiten gebunden waren, welche das Begreifen der Welt nach Maß und Zahl, nach mathematischer Logik bedingen, sollte erhalten bleiben und als Geschenk des Jahve entgegengenommen werden. Um sie aber un-vermischt durch irgend etwas anderes zu haben, war es notwendig, daß verzichtet wurde auf ein jegliches dämmerhaftes altes Hellsehen, daß verzichtet wurde auf allerlei Imaginationen, Intuitionen, auf jedes Einfließen solcher Offenbarungen, wie sie in allen übrigen Religionen der alten Zeiten bis zur chaldäischen und ägyptischen herauf vorhanden sind. Auf jede Gabe aus der geistigen Welt mußte verzichtet werden. Die letzte Gabe aus der geistigen Welt, die noch bleibt, wenn alle früheren verdunkelt sind, wird in der mystischen Symbolik durch den Widder bezeichnet.
Die beiden Widderhörner bedeuten: das Opfer der zweiblättrigen Lotosblume. Die letzte hellseherische Gabe wird hingeopfert, nachdem die früheren schon früher abgelegt worden sind. Um die Leiblichkeit in dieser Organisation in Isaak zu erhalten, wird die letzte hellseherische Fähigkeit, die Widdergabe, die zweiblättrige Lotosblume hier hingeopfert.

Nun lebt das Volk in seiner Mission so weiter, daß gerade diese Abraham-Fähigkeiten sich fortpflanzen von Generation zu Generation. In dem Augenblicke, wo atavistisch wieder auftritt diese Hellsehergabe, wo wieder einer hineinsieht in die geistigen Welten, macht sich eine solche Reaktion geltend, daß diese Persönlichkeit zunächst ausgeschieden wird, daß sie nicht geduldet wird innerhalb der Volksgemeinschaft. Die Antipathie gegen diese Gabe des Widders macht
sich geltend in Feindschaft. Das zeigt sich bei Joseph. In seinen Träumen hatte er prophetische Erleuchtungen aus der geistigen Welt. Er wird ganz selbstverständlich herausgeschoben aus dem Volke, weil das, was er hatte, aus der eigentlichen Mission des hebräischen Volkes herausfiel. Von den Brüdern wird er verstoßen, weil in ihm ein Erbstück alter Hellsehergabe wieder auftritt. Deshalb mußte Joseph nach Ägypten gehen, weil er herausfiel aus der Mission seines Volkes.

So bedeutsam sind diese Dinge, die uns da erzählt werden! Nun sehen wir weiter, wie sozusagen gerade durch jene Persönlichkeit, durch welche in einem alten Erbstück erhalten ist das, worauf das alte hebräische Volk nur zurückschauen konnte als auf etwas, was vor Abraham war, wie durch diese Persönlichkeit, durch den Joseph, wiederum das herbeigeführt wird, was zur Entwickelung des althebräischen Volkes so notwendig war zur Erfüllung seiner Mission. Es war in gewisser Weise für das althebräische Volk das Tor geschlossen gegenüber jener Welt, die dazu geführt hatte, durch das alte dämmerhafte Hellsehen dem Indertum, Persertum seine Religion zu geben. Da war das Tor geschlossen. Man sah hinaus in die Welt, ordnete nach Maß und Zahl, und als die Einheit, in die man alles ordnete, erblickte man Jahve oder Jehova. Das einzige, was man noch wußte, war, daß dies, was man draußen erblickte, was in Jahve als Schöpfer der Welterscheinungen einem entgegentrat, eines und dasselbe war mit der menschlichen Ichheit. Aber darüber stiegen keine Imaginationen, keine eigenen inneren Erlebnisse innerhalb dieser Volksgemeinschaften auf. In jener Zeit, sage ich ausdrücklich, gab es darüber keine eigenen Erlebnisse. Deshalb mußte man es auch von außen lernen, das heißt, man mußte es bei einem Volke lernen, das diese Erlebnisse noch hatte.

