Die Himmelfahrtsoffenbarung und das Pfingstgeheimnis / RudolfSteiner

RUDOLF STEINER – GA 224
Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten – Die Verinnerlichung der Jahresfeste

Zusammenfassung des nachfolgenden Textes:
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Als das Denken noch lebendig war, fürchtete der Mensch sich nicht im allergeringsten vor dem Tode. Der Tod war ja für ihn kein außergewöhnliches Ereignis. Das ist etwas außerordentlich Wichtiges in der Geschichte der Menschheitsentwickelung, daß die Menschen den Tod ganz anders genommen haben, als etwas ganz Selbstverständliches, während, als die Menschen das Bewußtsein von dem vorirdischen Dasein immer mehr und mehr verloren haben, das abstrakte Denken, das den physischen Leib zum Werkzeug hat, immer mehr die Furcht vor dem Tode brachte und den Glauben, daß der Tod etwas Abschließendes sei…
In diesem Himmelfahrtsbilde erscheint also dasjenige vor dem Seelenauge der Jünger, was hätte werden sollen ohne das Mysterium von Golgatha. Stellen Sie sich vor, das Mysterium von Golgatha wäre nicht geschehen und eine Schar von Menschen wäre so hellsichtig geworden wie die Jünger in diesem Momente. Dann würden sie gesehen haben, wie von gewissen Menschen die Ätherleiber von der Erde weg zur Sonne hingehen, und sie hätten gewußt, diesen Weg nehmen die Ätherleiber. Dasjenige, was am Menschen ätherischirdisch ist, das wird zur Sonne entrückt.
Nun hat aber das Mysterium von Golgatha stattgefunden. Der Christus rettet für die Erde dieses Sonnenwärtsziehende. Und in diesem zur Sonne Hinstrebenden, aber von dem Christus Gehaltenen, erscheint gerade diese Tatsache, daß der Christus mit der Menschheit der Erde verbunden bleibt…
Den enteilenden, den immerfort nach der Sonne sich aufschwingenden Ätherleib hält der Christus; aber des Menschen seelisch-geistiges Wesen, sein Ich und sein astralischer Leib, die müssen den Christus-Impuls empfangen – indem sie sich durch das Bekenntnis dazu vorbereiten während des Wachens – in dem Zustande zwischen dem Einschlafen und Aufwachen…
Das ist das Bild vom Pfingstfeste: das Durchdringen des Geistig-Seelischen mit der das Mysterium von Golgatha verstehenden Kraft, die Sendung des Heiligen Geistes. Der Christus hat seine Tat für die ganze Menschheit vollbracht. Dem einzelnen, der diese Tat verstehen soll, dem einzelnen menschlichen Individuum hat er den Geist gesandt, so daß das Seelisch-Geistige den Zugang zu der allgemeinen Menschheitstat findet. Durch den Geist muß der Mensch innerlich geistigseelisch das Christus-Mysterium sich aneignen…
Daß es für alle Menschen geschehen ist, das ist die Offenbarung des Himmelfahrtsgeheimnisses. Diese zwei Dinge stehen in der christlich interpretierten Menschheitsentwickelung hintereinander: die Himmelfahrtsoffenbarung, daß der Christus seine Tat als eine allmenschliche vollbracht hat, das Pfingstgeheimnis als eine Forderung an den Menschen, als einzelner den Impuls des Mysteriums von Golgatha in sich aufzunehmen.
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Prag, 29. April 1923
Die Himmelfahrtsoffenbarung und das Pfingstgeheimnis

…Im 4. nachchristlichen Jahrhundert entstand der Anlauf zu einem intellektuellen, abstrakten Denken…
Das heißt aber nichts anderes, als: das Mysterium von Golgatha, das Erscheinen des Christus auf der Erde fiel in eine Zeit, wo die menschliche Seele noch von lebendigen Gedanken erfüllt war. In dieser Beziehung ist in der Tat der Menschheit in bezug auf ihr Bewußtsein viel verlorengegangen. Zwar hat die Menschheit dadurch sich die Freiheit erobert, aber ihr ist dennoch viel verlorengegangen. Als der Christus auf der Erde erschien, da wurde er noch empfangen von einer gewissen Zahl von Menschen, die noch ein innerlich lebendiges reges Denken hatten, die in dem Denken noch Reste von dem vorirdischen Dasein hatten.
Und diese Menschen stellten sich in einer ganz andern Weise als die Menschen der späteren Zeit zum Mysterium von Golgatha. Bedenken Sie nur einmal recht: Bis in diese Zeit sagten sich die Menschen – sie sprachen es nicht deutlich aus, es war damals alles mehr in Bilder getaucht, aber es war ein Bewußtsein davon da -, ich bin jetzt auf der Erde, ich habe auf ihr als Erdenmensch mein Denken, aber das weist mich zurück durch Geburt und Empfängnis in ein vorirdisches Dasein, in eine andere Welt, aus der ich heruntergestiegen bin. – Man empfand sich hier als Fortsetzung dessen, was man im vorirdischen Dasein war. Sie waren sich darüber klar, die damaligen Menschen, daß sie mit dem Erdendasein ein früheres, vorirdisches Dasein fortsetzten, wenn auch in dieser Zeit die Menschen wie durch ein trübes Glas hineinschauten in eine Welt des vorirdischen Daseins.

Dieses Bewußtsein, daß der Mensch ein von den Himmeln zur Erde heruntergestiegenes Wesen ist, ging im wesentlichen im 4. nachchristlichen Jahrhundert verloren.
Von diesem Gesichtspunkte aus betrachteten die Menschen aber auch das Ereignis von Golgatha. Wenn zu diesen Menschen von den Eingeweihten, die es damals noch gab, die nicht so weise waren wie die Eingeweihten der alten Mysterien, die aber immerhin noch Reste der alten Mysterienweisheit hatten, gesprochen wurde von dem Christus, war für sie die Frage diese: Jesus Christus war in derjenigen Welt früher heimisch, in der wir auch darinnengewesen sind, bevor wir zur Erde herabstiegen. Das war seine Welt, nur hat er diese Welt früher niemals verlassen.
Es ist ja das Eigentümliche der Erdenmenschen, daß sie heruntersteigen mußten schon seit sehr alten Zeiten. Da sind sie von dem Christus fortgegangen, um auf die Erde herabzusteigen. Wenn in den alten Mysterien die Rede vom Christus war -es war von diesem Christus in den alten Mysterien immer die Rede, wenn er auch nicht mit dem Namen «Christus» genannt wurde -, so mußten die Gedanken hinaufgelenkt werden zum vorirdischen Dasein und den Menschen gesagt werden: Wollt ihr von dem Christus etwas wissen, so dürft ihr euch nicht an euer Erdenbewußtsein halten, sondern müßt hinaufschauen zum vorirdischen Dasein.

