Das abstrakte Denken, das wir heute haben, ist der tote Überrest dessen, was wir im vorirdischen Dasein im lebendigen Denken hatten… Rudolf Steiner

„Heute ist der Mensch der Ansicht, daß die Gedanken etwas sind, was er mit seinem Gehirn erzeugt…
Das abstrakte Denken, das wir heute haben, ist der tote Überrest dessen, was wir im vorirdischen Dasein im lebendigen Denken hatten…
So, wie dieses Denken, das zur Abstraktheit hinneigt, heute bei uns ist, haben wir es erst seit dem 15. Jahrhundert entwickelt. Natürlich entwickelte es sich bei den einzelnen Rassen und Volksstämmen in verschiedener Weise, aber im Durchschnitt ist es für die zivilisierte Menschheit so gewesen, daß sie sich zu diesem toten Denken im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts entwickelt hat, daß dieses Denken immer mehr tot wurde und dann einen gewissen Kulminationspunkt dieses Totseins gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreichte.
Stellen Sie sich nur einmal richtig vor, Sie würden auch heute in diesem lebendigen Denken sein, Sie würden ein solches Hellsehen, wie es eben in älteren Zeiten die Menschenseele hatte, erleben können; Sie würden Imaginationen erleben können, aber diese Imaginationen würden so stark auf Sie wirken, daß Sie sich nur vorkommen würden als Umhüllung göttlich-geistiger Kräfte: Sie würden niemals zum Bewußtsein der Freiheit kommen…“

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Etappen des Erwachens der menschlichen Seele
Prag, 28. April 1923:

Die Seelenverfassung, das ganze Leben der menschlichen Seele nehmen wir als Menschen zu sehr bloß in derjenigen Art, wie wir das als Menschen der Gegenwart, des 19., 20. Jahrhunderts erleben. Und was wir aus der Geschichte wissen, sind zum großen Teile die äußeren Ereignisse, weniger die Geschichte der menschlichen Seele selbst. Die Veränderungen, die mit dem Seelenleben der Menschheit vor sich gehen, die werden wenig berücksichtigt. Nun muß man sagen, daß frühere Zeiten nicht in derselben Art Veranlassung gehabt haben, sich mit dieser Geschichte des menschlichen Seelenlebens zu befassen wie die heutige Zeit. Denn die heutige Zeit, die, wenn wir sie als großen, historischen Zeitpunkt ins Auge fassen, schon mit der Mitte oder eigentlich schon mit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts beginnt, diese heutige Zeit stellt dem Menschen ganz besondere Aufgaben, die er nur mit seinem Bewußtsein lösen kann, während er seine früheren Aufgaben aus einem gewissen Instinkt heraus, wenn auch aus einem menschlich geformten Instinkt, lösen konnte.

Sie haben verschiedentlich gehört und vielleicht in Zyklen gelesen, wie in alten Zeiten eine Art von instinktivem Hellsehen der Menschheit eigen war, wie die Entwickelung der Menschheit darin besteht, daß dieses instinktive Hellsehen verlorengegangen ist, und wie an die Stelle jenes instinktiven Hellsehens die heutige Seelenverfassung getreten ist, die eine intellektuelle ist, die vorzugsweise den Verstand des Menschen ausbildet. Ich will nicht sagen, daß deshalb in der Menschheit der heutigen Zeit die Gefühls- und Willenskräfte nicht tätig wären. Aber dasjenige, was die Größe unserer gegenwärtigen Zivilisation ausmacht, was wir vor allem auch in der heutigen Zeit erleben, das appelliert an den Verstand, an die Begriffskräfte.

Der heutige Mensch hat aber gar sehr Veranlassung, über die Frage nachzudenken: Welche Bedeutung hat eine Verstandeszivilisation für die menschliche Seele? – Erschöpfend beantworten kann man diese Frage nur, wenn man ein wenig den Hinweis auf das vorirdische menschliche Dasein berücksichtigt, auf das gestern in einem andern Zusammenhange hingewiesen wurde.