So bildet die Persönlichkeit des Joseph das Bindeglied zwischen dem althebräischen Volke und den Ägyptern, also dem Volke, bei dem man das lernen konnte, was das althebräische Volk nicht mehr als Erlebnis hatte. Das, was man heute selber zusammenbringen kann, wenn man die eigenen inneren Erlebnisse gehabt hat – die Erkenntnisse, Erlebnisse der Außenwelt und die der inneren Imagination -, das mußte man zusammenbringen dadurch, daß man sich hinbegab
zu einem Volke, das diese Erlebnisse noch in hohem Maße hatte, zu dem ägyptischen Volke.
Solche innere Fähigkeiten mußte man in Harmonie bringen mit dem, was man selber durch mathematische Logik gewonnen hatte. Aber hinfuhren konnte zu diesem ägyptischen Volke nur eine solche Persönlichkeit, die selber etwas hatte von sol-eher Imagination. Joseph war das richtige Verbindungsglied, weil er selber noch solche Fähigkeiten besaß. Denn er konnte den Ägyptern dienen, weil er zweierlei vermochte: Erstens hatte er die alte Hellsehergabe aus der Zeit vor Abraham. Er konnte sich hineinfinden in das, was das alte ägyptische Volk durch Hellsehergabe erlangte. Aber was dieses Volk nicht hatte, war die mathematische Logik, das heißt, es konnte nicht anwenden im physischen Leben das, was es als Imagination besaß. Der Pharao war darum unfähig, die Dinge richtig anzuordnen, als etwas eintrat, was bisher nicht immer dagewesen war. Imaginationen konnte man haben, aber, wenn eine gewisse Unordnung eingetreten war, in kluger Weise maß- und zahlvoll nachzudenken und die Verhältnisse zu ordnen, dazu brauchte es eine andere Fähigkeit, welche die Ägypter nicht besaßen, und diese hatte Joseph. Daher war er fähig, am ägyptischen Hofe die richtigen Ratschläge zu geben. So war er das richtige Verbindungsglied zwischen dem hebräischen Volke und den Ägyptern. Dadurch konnte er es herbeiführen, daß die Jahve- oder Jehova-Lehre, die bis dahin wie eine Zusammenfassung der äußeren Wirklichkeit, wie ein mathematisches Weltbild war, Farbe und Inhalt bekam von der inneren Imagination, die man in Ägypten hatte.

Diesen Zusammenhang und Zusammenklang zwischen altägyptischen Erlebnissen und den Erkenntnissen des Weltzusammenhangs hat Moses gebracht. Als das gemacht war, konnte das Volk wieder zurückgeführt werden, um das in Ägypten Erfahrene, nicht Erlebte, zu verarbeiten nach seiner Art. Denn es handelte sich ja gerade darum, daß diese Gabe unvermischt von andern Völkern erhalten blieb, daß unverfälscht blieb die Blutseigentümlichkeit. Es mußte aber herübergerettet werden das, was die alten Völker hatten gewinnen können. So ist die Erbschaft von alten Zeiten her das, was an Weisheitsgütern im ägyptischen Volke war, durch Moses einverleibt worden dem alt-hebräischen Volke mit seinen mathematisch-logischen Fähigkeiten. Dann aber mußte das Volk wieder herausgerissen werden, denn es sollte ja vererben, was als neue Fähigkeit durch das abrahamitische Volk allein möglich war.

Nun lebte dieses Volk weiter. Dadurch, daß es die Vorbedingungen immer mehr verfeinerte und daß das Blut dieses Volkes sich immer mehr richtete nach diesen Vorbedingungen, daß es sich so ausbildete, wie es sich in der Generationenreihe ausgebildet hat, dadurch war es möglich, in einem bestimmten Zeitpunkte aus dem Blute dieses Volkes die Leiblichkeit des Jesuskindes hervorgehen zu lassen, in die einziehen konnte die Persönlichkeit des Zarathustra oder Zoroaster. Dazu mußte dieses Volk stark und mächtig gemacht werden.