Wir müssen schon einiges anführen von diesem vorirdischen Dasein, um zu verstehen, was ich heute ausführen möchte. Wir stehen hier auf der Erde als Erdenmenschen, wir schauen hinauf zur Sonne, wir machen uns Vorstellungen von dieser Sonne, bilden uns sogar Hypothesen über sie aus, wie diese Sonne ein Gasball ist oder so etwas ähnliches. Es ist vom irdischen Gesichtspunkte aus auch selbstverständlich, daß man sich solche Vorstellungen ausbildet, aber man glaubt, daß das von allen Gesichtspunkten aus so wäre. Bevor wir zur Erde herabgestiegen waren, haben wir die Sonne auch gesehen, aber von den Weiten des Kosmos, gewissermaßen von der andern Seite. Da war sie nicht ein physisches Gebilde, sondern der Inbegriff geistiger Wesenheiten, und die bedeutsamste von diesen Wesenheiten für die Menschen vor dem Mysterium von Golgatha war der Christus.
So daß man auch das Folgende sagen kann. Wenn in der vorchristlichen Zeit die Mysterienschüler eingeweiht wurden in dasjenige, was sich später in das Mysterium von Golgatha gewandelt hat, wurde ihnen klar: Der Mensch im vorirdischen Dasein sah die Sonne und nahm den Christus wahr, und wenn er herunterstieg auf die Erde, sah er die Sonne von der andern Seite, aber der Christus verbarg sich ihm, er konnte nur durch Mysterienwissen zu dem Christus hinaufgeleitet werden. – Das empfand man in der ersten Zeit der christlichen Entwickelung als das Wesen des Christentums, daß der große Sonnengeist nun nicht Sonnengeist geblieben war, sondern durch das Mysterium von Golgatha jene Regionen verlassen hat, die von den Menschen nur durchgemacht werden außerhalb des physischen Leibes, und in das Erdendasein hereingekommen ist; daß er die einzige der göttlich-geistigen Wesenheiten war, welche das Erdendasein selber betreten hat.
Und wir treffen, allerdings mit den Mitteln der geistigen Forschung, auf Menschen auch in der ersten Zeit der christlichen Entwickelung, die ganz tief in ihrem Gemüt empfanden: Der Christus ist aus der Sphäre der Geister, die nicht durch Geburt und Tod hindurchzugehen brauchen, für die Geburt und Tod nur eine Verwandlung ist, heruntergestiegen und durch Geburt und Tod gegangen.

Dieses Heruntersteigen des Christus auf die Erde war die ganz wesentliche Empfindung, die man zunächst in der ersten Zeit der christlichen Entwickelung hatte. Das war den damaligen Menschen viel wichtiger, dieses Heruntersteigen, als was auf dieses Heruntersteigen folgte. Daß der Christus Gemeinschaft machen wollte mit den Menschen, daß er die zwei bedeutsamsten Erlebnisse, Geburt und Tod, mitmachen wollte, empfand man in Eingeweihtenkreisen als den eigentlichen religiösen Impuls. Man konnte das nur, weil eben der Mensch noch etwas von einem inneren, lebendigen Denken hatte, weil bis in das 4. nachchristliche Jahrhundert das Denken noch nicht ganz abgelähmt, ganz abstrakt geworden war, weil es den Menschen noch so ausfüllte wie der Atem heute in physischer Beziehung.

Deshalb empfand man, daß er auch das menschliche Schicksal des Herabsteigens vollzogen hatte, was die andern göttlich-geistigen Wesen nicht vollzogen hatten, weil Geborenwerden und Sterben den Göttern nicht eigen ist, sondern nur den Menschen. Das ist das Grandiose im Eingeweihtenglauben der ersten christlichen Jahrhunderte, daß empfunden wurde: Der Christus ist wirklich Mensch geworden, das heißt, er hat wirklich menschliches Geschick auf sich geladen, er ist die einzige der göttlich-geistigen Wesenheiten, die mit dem Menschen dieses Schicksal geteilt hat.

Nun ist aber notwendig, daß auch ersichtlich vor die Menschenseele hintritt, daß diese Menschenseele, insofern sie der Welt des vorirdischen Daseins angehört, nicht eigentlich sterben kann. Daher ist auch das eingetreten, was wir mit der Auferstehung des Christus verbinden : der Sieg des Christus über den Tod, vorbildlich für den Sieg jeder Menschenseele über den Tod. Und indem, ich möchte sagen, die alte Idee von dem Ungeborensein sich gefügt hat an die neue Idee von dem Auferstehen, die ja auch vorhanden war, aber nicht in derselben Intensität, indem das Ereignis von Golgatha eingetreten war, da war es gewissermaßen der Ausdruck für ein Allerwichtigstes in der menschlichen Erdenentwickelung.

Als das Denken noch lebendig war, fürchtete der Mensch sich nicht im allergeringsten vor dem Tode. Der Tod war ja für ihn kein außergewöhnliches Ereignis. Das ist etwas außerordentlich Wichtiges in der Geschichte der Menschheitsentwickelung, daß die Menschen den Tod ganz anders genommen haben, als etwas ganz Selbstverständliches, während, als die Menschen das Bewußtsein von dem vorirdischen Dasein immer mehr und mehr verloren haben, das abstrakte Denken, das den physischen Leib zum Werkzeug hat, immer mehr die Furcht vor dem Tode brachte und den Glauben, daß der Tod etwas Abschließendes sei. Die alte Menschheit brauchte wenig die Auferstehungsidee, sondern die des gemeinsamen Herabsteigens mit dem Christus.
Aber indem die Menschen immer mehr und mehr vorrückten zum abstrakten Denken, brauchten sie immer mehr einen Ausblick aus dem irdischen Dasein, einen Ausblick nach der Seite der Unsterblichkeit hin.

Und dieser Ausblick ergibt sich der Menschheit aus dem richtigen Hinschauen auf die Auferstehungstatsache des Christus. Diese Tatsache habe ich in Büchern, Vorträgen und Zyklen mannigfaltig dargelegt. Beide Tatsachen, das Herabsteigen des Christus zu Geburt und Tod und die Auferstehungstatsache, die des Sieges über den Tod, konnte der Menschheit bis in das 4. nachchristliche Jahrhundert hinein empfindungsgemäß klar sein, weil das lebendige Denken noch vorhanden war.

Von dem 4. nachchristlichen Jahrhundert ab, indem immer mehr das abstrakte Denken heraufrückte, wurde die Menschheit immer unfähiger, Gedanken mit dem Inhalt des Mysteriums von Golgatha zu verbinden. Und es ist schon das Schicksal der Menschheitsentwickelung, daß in dem Zeitalter, in dem die Menschheit sich durch das abstrakte Denken ihre Freiheit errang, durch das im Verhältnis zur geistigen Welt tote Denken das Verständnis für den Christus Jesus, das ja in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten vorhanden war, verlorengehen mußte.

Es ist auch verlorengegangen, namentlich aus dem Grunde, weil jene Schriften, die mit dem heute schon fast zum Schimpfwort gewordenen Worte gnostische Schriften bezeichnet werden, bis auf einige Reste, mit denen aber literarisch nicht viel zu unternehmen ist, mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden sind. Dasjenige, was in den ersten Jahrhunderten gedacht worden ist von denen, die noch etwas gewußt haben vom lebendigen Denken, wurde vernichtet; das kennen wir nur aus den Schriften der Gegner. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn durch irgendeinen Zufall alle anthroposophischen Bücher und Schriften verschwänden, und dasjenige, was Anthroposophie ist, auch nur aus den Schriften der Gegner beurteilt werden müßte! Soviel wissen die Leute, die sich nur auf die äußeren Dokumente verlassen, heute von der Gnosis.
Jenes ganz ungeheuere Christus-Verständnis der Gnosis, das sie in sich schlössen, ging der Menschheit ganz verloren. Vor allen Dingen ging ganz das Bewußtsein verloren, daß der Christus mit der Sonne etwas zu tun habe und daß der Christus herabgestiegen ist und ein mit der Menschheit gemeinsames Schicksal auf Golgatha durchgemacht hat. Alle diese Zusammenhänge, namentlich die Gefühle, die mit diesen Dingen verbunden sind, gingen der Menschheit verloren. Immer mehr kamen die abstrakten Auslegungen, die abstrakten Gedanken heraus.