Wir empfinden heute als Menschen der Gegenwart die Vorstellungen als etwas sehr Abstraktes, als etwas, was wir nicht in demselben Grade innerlich erleben wie die Vorstellungen, die während der Zeit des alten, instinktiven Hellsehens im Menschen gelebt haben. Und wenn wir von diesen abstrakten, intellektualistischen Vorstellungen aus hinsehen auf das vorirdische Menschendasein, dann finden wir, daß in diesem das, was heute abstrakte Gedanken sind, etwas ganz anderes war. Als wir noch im vorirdischen Dasein keinen Leib, keinen Körper hatten, als wir noch seelisch-geistige Wesenheit hatten, waren die Gedanken etwas ganz anderes. Damals hatten die Gedanken noch ein seelisches Leben, da erlebten wir einen Gedanken so, daß wir wußten: Diese Gedanken sind in der ganzen Welt verbreitet, und wir schöpfen sie aus der Welt in unser eigenes Seelensein herein.
Heute ist der Mensch der Ansicht, daß die Gedanken etwas sind, was er mit seinem Gehirn erzeugt. Das ist ungefähr geradeso gescheit, als wenn ein Mensch, der ein Glas Wasser zu sich nimmt, glauben würde, daß das Wasser aus seiner Zunge herauskommt, nicht von außen hereingenommen würde. In Wahrheit sind die Gedanken etwas Regsames, Lebendiges, die wirkenden Kräfte in aller Welt, und wir schöpfen sie nur aus der Welt. Unser organisches System ist nur das Gefäß, in das wir mit unserem Ich hineinschöpfen die Gedanken.

Aber dem Irrtum, daß wir selbst die Gedanken erzeugten, daß wir sie nicht aus der Welt schöpften, diesem Irrtum kann man sich nur hingeben innerhalb des Erdenlebens zwischen Geburt und Tod. Solange man im vorirdischen Dasein ist, weiß man, daß die Gedankenwelt alles erfüllt, was im Umkreis ist, wie die Luft im Dasein zwischen Geburt und Tod. Wir wissen, daß wir die Gedankenkräfte gewissermaßen einatmen und wieder ausatmen, daß sie etwas Regsames, Wirkendes sind.

Das ist von außerordentlicher Wichtigkeit, daß wir uns bewußt werden, wie die Gedankenkräfte im vorirdischen Leben etwas ganz anderes sind als im irdischen Dasein. Wenn wir in der Welt einem Leichnam begegnen, dann sagen wir uns nicht, dieser Leichnam könne durch irgendwelche Kräfte, die wir Naturkräfte nennen, in die Form gebracht worden sein, die er als Leichnam hat. Wir wissen, er ist der Überrest eines lebenden Menschen. Der lebendige Mensch muß notwendig dagewesen sein, eine Naturkraft kann niemals einem Leichnam seine Form geben, die er hat. Der Leichnam kann nur der Überrest eines lebendigen Menschen sein.

Was wir beobachten können über das Gedankenleben des Menschen, wie wir es haben im irdischen Dasein, gibt uns ebenso Anhaltspunkte dazu, zu erkennen, daß die Gedankenkräfte, die wir entwickeln während des irdischen Daseins, nicht für sich in unserem physischen Organismus entstehen können, sondern daß sie die Überreste sind lebendiger Kräfte, die wir im vorirdischen Dasein hatten. Mit derselben Sicherheit, mit der man sagt, daß der Leichnam der tote Überrest eines lebendigen Menschen ist, kann man auch sagen: Das abstrakte Denken, das wir heute haben, ist der tote Überrest dessen, was wir im vorirdischen Dasein im lebendigen Denken hatten.

Das lebendige Denken stirbt, indem wir geboren beziehungsweise empfangen werden, und was in uns als Denkkräfte sich geltend macht, ist der Leichnam jenes lebendigen Denkens, das wir im vorirdischen Dasein hatten. Wir verstehen das irdische Denken nur dann ganz recht, wenn wir es ansehen als Überrest des vorirdischen Denkens, ebenso wie wir den Leichnam ansehen als Überrest des lebendigen Menschen.

Dieses Bewußtsein, daß das menschliche Denken der Überrest eines lebendigen Denkens ist, muß die Menschheit allmählich immer mehr und mehr durchdringen. Dann erst sieht man sich in der rechten Weise als Menschen an, dann sieht man in der richtigen Weise zurück auf das vorirdische Dasein, wie man zurücksieht von dem Leichnam, in dem nur noch die Naturkräfte leben, zum lebendigen Menschen, in dem höhere Kräfte leben. Aber man betrachtet diese ganze Tatsache erst im richtigen Lichte, wenn man weiß: So, wie dieses Denken, das zur Abstraktheit hinneigt, heute bei uns ist, haben wir es erst seit dem 15. Jahrhundert entwickelt.

Natürlich entwickelte es sich bei den einzelnen Rassen und Volksstämmen in verschiedener Weise, aber im Durchschnitt ist es für die zivilisierte Menschheit so gewesen, daß sie sich zu diesem toten Denken im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts entwickelt hat, daß dieses Denken immer mehr tot wurde und dann einen gewissen Kulminationspunkt dieses Totseins gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreichte.