Wenn wir im Sinne des Matthäus-Evangeliums weiter die Zeit der Richter und Könige und die verschiedenen Schicksale des althebräischen Volkes verfolgen, so werden wir sehen, wie auch jene Verhältnisse, die uns dieses Volk zeigen so, daß es oftmals abirrt, gerade notwendig waren, um zustande zu bringen, was zustande gekommen ist. Insbesondere war es auch notwendig, daß das Volk das Unglück hatte, das sich ausdrückt in dem Wegführen in die babylonische Gefangenschaft. Wir werden sehen, wie die Volkseigentümlichkeit sich ausgebildet hat, und wie hier notwendig war der Zusammenstoß mit der andern Seite der alten Tradition, die in Babylon vorhanden war, als das Volk reif war, mit dem wieder zusammengeführt zu werden, was es verlassen hatte. Das ist das eine.
Das andere ist das, daß gerade in jener Zeit, in welcher das hebräische Volk mit dem babylonischen zusammengeführt wurde, ein großer, gewaltiger Lehrer des Ostens dort lehrte, und daß einige der Besten des hebräischen Volkes noch unter dem Lichte dieses großen Lehrers stehen konnten. Das ist die Zeit, in der Zarathustra als Nazarathos oder Zaratos dort lehrte, in jenen Gegenden, in welche die Juden geführt worden sind. Einige der besten Propheten standen noch unter seinem Einfluß. Da konnte er noch so viel machen an diesem Volke, als man machen muß, wenn das Blut schon eine gewisse Wirkung getan hat, und dann gewisse Einflüsse von außen hinzutreten müssen.

Es ist fast so, daß man nicht sehr weit fehlgeht, wenn man diese ganze Entwickelung mit der Entwickelung des einzelnen, allmählich heranwachsenden Menschen vergleicht. Da haben wir zunächst das Kind, das geboren wird. Es wächst heran bis zum siebenten Jahre und steht in der leiblichen Pflege der Eltern. Da sind es vorzugsweise die Einflüsse des physischen Planes, die einwirken müssen. Dann beginnt die Entwickelung, die dadurch einsetzt, daß der Ätherleib erst in richtiger Weise geboren wird. Die Entwickelung basiert darauf, daß das Gedächtnis ausgebildet wird, daß also das, was im Ätherleib sich heranentwickeln kann, in der richtigen Weise sich erkraftet. In der dritten Periode beginnt das, was man nennen kann: der Mensch tritt mit seinem astralischen Leibe jetzt in ein Verhältnis zur Außenwelt; da muß er aufnehmen das, was man nennen kann Urteilsfähigkeit.

In gewisser Weise machte das althebräische Volk diesen Weg in ganz eigenartiger Weise durch. Es macht zuerst die erste Periode durch, von Abraham bis zur Zeit der ersten Könige. Es ist dies zu vergleichen mit der ersten Periode des einzelnen Lebens bis zum siebenten Jahre. Hier werden alle Dinge getan, die imstande sind, die Bluteigentümlichkeiten zu befestigen. Alles, was da erzählt wird, die Wanderung Abrahams, die Ausbildung der zwölf Stämme, die Eingliederung der mosaischen Gesetzgebung, die Fährlichkeiten in der Wüste, ist zu vergleichen mit dem, was in den ersten sieben Lebensjahren auf den Menschen vom physischen Plane her einfließt. Dann kommt die zweite Periode: die innere Verfestigung, die Königsherrschaft bis zur babylonischen Gefangenschaft. Dann kommt der Einfluß des Chaldäertums, des orientalischen Magiertums auf das hebräische Volk. Und der Leiter, der schon damals, 550 bis 600 vor unserer Zeitrechnung, einfließen ließ in das hebräische Volk diesen orientalischen Einfluß, war schon damals die Individualität des Zara-thustra. Und so hat er schon damals vorgearbeitet, um eine geeignete Leiblichkeit zu finden. So entwickeln sich in den Generationen herunter, von Abraham an, immer mehr die Möglichkeit und die Bedingungen, daß herausgeboren werden konnte die geeignete Leiblichkeit, die dann die Wiederverkörperung des Zarathustra sein konnte.