Einen derjenigen, die aus dem Charakter des Zeitalters heraus nach einem Verständnis des Christentums rangen, sehen wir in Augustinus. In diesem Augustinus sehen wir einen Geist, der nicht mehr verstehen konnte die alte Form der Naturanschauung. Sie wissen, es wird erzählt, daß Augustinus Manichäer war. Augustinus erzählt es selber. Aber dasjenige, was hinter allen diesen Dingen ist, kann heute mit dem äußeren Erkennen nicht mehr richtig durchschaut werden. Was Augustinus Manichäer nennt, was man heute Manichäerlehre nennt, ist ja nur das verkommene Produkt einer uralten Lehre, die sich den Geist nur als schöpferisch vorstellte und keinen Gegensatz zwischen Materie und Geist kannte. Es war kein Geist da, der nicht schuf, und was er schuf, merkte man als Materie. Ebensowenig hatten diese alten Zeiten einen Begriff von der bloßen Materie, sondern in allem war Geist darin. Das war etwas, was Augustinus nicht verstehen konnte, was die Gnosis verstand, was man später nicht mehr verstand und was auch unsere Gegenwart nicht mehr versteht. Es ist so, es gibt keine Materie für sich.

Die Gnostiker wußten davon und sahen das ganze Herabsteigen des Christus im Lichte dieser Anschauung. Augustinus konnte damit nichts mehr machen. Das Zeitalter war vorbei, die Möglichkeit, etwas damit zu machen, war nicht mehr, weil man die Dokumente vernichtet hatte, auch war das alte Hellsehen verglommen. So kam Augustinus nach langem, schier übermenschlichem Ringen dazu, sich zu sagen, er könne nicht von sich aus zur Wahrheit kommen, sondern müsse sich fügen dem, was die katholische Kirche als Wahrheit vorschreibt: sich unter die Autorität der katholischen Kirche beugen. Und diese Stimmung – nehmen Sie es zunächst als Stimmung -, die blieb, lebte namentlich dadurch, daß das Denken immer abstrakter und abstrakter wurde. Wirklich langsam und allmählich wurde erst das Denken abgelähmt.

Und die Scholastiker in ihrer Größe – sie sind groß -, sie lebten noch in einer Spur von Wissen, daß das Denken auf Erden abstammt von einem überirdischen Denken, daß der Mensch lebt in einem himmlischen Denken. Aber unter dieser Entwickelung ging die Möglichkeit immer mehr verloren, mit dem Ereignis von Golgatha etwas Lebendiges zu machen.

Und es ist doch wirklich eigentlich so, daß der fortschrittlichen Theologie des 19. Jahrhunderts, weil sie im modernen Sinne wissenschaftlich werden wollte, der Christus verlorengegangen ist, und daß die Theologie froh war, zuletzt noch zu haben den «schlichten Mann von Nazareth». Der Christus war nurmehr «der höchste Mensch auf Erden». Von dem Innewohnen des Christus in dem Jesus konnte man sich keine Vorstellung mehr machen.
Und so ist eigentlich die Entwickelung seit dem 4. nachchristlichen Jahrhundert ein Verlorengehen des Zusammenhanges des Menschen mit dem Christus in jener lebendigen Weise, wie es bei vielen vorhanden war in den ersten Jahrhunderten des Christentums. Und so kam es auch, daß man zuletzt immer weniger und weniger den Inhalt der Evangelien verstand.

Den Menschen, die in den ersten Jahrhunderten des Christentums gelebt haben, wäre es ganz sonderbar vorgekommen, von Widersprüchen in den Evangelien zu sprechen. Es ist so, wie wenn jemand nur das Bild eines Menschen en face kennt, und nun brächte ihm jemand eine Photographie, die das Profil aufgenommen hat, und er sagte: Das kann nicht das Bild von demselben Menschen sein. – So wäre es den Menschen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte vorgekommen, wenn man ihnen von Widersprüchen der Evangelien gesprochen hätte. Sie wußten sehr gut: Die vier Evangelien stellen nur das Bild von vier verschiedenen Seiten dar. – Der Mensch der heutigen Zeit würde sagen: Das sind ja sonderbare Darstellungen, die sind ja von allen Seiten verschieden. – In der geistigen Welt ist eben alles viel reicher.

Immer mehr kam dann die Zeit, in der man im alten Sinne von dem Ereignis von Golgatha nichts mehr kannte. Nun ist ja das Ereignis von Golgatha ein solches, das nur vom geistigen Gesichtspunkt aus begriffen werden kann. Es ist interessant, daß die Geschichtsschreiber in der Regel sich um das Ereignis von Golgatha herumdrücken. Da haben wir nun den Geschichtsschreiber Ranke, der als ein vorzüglicher Geschichtsschreiber gilt, der erklärt: Darüber redet man nicht, das läßt man aus. – Wenn man das Allerwichtigste aus der Geschichte ausläßt, so kann keine Geschichte entstehen. Selbst wenn man nicht einen Zusammenhang mit der geistigen Welt hat, also das Mysterium von Golgatha nicht verstehen kann, müßte man doch den ungeheueren Einfluß zugeben. Aber es wird heute Geschichte geschrieben, ohne die ungeheuere Wirkung des Mysteriums von Golgatha zu verzeichnen. Es kam immer mehr die Fähigkeit abhanden, hinzuschauen in richtiger Weise auf das Mysterium von Golgatha.

Wir können aber auch die Sache von ganz andern Seiten betrachten, können uns sagen: Die Menschheit kam im Laufe ihrer Entwickelung vor die Notwendigkeit, den Christus in ihrer Mitte haben zu müssen. Immer mehr und mehr kam den Menschen abhanden das Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit mit dem vorirdischen Dasein.

Auf das schauten sie nicht mehr hin. Die Menschen wußten zuletzt nur, daß sie dastehen seit ihrer irdischen Geburt. Da kam der Christus zu ihnen, um ihnen durch sein Herabsteigen zu zeigen, daß es ein vorirdisches Dasein gibt, um ihnen ein Verständnis zu geben für dasjenige, was in ihrem eigenen Bewußtsein nicht mehr leben konnte. Da die Menschen in ihrem eigenen Bewußtsein nicht mehr den Zusammenhang hatten, sollten sie einen neuen Zusammenhang gewinnen durch ihr Verhältnis zum Christus, der durch das Ereignis von Golgatha gegangen war. Der Christus hatte sich gewissermaßen selbst der Menschheit geschenkt in derjenigen Zeit, in der allmählich heranrücken sollte die Epoche, in welcher die Menschheit zur Freiheit aufsteigen sollte (durch das abstrakte Denken, admin). Nun war, als das Denken immer abstrakter wurde, keine Möglichkeit mehr da, in Gedanken hinzuschauen auf das Mysterium von Golgatha. Aber der Inhalt der neutestamentlichen Geschichte war ein so sehr hinreißender, ein so sehr in das Gemüt herein sprechender, daß eben durch die rein äußeren Traditionen dasjenige einige Zeitlang noch bleiben konnte, was mit den Gedanken nicht mehr aufgefaßt werden konnte.