Ja, wenn wir weiter zurückschauen in der Entwickelung, dann finden wir, daß in alter Zeit die Menschenseelen, indem sie durchgegangen waren durch Empfängnis und Geburt, noch etwas aus dem vorirdischen Dasein in das Erdendasein hinübergetragen haben. Die Lebendigkeit der alten Mythen, der alten Volkslegenden, der alten bildenden Kräfte der Seelen, die nicht eins sind mit unserer heutigen Phantasietätigkeit, hätte sich nicht entwickeln können, wenn nicht etwas hereingestrahlt hätte von dem lebendigen vorirdischen Denken, wenn das irdische Denken schon ganz abstrakt geworden wäre.
Man kann in gewissem Sinne sagen, daß auch heute noch im kindlichen Lebensalter ein letzter Rest vorirdischen Denkens vorhanden ist, der sich aber im Laufe des Lebens verliert.

Aber jene Menschen einer älteren Zeit waren auch in ihrem ganzen Seelenleben ganz anders als die heutigen Menschen. Stellen Sie sich nur einmal richtig vor, Sie würden auch heute in diesem lebendigen Denken sein, Sie würden ein solches Hellsehen, wie es eben in älteren Zeiten die Menschenseele hatte, erleben können; Sie würden Imaginationen erleben können, aber diese Imaginationen würden so stark auf Sie wirken, daß Sie sich nur vorkommen würden als Umhüllung göttlich-geistiger Kräfte:
Sie würden niemals zum Bewußtsein der Freiheit kommen. Das richtige Freiheitsgefühl hat sich erst in der zivilisierten Menschheit entwickelt. Daß der Mensch frei werden konnte, verdankt er dem Umstände, daß das lebendige Denken wenigstens nicht in seinem erwachten Zustande wirkt, sondern ein totes Denken, in das er hineingießen kann, was er selbst aus seinem freien Willen hineingießen will. Nicht wie früher denken im Menschen Geister, er fängt selbst zu denken an.

Selbst anfangen zu denken heißt aber, den menschlichen Willen hineinzusenden in das Denken, und wenn er ein totes Denken findet, kann er den freien Willen in das Denken hineingießen. So daß der Mensch zum toten Denken vorrücken mußte, um im Laufe der Erdenentwickelung ein freies Wesen werden zu können. Sie sehen, wenn wir in dieser Weise die Entwickelung des menschlichen Seelenlebens betrachten, geht uns auf, daß sinnvoll gestaltet ist die ganze Menschenentwickelung auf Erden.

Nun wollen wir aber einmal noch in etwas ältere Zeiten zurückgehen. Dasjenige, was sich vollzogen hat als Ertötung, als Verabstrahierung, als Intellektualisierung des Denkens im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts, das bereitet sich langsam und allmählich vor. Solche Dinge geschehen nicht auf einmal, sie bereiten sich vor, nehmen eine Art Anlauf, um dann zu einem Höhepunkt zu kommen. Nun ist deutlich erkennbar, daß der erste Anlauf zu diesem abstrakten Denken im 4. nachchristlichen Jahrhundert gekommen ist. Ich meine, im 4. nachchristlichen Jahrhundert beginnt die erste Spur im menschlichen Bewußtsein sich geltend zu machen, daß der Mensch glaubte, er bringe die Gedanken hervor. Das hätte ein Grieche in Wirklichkeit nicht geglaubt. Der Grieche war sich durchaus noch bewußt einer gewissen Lebendigkeit des Denkens und war sich bewußt, daß die Gedanken überall in den Dingen sind, daß er selbst sie bloß aus den Dingen schöpft. Die Meinung, daß der Mensch die Gedanken erzeugt, entstand dadurch, daß die Gedanken immer mehr und mehr unlebendig wurden. Und diese unlebendigen Gedanken, mit denen man sozusagen machen kann, was man will, stellten sich erst ein seit dem 4. nachchristlichen Jahrhundert. Das ging so allmählich weiter, bis dann im 15. Jahrhundert das Bewußtsein, das wir heute noch haben, deutlich ausgeprägt war…

Aus:

RUDOLF STEINER – GA 224
Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten. Die Verinnerlichung der Jahresfeste

Elf Vorträge, gehalten in Bern, Dornach, Prag, Stuttgart und Berlin
vom 6. April bis 11. Juli 1923

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„…ungefähr im Jahre 2200 wird eine Unterdrückung des Denkens in größtem Maßstabe auf der Welt losgehen“. / Rudolf Steiner
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