Das Matthäus-Evangelium stellt insbesondere diese Entwickelung ganz wunderbar getreu dar, indem es eine Dreigliederung eintreten läßt. Wir haben drei mal vierzehn Glieder: von Abraham bis David vierzehn Glieder, von David bis zur babylonischen Gefangenschaft vierzehn Glieder, von der babylonischen Gefangenschaft bis zum Christus Jesus wieder vierzehn Glieder.
Das gibt drei mal vierzehn oder zweiundvierzig Glieder, gleichsam zeigend, daß in dieser Leiblichkeit des Jesus der Extrakt da ist von alledem, was von Abraham herunter durch die ganzen Schicksale des althebräischen Volkes zubereitet ist. Und jetzt soll auftreten ein Menschenwesen, welches alle die Eigenschaften, die da sozusagen durch die Generationenfolge zusammengestellt sind, seelisch im seelischen „Wirken zum Ausdruck bringt, sie in seiner ganzen Persönlichkeit, in einem Menschen zusammenfaßt. Die ganze hebräische Entwickelung seit Abraham sollte in einem Menschen zusammengefaßt werden. Und das sollte gipfeln in dem Jesus des Matthäus-Evangeliums. Wie konnte das geschehen? Das ist nur möglich, wenn wiederholt wird der ganze Entwickelungs-gang in seelischer Art. Zarathustra geht ungefähr aus von der Stelle in Ur in Chaldäa, geistig aus den Mysterien heraus, woher Abraham gekommen ist. Der Goldstern erscheint dort zuerst, geht von da aus, die dortigen Magier folgen ihm. Geistig geschieht dasselbe^ was physisch durch Abraham geschehen ist.
Den Weg, den Abraham gemacht hat, den geht geistig der Stern, dem die Magier folgen: das ist der sich inkarnierende Zarathustra selber, der da den Weg geht, den Abraham gegangen ist, und er senkt sich nieder über der Geburtsstätte. Das ist der Moment, wo sich die Individualität des Zarathustra inkarniert in dem bethlehemitischen Jesuskinde. Die Magier wissen das. Sie folgen dem Stern, das heißt ihrem großen Lehrer Zarathustra, der sich da inkarniert.

Es handelt sich nun darum, daß wirklich der Weg weitergemacht wird, daß wirklich in der Persönlichkeit des einen Jesus darinnen ist der gesamte Extrakt der ganzen hebräischen Entwickelung. Wir sehen zunächst, daß im Geiste wiederholt wird ein Opfer, das Isaak-Opfer; wenigstens im Geiste wird es wiederholt durch das Opfer der drei Magier aus dem Morgenlande: Gold, Weihrauch und Myrrhen wurden von ihnen dargebracht. Zu gleicher Zeit sehen wir, daß wiederum etwas eintritt, das erinnert an frühere Ereignisse des althebräischen Volkes. Mit der ganzen Geburt dieses Jesusknaben ist etwas verbunden, das ein Abbild ist der Schicksale des althebräischen Volkes. Da war ein Joseph, der eine Erbschaft hatte im Träumen, und das Verbindungsglied darstellt zwischen dem hebräischen und dem ägyptischen Volke; jetzt ist es wieder ein Joseph, der da Träume hat, und dem im Traume gewiesen wird nicht nur, daß Jesus geboren wird, sondern daß er mit dem Jesus nach Ägypten ziehen solle.

Und nun geht der Weg des Zarathustra in dem Leibe des Jesusknaben weiter. Wie er verfolgt hat den Weg, den auf dem physischen Plane Abraham genommen hat von Ur in Chaldäa bis Kanaan, so geht er jetzt den Weg weiter nach Ägypten – und das Jesuskind wird wieder zurückgeführt aus Ägypten, wie das hebräische Volk zurückgeführt worden ist. Da haben wir beim Auftreten des bethlehemiti-schen Jesus, den man erst später den Nazarener genannt hat, eine Wiederholung der ganzen Schicksale des althebräischen Volkes bis zur Rückkehr aus Ägypten in das gelobte Land Palästina. Das, was sich da abgespielt hat durch lange, lange Jahrhunderte als äußere Geschichte des hebräischen Volkes, wiederholt sich jetzt in dem Schicksale jener Menschenwesenheit, die den Zarathustra in dem Leibe des bethlehemitischen Jesus darstellt. Dies ist im Sinne des Matthäus-Evangeliums, im Großen gedacht, das Geheimnis menschlicher Geschichte überhaupt. Man versteht menschliche Geschichte nicht, wenn man nicht die einzelnen großen leitenden Individualitäten, die eine besondere Mission haben, so versteht, daß sich in ihrem einzelnen Schicksale die ganze Entwicklung durch Jahrhunderte hindurch wiederholt; daß sie aufnehmen in einer Inkarnation einen Extrakt dessen, was in der Geschichte durch Jahrhunderte geschaffen worden ist.