Gehen wir durch die erste Zeit, insoferne sich das Christentum ausbreitet. Da sehen wir, wie die Traditionen vorhanden sind, die zuletzt doch aus den Evangelien fließen, wie das kindliche Gemüt sich immer mehr des Bildes der palästinensischen Ereignisse bemächtigt. Aber wir sehen zu gleicher Zeit, wie im erkenntnismäßigen Erleben das Mysterium von Golgatha verlorengeht. In demselben Maße, als das tote Denken auftrat, verdunkelte sich auch die kindliche Erinnerung an die palästinensische Zeit, verloren die Menschen ihren Zusammenhang mit dem Christus Jesus, und man war froh, wenn man noch den Zusammenhang mit dem Menschen Jesus erhalten konnte. Nun stehen wir in unserer Gegenwart; da ist eigentlich – die Menschen bemerken es nur noch nicht – das Bewußtsein des Zusammenhanges mit dem Christus Jesus schon verlorengegangen.

Traditionell verbleiben die Menschen bei den Bekenntnissen, und einen lebendigen inneren Zusammenhang mit dem Christus Jesus haben sie nicht. Man braucht sich nur anzusehen, wie äußerlich die Jahrfeste geworden sind! Wie äußerlich ist das Osterfest geworden für den Menschen der Gegenwart, während das Osterfest den Menschen früherer Zeit so war, daß die Menschen in tiefster Innerlichkeit etwas durchmachten, was man als eine Erinnerung an das Mysterium von Golgatha ansprechen kann.

Der Christus hat sich den Menschen gegeben in einer Zeit, wo die Menschheit ausbilden mußte das Freiheitsbewußtsein. Dazu hat sie es in gewissem Sinne gebracht. Sie würde sich aber veräußerlichen, wenn nicht der Zusammenhang mit dem Christus wieder gefunden werden könnte. Der kann nicht anders gefunden werden, als wenn wir anfangen, eine geistige Erkenntnis zu suchen.

Geistige Erkenntnis, wie sie Anthroposophie sucht, wird wieder den Zusammenhang mit dem Christus Jesus finden. Dieser Zusammenhang kann nur geistig gefunden werden. Was auf Golgatha geschehen ist, ist nicht nur ein Ereignis, das hereingegriffen hat in die physisch-irdische Menschheitsgeschichte, sondern auch ein geistiges Ereignis. Niemand kann das Ereignis von Golgatha verstehen, der es nicht im Geiste verstehen will. Daher ist anthroposophische Geisteswissenschaft zugleich eine Vorbereitung für ein neues Verständnis des Christus und des Mysteriums von Golgatha. Wenn wir diese Tatsache so betrachten, werden wir erinnert an das bedeutungsvolle Evangelienwort:
«Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Erdenzeiten.» Es strahlt von diesem Worte die Gewißheit aus, daß er nicht bloß da war, als das Ereignis von Golgatha abgelaufen ist, daß er dableibt bei den Menschen als Geistwesen, im Geiste auffindbar. Wir dürfen daher nicht bloß das als christlich ansehen, was aus den Evangelien erstrahlt, sondern wir wissen: Christus ist bei uns, und wenn wir heute, ausgerüstet mit geistiger Erkenntnis, hinhorchen darauf, was uns die geistige Welt über ihn offenbart, so ist das Christus-Offenbarung. Es ist Christus-Offenbarung ebenso wie das, was wir gewinnen, wenn wir auf die Evangelien hinblicken.
«Ich hätte euch noch viel zu sagen, allein ihr könnt es jetzt noch nicht ertragen», das ist der Hinweis auf jene Zeit, wo der Christus neu gesehen werden soll. Und jetzt nahen sich diese Zeiten, sie sind schon da.

Die Menschheit würde den Christus verlieren, wenn sie nicht auf neue Weise in geistiger Erkenntnis den Christus gewinnen könnte. Dadurch muß uns sehr viel erst wieder verständlich werden, was in alter Zeit mit dem Mysterium von Golgatha verbunden worden ist, was aber verlorengegangen ist, weil das geistige Verständnis dafür verlorengegangen ist.

Wie plagen sich doch mit dem heutigen Intellektualismus die Menschen mit dem Worte, welches der Christus gesprochen haben soll: daß das Gottesreich heruntergekommen ist auf die Erde, daß ein ganz neues Leben anfangen soll. – Es ist so unendlich gescheit, heute zu sagen: Es ist doch auf der Erde alles gerade so geblieben, wie es war! – Das ist selbstverständlich gescheit, aber man muß die andere Frage aufwerfen aus dem Geiste des Christus-Wortes heraus: Ist das auch im Sinne eines richtigen christlichen, geistigen Verständnisses gesprochen, zu glauben, daß da irgendein äußeres Geistesreich aufgerichtet werden soll? – Ein äußeres Geistesreich wäre ja physisch! Diesen Widerspruch merkt man nicht! Aber es ist höchst merkwürdig, daß man in der heutigen Zeit eigentlich recht gescheit geworden ist, doch die Gescheitheit auf dem eigenen Gebiete nicht recht würdigen kann.

Ich möchte, wenn uns das auch vom eigentlichen Thema abführt, Sie auf etwas recht Interessantes hinweisen. Der Wiener Geologe Eduard Sueß, ein ausgezeichneter Forscher, spricht in seinem Buche über «Das Antlitz der Erde» davon, daß das Antlitz der Erde ganz anders gewesen sein muß, die Steine viel lebendiger als heute, daß man heute eigentlich schon auf einer toten Erde geht. Die Schollen, auf denen wir gehen, gehören einer absterbenden Welt an. Der Geologe nimmt an, die Erde war einmal lebendiger und ist allmählich in den toten Zustand übergegangen. Da sagt Sueß für ein ganz anderes Gebiet etwas ganz ähnliches, wie der Christus gesagt hat für das geistige Leben der Erde. Wenn nur das da wäre, daß die Erde zerfiele in einer fernen Zukunft, in der die Erde in der Welt zerstäubt, wenn es nicht mit der Erde geradeso wäre wie mit dem Menschen – der Leib zerfällt in Staub, sein Geist aber lebt weiter -, dann würden wir alle in diese Zerstreuung mit hineingehen. Mit dieser Erde schauen wir auf das, was in das Jupiterdasein hinaufführt. Wir schauen da schon eine neue Erde.

Für das Physische ist diese Anschauung vom Zerfall der Erde richtig, für das Geistig-Seelische gilt ein anderes. Für die alten Eingeweihten der Zeit des Mysteriums von Golgatha war es klar: Mit der alten Zivilisation, mit den alten Mysterien ist es zu Ende. So, wie die alten Menschen mit ihren Göttern gelebt haben, ist es zu Ende. So, wie sie mit den Naturerscheinungen zusammengelebt haben, ist es zu Ende. Aber die Götter schicken den Menschen die Möglichkeit, einer Zukunft entgegenzugehen mit dem Geiste. Was in alter Zeit an Erkenntnis aus der Erde herausgesogen worden ist, das ist Vergangenheit.
Eine neue Zeit muß kommen, wo der Mensch durch seinen eigenen Willen ein Reich beginnen muß, wo der Mensch aus eigener Kraft das tote Denken wieder beleben kann. Das war eine Prophetie zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. Äußerlich kam auch dieses Reich heran. Begriffen werden, aufgenommen werden kann es erst von den Menschen der Gegenwart. Jetzt müssen wir fühlen, daß das Gottesreich, von dem der Christus spricht, von uns gesehen werden muß auf der Erde, indem der Christus auf der Erde wirkt. Das muß Erfüllung werden auf der Erde, und die Erfüllung dieses Gottesreiches muß mit Ernst erfaßt werden gerade in dieser unserer Gegenwart.

Wir erleben es auf allen Gebieten, wie der Mensch beginnt, vor der Gefahr zu stehen, abgeschnitten zu werden von den geistigen Welten und von seinem eigentlichen Wesen, wenn er nicht den Zugang findet zur spirituellen Welt. Der Mensch kommt mit der Naturwissenschaft nicht an den Menschen heran.

Nehmen Sie den großen Riß, der heute zwischen Alter und Jugend besteht. Ein Gegensatz bestand schon immer, aber so stark bestand er nicht wie heute. Ganz besonders eines muß man an ihm verstehen. Viele Menschen sagen, die Alten können nicht wirken für die Jugend, weil sie sich die Kindlichkeit nicht bewahrt haben. Das sieht furchtbar schön aus, es ist aber nicht so. Die Jugend verlangt nicht von uns, daß wir uns so jung gebärden sollten, wie die Jugend selber ist, sonst sagt die Jugend instinktiv: Das, was die können, können wir auch. Die brauchen wir ja dann gar nicht, da können wir ja unter uns allein bleiben. –
Was wir verstehen müssen, ist, in richtiger Weise alt zu werden, in voller Frische den gealterten Menschenleib zu gebrauchen. Die jungen Leute lieben nicht die altgewordenen Kindsköpfe, sondern die richtig Altgewordenen, die liebt die Jugend. Die Jugend möchte gerade zu alten Leuten aufblicken, weil sie da anderes findet, was sie selbst nicht hat. Aber wir haben in der Menschheit die Fähigkeit verloren, recht lebendig geistig zu sein. Wenn das eigentliche Kindheitsfeuer vorüber ist, dorren wir aus. Der Körper wird nur älter, aber wir hantieren mit dem alten Körper so, wie wir als Kinder mit ihm hantiert haben.

Wir müssen die Möglichkeit gewinnen, auch ohne daß uns unser Leib zu Hilfe kommt, unsere Gedanken aus der geistigen Erkenntnis heraus zu spiritualisieren, wiederum als lebendige Gedanken durch unseren eigenen Willen neu zu schaffen, die Auferstehung der Gedanken zu erzeugen in uns. Was in uns an totem Denken ist, muß so ein lebendiges Denken werden. Dann wird dieses lebendige Denken eindringen können in das Mysterium von Golgatha, dann werden wir erst, wie mit einem wahren Opfer des Denkens und Fühlens, lebendig in uns wiederholen: «Nicht ich, sondern der Christus in mir.»

Dieses Wort bedeutet auch für unser Zeitalter etwas ganz Gewaltiges. Das Ich-Bewußtsein haben wir uns errungen durch das unlebendige Denken. Mit dem alten, lebendigen Denken hätte dieses nicht errungen werden können. Wir haben es nun, dieses Ich-Bewußtsein, aber es muß innerlich durchglüht und durchgeistigt werden, indem wir diese Worte richtig aussprechen lernen: «Nicht ich, sondern der Christus in mir.» Wir müssen in dieses unser innerstes Wesen, das wir uns aneignen müssen durch geistige Erkenntnis, den Christus aufnehmen können. Das ist etwas, das wir als Menschen heute nur erreichen können, wenn wir uns durchdringen können mit dem eigentlichen Willen des anthroposophischen Lebens. Und im Grunde genommen wird Anthroposophie nicht eine neue Religion sein wollen. Die christliche Religion ist ja schon da. Indem der Mensch zum Christus geführt wird, gründet er nicht eine neue Religion, aber er braucht einen neuen Weg zum Christentum. Und ein neuer Weg zum Christentum eröffnet sich durch Anthroposophie. Sie ist es, die den neuen, heute so notwendigen Weg zum Verständnis des Mysteriums von Golgatha eröffnet.

Das ist, was ich anschließen möchte an das hier Gesagte. Denn es ist schon das Rechte, wenn wir von Zeit zu Zeit versuchen, diesen Mittelpunkt der ganzen Menschheitsentwickelung, das Mysterium von Golgatha, beleuchtet von Anthroposophie, richtig vor unsere Seele treten zu lassen. Denn wahrhaftig, der Gang der Menschheitsentwickelung ist ein solcher:
Die Erde entwickelt sich bis zum Mysterium von Golgatha hin, dann geht eine gewaltige Befruchtung der Erde aus dem geistigen Kosmos heraus und ein Weiterleben der Erde unter ganz neuen Verhältnissen vor sich. Nur dadurch, daß man diese religiöse Nuance in das anthroposophische Verständnis hereinbringt, heben wir es auf dasjenige Niveau, das es bekommen muß, wenn es den tiefsten Sehnsuchten der Menschen von heute entgegenkommen will.

DIE HIMMELFAHRTSOFFENBARUNG UND DAS PFINGSTGEHEIMNIS
Dornach, 7. Mai 1923

Die Entwickelung der Erdenmenschheit hat aus den verschiedenen Religionssystemen heraus gewaltige Bilder vor diese Menschheit hingestellt, Bilder, zu deren völligem Verständnis schon einmal eine Art esoterischer Erkenntnis gehört. Wir haben auf anthroposophischem Boden im Laufe der Jahre alle vier Evangelien in dieser Weise interpretiert gesehen, indem wir die anthroposophisch-esoterische Erkenntnis anwendeten, um den tieferen Gehalt der Evangelien an das Tageslicht zu ziehen. In der Regel ist dasjenige, worum es sich dabei handelt, dargestellt in Bildern, die gerade deshalb Bilder sind, weil Bilder sich nicht in einer so engen Weise rationalistisch mitteilen lassen wie Begriffe und Ideen.

Bei Begriffen und Ideen hat der Mensch die Meinung, daß er, wenn er den Begriff in sich aufgenommen hat, alles durchschaut habe, was in Betracht kommt. Bei dem Bilde, bei der Imagination, kann man eine solche Meinung nicht haben. Das Bild, die Imagination wirkt lebendig. Man möchte sagen, sie wirkt lebendig wie ein lebendes Wesen selber, sagen wir, ein lebendes Wesen wie der Mensch. Man mag es von dieser oder jener Seite kennengelernt haben, man wird aber immer wieder und wiederum neue Seiten kennenlernen. Und man wird sich nicht begnügen mit allerlei Definitionen, die die Sache umfassen sollen, sondern man wird sich aufschwingen wollen zu Charakteristiken, die von verschiedenen Seiten her dem Bilde beizukommen streben und die das Bild immer mehr und mehr zur Erkenntnis des Menschen bringen.