Der Christus Jesus mußte ja noch viel mehr aufnehmen, aber die Leiblichkeit mußte zunächst besonders zubereitet werden, und das konnte nur durch die geschilderten Einrichtungen geschehen.

Wie steht es mit dem Zeitpunkt, in dem gerade jene kurze Rekapitulation der ganzen Geschichte des hebräischen Volkes in der Persönlichkeit des Jesus stattfinden sollte? Was ist das für ein Zeitpunkt in der Geschichte? Dazu nehme man folgende Entwickelungstatsachen zusammen, die ich nun seit Jahren in Ihrer Vorstellungswelt vorzubereiten versucht habe. Nehmen Sie das zusammen:
Die Menschheit ging aus von einer uralten Entwickelung, in welcher alles das, was die Menschen zusammenband in Liebe, gebunden war an die Blutsbande. Das liebte sich, was durch Blutsbande verbunden war, und man heiratete nur in engen Blutsverbänden. Eine andere Liebe gab es in den alten Zeiten nicht. Deshalb war die Liebe gebunden an die Blutsverwandtschaft. Das wird genannt Nahehe; von der Nahehe ging die Menschheit aus. Immer mehr sind dann diese einzelnen Verbände in den verschiedensten Gegenden der Erde durcheinandergeworfen worden. Wir können bei allen Völkern verfolgen, wie es als besonderes Ereignis angesehen wird, wenn Männer und Frauen von einem in den andern Stamm hinein heiraten, wenn der Übergang eintritt zur Fernehe.

In allen Mythen und Sagen, zum Beispiel im Gudrun-Liede, wird das als besonderes Ereignis charakterisiert. Das machte immer einen besonderen Eindruck. Während dieser Entwickelung der Menschheit sind zwei Strömungen tätig. In diesem Zusammenführen durch Blutsbande wirkte immer schon das göttlichgeistige Prinzip, das die Menschheit zusammenführen soll, das aus der ganzen Menschheit Eines machen soll. Ihm wirkte entgegen das luzi-ferische Prinzip, das jeden Menschen auf sich selbst stellen will, das den einzelnen Menschen so mächtig und groß machen will, als es möglich ist. Beide Prinzipien müssen da sein in der Menschennatur, beide Kräfte müssen in der Menschenentwickelung wirken.

Nun waren diese beiden Mächte am Werke im Verlaufe des Fortschritts der Menschheitsentwickelung: die göttlich-geistigen Mächte und die auf dem Monde zurückgebliebenen luziferischen Mächte, die den Menschen abhalten wollten, sich zu verlieren, ihn vielmehr ganz selbständig machen wollten. Diese beiden Mächte waren in der Menschheitsentwickelung immer am Werke. Dadurch wurde das Ich des Menschen, das ja ein Erdenprodukt ist, immer hin und her gerissen. Auf der einen Seite wurde es hingelenkt zur Menschenliebe, auf der andern Seite zur inneren Selbständigkeit. Nun, zu einer bestimmten Zeit trat eine Art von Krisis ein in bezug auf das Zusammenwirken dieser beiden Mächte. Diese Krisis, diese Entscheidung in der Menschheit war da, als durch die Taten des Römischen Reiches für einen großen Kreis der Erde die Völker ganz durcheinandergewürfelt waren.
Es war das in der Tat ein Entscheidungsmoment in der Menschheitsentwickelung, der Entscheidungsmoment, wo sich klar herausstellen sollte, was werden sollte aus der unentschiedenen Frage von Nahehe und Fernehe. Die Menschen standen vor der Gefahr, entweder ihr Ich zu verlieren durch Verbleiben in den einzelnen Stämmen oder allen Zusammenhang mit der Menschheit zu verlieren und bloß einzelne, selbständige, egoistische Individuen zu werden. Dieser Zeitpunkt war also da.