Nun möchte ich heute gerade zwei Bilder, die Sie als Bilder ja gut kennen, vor Ihre Seele hinstellen und einiges in bezug auf diese Bilder charakterisieren. Das eine Bild ist dasjenige, das uns die Jünger des Christus Jesus darstellt am Himmelfahrtstage, wie sie aufblickend entschweben sehen den Christus in den Wolken. Das Bild wird gewöhnlich so aufgefaßt, daß der Christus himmelwärts gefahren ist, die Erde verlassen habe, und daß die Jünger gewissermaßen auf sich selbst gestellt sind, wie überhaupt sich die Erdenmenschheit, für die der Christus durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, nach seiner Himmelfahrt sich selbst überlassen sieht.
Sie können leicht auf den Gedanken kommen, daß dies der Realität des Mysteriums von Golgatha in einer gewissen Weise widerspricht. Wir wissen, daß durch das Mysterium von Golgatha der Christus in Wahrheit beschlossen hat, sein eigenes Wesen mit dem Wesen der Erde zu verbinden, also eigentlich von dem Mysterium von Golgatha ab mit der Erdenentwickelung in einem fortdauernden Zusammenhang zu bleiben. So könnte man das gewaltige Bild der Himmelfahrt in Widerspruch gesetzt sehen zu demjenigen, was sich aus der esoterischen Anschauung des Mysteriums von Golgatha über die Verbindung des Christus mit dem Erdenwesen und mit der Menschheit ergibt. Wir wollen heute versuchen, über diesen Widerspruch an der Hand wirklicher geistiger Tatsachen einmal hinwegzukommen.

Das zweite Bild, das ich heute vor Ihre Seele rücken möchte, ist dasjenige, wo zehn Tage nach der Himmelfahrt die Jünger versammelt sind und feurige Zungen auf das Haupt eines jeden herniederkommen, so daß sie sich angeregt fühlen, wie das in populärer Ausdrucksform heißt, in den verschiedenen Zungen zu sprechen. In Wirklichkeit heißt das aber, daß sie nunmehr die Möglichkeit hatten, die Geheimnisse von Golgatha jedem menschlichen Herzen, welchem Bekenntnis es auch sonst angehört, beizubringen. Diese zwei Bilder wollen wir heute einmal vor unsere Seele hinstellen und wollen einiges – es kann natürlich nur einiges sein – zu ihrer Charakteristik beitragen.

Wir wissen, daß die Menschheitsentwickelung nicht erst auf der Erde begonnen hat. Wir wissen, daß der Erdenentwickelung vorangegangen ist die Mondenentwickelung, dieser eine Sonnenentwickelung, dieser eine Saturnentwickelung, wie Sie das dargestellt finden in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß». Wir wissen, daß der Mensch während der Saturnentwickelung zwar bis zu dem physischen Leib herunter sich entfaltete, daß aber dieser physische Leib dazumal im wesentlichen nur ein Wärmeleib war, das heißt, daß eine Summe von Wärmedifferenzen, Wärmewirkungen, sich um das Seelisch-Geistige, wie es dazumal eben im Sinne der Beschreibungen meiner «Geheimwissenschaft» war, gewissermaßen herumlagerten.
Wir wissen dann, daß während der Sonnenentwickelung der Mensch einen luftförmigen Körper bekommen hat, während der Monden-entwickelung eine Art flüssigen Körper, und den festen, den eigentlich erdigen Körper erst während der Erdenentwickelung sich angeeignet hat.
Nun müssen wir einmal die Erdenentwickelung ins Auge fassen. Wir wissen, daß die Erdenentwickelung in sieben aufeinanderfolgenden Epochen vor sich geht. Die erste Epoche ist gewissermaßen eine Wiederholung der Saturnentwickelung, die zweite eine Wiederholung der Sonnenentwickelung, die dritte Epoche eine Wiederholung der Mondenentwickelung – wir haben sie einmal die lemurische Entwickelung genannt. Mit der vierten Epoche setzt die eigentliche Erdenentwickelung ein.

Wir leben jetzt in der fünften Entwickelungs-epoche. Ihr werden zwei andere, eine sechste und eine siebente, folgen.

1. Epoche Wiederholung der Saturnentwickelung
2. Epoche Wiederholung der Sonnenentwickelung
3. Epoche Wiederholung der Mondenentwickelung
Lemurische Zeit 4. Epoche – Beginn der eigentlichen Erdenentwickelung
Atlantische Zeit
5. Epoche Nachatlantische Zeit
6. Epoche
7. Epoche

Die Mitte der Erdenentwickelung liegt nun in der Mitte der atlantischen Epoche, so daß die Erde bereits für unsere Gegenwart die Kulmination, die eigentliche Mitte ihrer Entwickelung, überschritten hat. Sie müssen daraus ersehen, daß die Erde sich bereits in absteigender Entwickelung befindet. Wir haben also in unserer Zeit durchaus damit zu rechnen, daß die Erde in absteigender Entwickelung ist. Ich habe ja öfter darauf aufmerksam gemacht, daß das sogar mit den Ergebnissen der materialistischen Geologie heute durchaus übereinstimmt.
Eduard Sueß macht in seinem Buche «Das Antlitz der Erde» darauf aufmerksam, daß die Schollen der Erde, auf denen wir heute herumtreten, eigentlich einer schon ersterbenden Erde angehören. Die Erde war sozusagen während der atlantischen Epoche in ihrem mittleren Alter. Da war sie voll inneren Lebens und man fand auf der Erde nicht diejenigen Gebilde, die man heute als Gesteine findet, die zerbröckeln, sondern da fand man das Mineralische in dem Irdischen so tätig, wie heute das Mineralische etwa in einem tierischen Organismus tätig ist, wo es ja auch höchstens, wenn der tierische Organismus krank ist, in allerlei Ablagerungen sich ergibt. Wenn man aber den tierischen Organismus gesund hat, so bilden sich als Ablagerungen nur etwa die Knochen. Aber diese haben auch noch ein inneres Leben. Sie haben nicht jenes Erstorbensein, das verstäubt, wie unsere Gebirge, die Felsen unserer Gebirge verstäuben. Dieses Verstäuben der Felsen unserer Gebirge ist eben einfach das Zeugnis für die schon in einem Todesprozeß, in einem Sterbeprozeß befindliche Erde.
Wie gesagt, das ist heute schon eine Erkenntnis der gewöhnlichen materialistischen Geologie. Anthroposophie muß nun zu dem hinzufügen, daß wirklich seit der Mitte der atlantischen Epoche die Erde in einem absteigenden Entwickelungsprozeß ist. Aber zur Erde müssen wir rechnen alles dasjenige, was der Erde angehört, die Pflanzen, die Tiere und vor allen Dingen den physischen Menschen. Der physische Mensch gehört zur Erde. Und indem die Erde in einem absteigenden Prozeß ihrer Entwickelung ist, ist auch der physische Menschenleib durchaus in einem absteigenden Entwickelungsprozeß. Anders ausgedrückt, esoterischer ausgedrückt, bedeutet das folgendes: Seit der Mitte der atlantischen Zeit ist eigentlich alles dasjenige fertig, was sich zuerst veranlagt hat in dem Wärmeleib des Saturn. Der menschliche physische Leib war in der Mitte der atlantischen Zeit fertig. Dann hat er sich schon in einer absteigenden Linie entwickelt.
Als nun die Zeit des Mysteriums von Golgatha herankam, da war im Grunde über die ganze Erde hin im wesentlichen – die Entwickelung geht ja nicht gleichmäßig, es erscheint eine Entwickelungsphase bei einem Volke etwas früher, bei dem andern Volk oder der andern Rasse etwas später -, aber im wesentlichen, im Durchschnitt war um die Zeit, als das Mysterium von Golgatha eintrat, die Entwickelung des physischen Wesens des Menschen so, daß eigentlich für die gesamte Menschheit in Aussicht stand, sich nicht weiter auf der Erde verkörpern zu können, das heißt, diese absteigende Erdenentwickelung nicht weiter mitmachen zu können.
Das war etwas, was man in Eingeweihtenschulen schon durchaus wußte, was man natürlich auch heute wissen kann: daß um die Zeit des Mysteriums von Golgatha der menschliche physische Leib so weit im Verfall war, daß die Menschen, die dazumal verkörpert waren, oder die kurz nachher verkörpert waren, so etwa bis gegen das 4. Jahrhundert hin, vor der Gefahr standen, die Erde wüst und leer zu lassen, in der Zukunft keine Möglichkeit zu finden, herunterzusteigen aus der geistig-seelischen Welt und einen physischen Körper aus physischen Erdenmitteln heraus zu formen. Diese Gefahr war da. Es hätte also der Mensch eigentlich seiner Erdenbestimmung untreu werden müssen. Das Zusammenwirken der ahrimanischen und der luziferischen Mächte hatte es in der Tat so weit gebracht, daß zur Zeit des Mysteriums von Golgatha die Menschheit eigentlich auf der Erde aussterben sollte. Und durch dasjenige, was mit dem Mysterium von Golgatha geschehen ist, wurde, man möchte sagen, die Menschheit von dem Aussterben geheilt. Es wurde dem physischen Leib des Menschen wiederum eine entsprechende Frische beigebracht, so daß die Menschen nun die weitere Erdenentwickelung so durchmachen können, daß sie wiederum herunterkommen können aus geistig-seelischen Welten und die Möglichkeit haben, überhaupt physische Leiber zu bewohnen. Das war die ganz reale Wirkung des Mysteriums von Golgatha.

Ich habe es bereits öfter angedeutet, daß diese Wirkung in solcher Linie liegt, unter anderem einmal in einem Vortragszyklus, der den Titel trägt «Von Jesus zu Christus», der in Karlsruhe gehalten worden ist, und der ja, weil gewisse Wahrheiten, von denen viele Leute wollen, daß sie verhüllt bleiben, einmal aus einem esoterischen Pflichtgefühl heraus ausgesprochen wurden, gerade am meisten angefeindet worden ist. Ja, man kann sagen, von gewissen Seiten her begann überhaupt die Feindschaft gegen Anthroposophie gerade von diesem Zyklus aus. Nun, das war also die reale Wirkung nach der einen Seite hin. Man kann dieselbe Tatsache natürlich auch in mannigfaltiger anderer Weise aussprechen. In jenem Zyklus habe ich sie anders ausgesprochen, aber dasjenige, was ich heute charakterisiere, ist eben, nur von einer etwas andern Seite her erfaßt, dasselbe.
Es war also so, daß durch das Mysterium von Golgatha die Wachstums- und Gedeihenskräfte des physischen Menschen neu angefacht worden sind. Dadurch ist die Möglichkeit herbeigeführt, daß der Mensch in den Schlafzuständen einen Impuls erhält, den er sonst nicht erhalten würde. Die Gesamtentwickelung des Menschen auf der Erde verläuft ja in Wachzuständen und in Schlafzuständen. Im Schlafzustande bleiben physischer Leib und Ätherleib zurück. Das Ich und der astralische Leib machen sich vom Einschlafen bis zum Aufwachen selbständig. Während dieses Selbständigmachens im Schlafe geschieht namentlich die Einwirkung der Christus-Kraft bei denjenigen Menschen, die sich durch den nötigen Seeleninhalt in entsprechender Weise für den Schlafzustand bereithalten. Also die Einwirkung durch die Christus-Kraft geschieht vorzugsweise während des Schlafzustandes.

Nun stellen Sie sich einmal vor, daß in demjenigen Zeitpunkte, der biblisch bildlich angedeutet wird durch das Himmelfahrtsbild, die Jünger so weit hellsichtig geworden sind, daß sie auf dasjenige sehen, was eigentlich Geheimnis der Erdenentwickelung ist. Die Geheimnisse der Erdenentwickelung gehen eigentlich vor dem gewöhnlichen Bewußtsein des Menschen vorbei. Das gewöhnliche Bewußtsein kann gar nicht wissen, ob nicht in irgendeinem Punkte der Menschheitsentwickelung etwas für die Erdenentwickelung höchst Bedeutsames geschieht. Es geschieht auch so manches, nur achtet das gewöhnliche Bewußtsein nicht darauf. Und die Darstellung der Himmelfahrtsszene bedeutet eigentlich, daß die Jünger Christi in diesem Augenblick fähig geworden sind, etwas sehr Bedeutsames zu beobachten, was sozusagen hinter den Kulissen der Erdenentwickelung vor sich geht.
Das, was sie gesehen haben, zeigte ihnen im Bilde diese Aussicht, die für die Menschen gekommen wäre, wenn das Ereignis von Golgatha nicht geschehen wäre. Es stand vor ihnen in geistiger Leibhaftigkeit, was geschehen wäre, wenn das Ereignis von Golgatha nicht dagewesen wäre. Da wäre dieses geschehen: Die Menschenleiber wären so irdisch verfallen geworden, daß die Zukunft der Menschheit gefährdet gewesen wäre. So wären die physischen Menschenleiber geworden. Und das Ätherische, das in dem Menschen ist, diese ätherischen Leiber, die wären ihrer Anziehungskraft gefolgt. Denn der Ätherleib ist eigentlich etwas, was fortwährend nicht nach der Erde strebt, sondern fortwährend hinauf nach der Sonne strebt. Wir sind ja als Menschen so konstituiert, daß unser physischer Leib Erdenschwere hat, unser ätherischer Leib Sonnenleichtigkeit hat. Der ätherische Leib will fortwährend nach der Sonne streben. Wenn nun der physische Menschenleib so geworden wäre, wie er hätte werden müssen ohne das Mysterium von Golgatha, dann wären eben die ätherischen Menschenleiber ihrem Drange gefolgt, nach der Sonne zu streben, und die Menschheit hätte auf der Erde als Erdenmenschheit dadurch natürlich aufgehört.

Die Sonne ist in dem Sinne, wie das hier öfter charakterisiert worden ist, der Wohnplatz des Christus bis zum Mysterium von Golgatha. Der ätherische Leib des Menschen strebt zu Christus hin, indem er sonnen-wärts strebt. Und nun stellen Sie sich das Bild des Himmelfahrtstages vor: Der Christus erhebt sich vor den Seelenaugen seiner Jünger nach oben. Das heißt, es wird den Seelenaugen vorgezaubert, wie das Ätherische des Menschen, das aufwärtsstrebt, sich mit der Kraft, mit dem Impuls des Christus vereinigt, wie also der Mensch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha vor der Gefahr stand, seinen ätherischen Leib wolkenwärts, gegen die Sonne hin ziehen zu sehen, wie aber der Christus das, was da sonnenwärts strebt, zusammenhält.
Dieses Bild muß man eben im richtigen Sinne verstehen. Dieses Bild ist eigentlich eine Warnung. Der Christus bleibt schon mit der Erde vereinigt, aber er gehört zu denjenigen Kräften im Menschen, die eigentlich sonnenwärts streben, die eigentlich fort wollen in aller Zukunft von der Erde. Der Christus-Impuls aber hält den Menschen auf der Erde fest.
In diesem Himmelfahrtsbilde erscheint also dasjenige vor dem Seelenauge der Jünger, was hätte werden sollen ohne das Mysterium von Golgatha. Stellen Sie sich vor, das Mysterium von Golgatha wäre nicht geschehen und eine Schar von Menschen wäre so hellsichtig geworden wie die Jünger in diesem Momente. Dann würden sie gesehen haben, wie von gewissen Menschen die Ätherleiber von der Erde weg zur Sonne hingehen, und sie hätten gewußt, diesen Weg nehmen die Ätherleiber. Dasjenige, was am Menschen ätherischirdisch ist, das wird zur Sonne entrückt.