Was mußte in diesem Zeitpunkte geschehen? Etwas ganz Bestimmtes. Das menschliche Ich mußte dazu reif werden, das, was man erst Selbständigkeit, Freiheit nennen kann, in sich zu entwickeln, und aus sich heraus frei die seelische Liebe zu entfalten, die nicht mehr an die Blutsbande gebunden war. Das Ich stand vor dem Entscheidungspunkt. Es mußte völlig entfesselt, seiner selbst vollständig bewußt werden. So stand mit Ausnahme der orientalischen Völker die ganze Menschheit der alten Welt vor einer neuen Geburt des Ich, vor einer solchen Geburt des Ich, durch welche dieses Ich zu der aus dem Ich selber herausgeborenen Liebe kommen sollte.
Das Ich sollte aus Freiheit heraus die Liebe, und aus der Liebe heraus die Freiheit entwickeln. Und im Grunde genommen ist erst ein solches Wesen ganz Mensch. Der erst ist ein wahrer Mensch, der ein solches Ich entwickelt. Denn der, welcher nur liebt, weil Blutsbande da sind, der wird gestoßen zur Liebe und drückt nur das auf einer höheren Stufe aus, was auf einer niedrigen Stufe auch im Tierreiche vorhanden ist. In dem Momente erst, den wir eben beschrieben haben, ist die volle Menschwerdung dagewesen. In diesem Moment sollte über die Erde hingehen jener Einfluß, der den Menschen zum Menschen machte.

Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen unzählige Male schon gesagt habe: daß der Mensch seiner Wesenheit nach aus drei Gliedern besteht, aus dem physischen Leib, den er hat in Gemeinschaft mit den Mineralien, aus dem ätherischen Leib, den er mit den Pflanzen gemeinsam hat, und aus dem astralischen Leib, in dem im Grunde genommen auch die Liebe bisher gesessen hat, den er gemeinsam hat mit den Tieren. Durch sein voll entwickeltes Ich ist der Mensch die
Krone der Erdenschöpfung.
Alle andern Erdenwesen haben Namen, die man ihnen von außen geben kann, sie sind Objekte. Das Ich hat einen Namen, den es nur sich selber geben kann. In dem Ich spricht die Gottheit, in dem Ich sprechen nicht mehr irdische Verhältnisse, in dem Ich spricht das Reich des Geistes. Der Geist aus den Himmeln spricht, wenn dieses Ich vollständig zu sich selber gekommen ist. Man könnte sagen, bisher hat es gegeben drei Reiche: das Mineral-, Pflanzen- und das Tierreich, und ein Reich, das sich zwar heraushob aus diesen, das es aber noch nicht zur Vollkommenheit gebracht hat, das noch nicht seine ganze überirdische Wesenheit in sich hineinbekommen hat. Dieses Reich, welches darin besteht, daß in eine Ich-heit das, was sonst nirgends auf Erden zu finden ist, die geistige Welt, die Reiche der Himmel hineingenommen werden, dieses Reich nannte man nach dem Sprachgebrauch der Bibel das Reich oder die Reiche der Himmel; in der Bibel wird es gewöhnlich übersetzt «Reich Gottes».

Und das Reich der Himmel ist nichts anderes als eine Umschreibung des Ausdrucks «Menschenreich». Wenn wir sagen: mineralisches, pflanzliches, tierisches Reich, so können wir im Sinne der Bibel als viertes Reich anführen: das Reich der Himmel. Das Menschenreich, so können wir im Sinne der Bibel sagen, ist das Reich der Himmel, so daß der, der dazumal im Mysteriensinne hineinschaute in den ganzen Gang der Menschheitsentwickelung, folgendes sagen konnte: Schaut zurück in vergangene Zeiten; da wurde die Menschheit zur Menschheit geführt, da war noch nicht das Reich der Himmel auf Erden. Jetzt ist der Zeitpunkt da, wo das Reich der Himmel auf Erden kommt. –
Dies hat der Vorläufer des Christus Jesus und der Christus Jesus selbst gesagt: «Das Reich der Himmel ist nahe herbeigekommen», und dadurch haben sie ihre Zeit in ihrem tiefsten Wesen charakterisiert. In diese Zeit mußte aber gerade die Geburt des Christus Jesus fallen. Er sollte jene Kräfte der Menschheit bringen, durch welche das Ich jene Eigenschaften entwickeln konnte. So ist die ganze Menschheitsentwickelung in zwei Teile geteilt: in einen vorchristlichen, in dem das Reich der Himmel noch nicht auf der Erde war, und in einen Teil, in dem das Reich der Himmel auf Erden war, das Menschenreich in seiner höchsten Bedeutung. Das althebräische Volk war ausersehen, die leibliche Körperlichkeit, die körperlichen Hüllen zu geben, die gewachsen waren als eine Wesenheit, um den Träger dieses Reiches der Himmel aufzunehmen.

Das sind jene Geheimnisse, die sich ergeben, wenn man im tieferen Sinne anknüpfend an das Matthäus-Evangelium geschichtlich die Sachen ins Auge faßt. So daß wir zu den beiden charakterisierten Strömungen, zu den beiden Beiträgen zum Christentum, die wir kennengelernt haben, zum Zarathustrismus und zum Buddhismus, hinzufügen noch als dritte Strömung die althebräische Strömung, den Beitrag des althebräischen Volkes. Wir könnten jetzt das Folgende sagen: Da waren Führer, wie der Buddha und der Zarathustra.
Diese wollten die Opfer ihrer religiösen Strömungen darbringen. Und da mußte ein Tempel auferbaut werden. Der Tempel konnte nur auferbaut werden durch das althebräische Volk. Dieses Volk baute den Tempel der Leiblichkeit des Jesus auf. In diesen Tempel konnten diese beiden ersten Strömungen einziehen. Da opferte zunächst der Zarathustra, indem er sich in diesen Leib verkörperte; da opferte später der Buddha, indem er in den andern Jesus seinen Nirmanakaya einfließen ließ. So fließen diese beiden Strömungen zusammen.

Um Ihnen doch etwas zu geben, was in gewisser Beziehung abgeschlossene Gedanken sind, habe ich Ihnen heute nur ganz flüchtig abstrakte Skizzen geben können von diesen tiefen Geheimnissen. Aber um abgeschlossene Gedanken einmal zu geben, habe ich heute im allgemeinen schematisch charakterisiert. Wir werden das später fortsetzen, um ein Bild zu bekommen von der Mission des althebräischen Volkes und von dem ganz eigenartigen Herauswachsen des Christus Jesus aus diesem Volke. Da wird sich uns das Einzigartige ergeben, wie aus der Geschichte, aus dem zeitlichen Verlauf der Ent-wickelung, eine Wesenheit herauswächst von einer ewigen Geltung, von einer Geltung von unvergänglicher Dauer. So wird sich allmählich zeigen, wie sich aus einer vergänglichen Welt herausentwickeln konnte dasjenige, was einer Ewigkeit standhalten wird.

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…aus dem gleichen Vortragszyklus:
Christus Jesus in Anknüpfung an alle vier Evangelien. Dann erst haben Sie, was an gesamten Geheimnissen über ihn zu sagen ist… Rudolf Steiner
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„Wir wollen einen einfachen, schlichten Jesus von Nazareth, und ihr gebt uns drei Jesusse! — Der «schlichte Mann von Nazareth» ist ein Lieblingsobjekt gerade aufgeklärtester Theologen geworden“. Rudolf Steiner
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Die Widersacher – Luzifer, Ahriman, Sorat, Asuras. Kurztexte von Rudolf Steiner
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