Nun hat aber das Mysterium von Golgatha stattgefunden. Der Christus rettet für die Erde dieses Sonnenwärtsziehende. Und in diesem zur Sonne Hinstrebenden, aber von dem Christus Gehaltenen, erscheint gerade diese Tatsache, daß der Christus mit der Menschheit der Erde verbunden bleibt. Aber da liegt eines vor. Der Christus hat durch das Mysterium von Golgatha eigentlich ein kosmisches Ereignis in die Erdenentwickelung hineingestellt. Der Christus kam herunter aus geistigen Höhen, verband sich im Menschen Jesus von Nazareth mit der Menschheit, ging durch das Mysterium von Golgatha, hat seine Entwickelung mit der Erdenentwickelung vereint. Es war eine Tat, die für die ganze Menschheit geschehen ist.
Also fassen Sie das richtig auf: Für die Menschheit war das Mysterium von Golgatha geschehen. Der hellsichtige Blick muß sozusagen immer schauen, wie für die Menschheit die der Erde enteilen wollenden Ätherkräfte des Menschen sich mit dem Christus vereinigen, so daß der Christus sie bei der Erdenentwickelung halten kann. Das gilt für die Menschheit.
Aber bedenken Sie das Folgende. Nehmen wir einmal an, nur ein kleines Häuflein von Menschen hätte sich dazu verstanden, eine Erkenntnis von solchen Tatsachen sich zu erwerben, die mit dem Mysterium von Golgatha zusammenhängen, und dann gäbe es einen großen Teil der Menschheit, wie es tatsächlich eigentlich auch in Wirklichkeit der Fall ist, der nicht anerkennt die Bedeutung des Ereignisses von Golgatha. Wir würden also die Erde bevölkert haben mit einer kleinen Anzahl wirklicher Christus-Bekenner und mit einer großen Anzahl von solchen, die das Mysterium von Golgatha seinem Inhalte nach nicht anerkennen. Wie ist es denn mit denen? Wie verhalten sich diese Menschen, die das Mysterium von Golgatha nicht anerkennen, zu diesem Mysterium von Golgatha, oder besser gesagt, wie verhält sich das Mysterium von Golgatha, die Tat Christi, zu diesen Menschen? Nun, die Tat des Christus auf Golgatha ist eine objektive Tat, hängt in ihrer kosmischen Bedeutung nicht von dem ab, was die Menschen über sie glauben.
Eine objektive Tatsache ist in sich wesenhaft, so wie sie ist. Wenn ein Ofen warm ist, wird er nicht dadurch kalt, daß eine Anzahl von Leuten glaubt, er sei kalt. Das Mysterium von Golgatha ist eine Rettung der Menschheit vor dem Zerfall des physischen Leibes, gleichgültig, was die Menschen darüber glauben oder nicht glauben. Das Mysterium von Golgatha ist also geschehen für alle Menschen, auch für diejenigen, die nicht daran glauben. Das muß natürlich zunächst festgehalten werden.
Aber Sie haben wohl richtig verstanden: Dieses Mysterium von Golgatha ist ja geschehen, um dem physischen Menschenleib frische Kräfte zuzuführen, um also gewissermaßen die Menschheit der Erde zu erneuern, zu erfrischen bis zu dem Grade, bis zu dem es nötig ist, sie zu verjüngen. Das ist geschehen. Dadurch ist die Möglichkeit herbeigeführt, daß die Menschen auf Erden Leiber finden können, in denen sie sich auch für eine gewisse, noch sehr weitreichende Zukunft inkarnieren können. Aber damit gehen doch die Menschen nur zunächst als geistig-seelisches Wesen durch solche nun verjüngten Erdenleiber durch; sie können immer wieder erscheinen auf Erden. Der Christus-Impuls, der nun auch für das Geistige des Menschen seine Bedeutung haben soll, nicht für das Leibliche allein, er kann sich erstrecken auf den Wachzustand. Aber er könnte sich nicht auf den Schlafzustand erstrecken, wenn die Seele nicht die Erkenntnis dieses Christus-Impulses aufnehmen würde.
Also man möchte sagen: Das Mysterium von Golgatha wäre für die Wachzustände des Menschen geschehen, auch wenn die Menschen die Erkenntnis von diesem Mysterium von Golgatha nicht aufgenommen hätten. Es wäre aber dann nicht geschehen für den Schlafzustand des Menschen. Und dasjenige, was sich daraus hätte ergeben müssen, wäre das Folgende gewesen: Die Menschen würden sich zwar auf Erden immer wiederum inkarniert haben. Sie würden aber so geschlafen haben, daß sie in ihrem Geistig-Seelischen den Zusammenhang mit dem Christus verlieren müßten, wenn sie sich keine Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha angeeignet hätten.

Hier haben Sie allerdings den Unterschied zu denjenigen Menschen, die sozusagen nichts wissen wollen von dem Mysterium von Golgatha. Für ihre Leiber, für die Möglichkeit ihres Erdenlebens hat der Christus sein Erdenwerk auf Golgatha getan. Er hat es auch für die ungläubigsten Heiden getan. Für das Geistig-Seelische ist aber notwendig, daß der Christus-Impuls sich auch in den Schlafzuständen in die Seele des Menschen senken kann. Dazu ist notwendig, daß der Mensch wissentlich sich bekennt zu dem Inhalte des Mysteriums von Golgatha. Die richtige geistige Wirkung vom Mysterium von Golgatha kann also nur hervorgehen aus der richtigen Anerkennung des Inhaltes des Mysteriums von Golgatha. Das heißt, das mußte für die Erdenmenschheit eintreten, daß auf der einen Seite erkannt wird: Den enteilenden, den immerfort nach der Sonne sich aufschwingenden Ätherleib hält der Christus; aber des Menschen seelisch-geistiges Wesen, sein Ich und sein astralischer Leib, die müssen den Christus-Impuls empfangen – indem sie sich durch das Bekenntnis dazu vorbereiten während des Wachens – in dem Zustande zwischen dem Einschlafen und Aufwachen.

So können wir sagen:
Wir lassen das Himmelfahrtsbild vor unsere Seele treten. Die Jünger, hellsichtig geworden, sehen die Tendenz der ätherischen Leiber der Menschen, sonnenwärts zu steigen. Der Christus vereinigt sich mit diesem Streben, hält es. Das ist das gewaltige Bild: die Rettung des Physisch-Ätherischen des Menschen durch den Christus im Himmelfahrtsbilde.

Aber zu gleicher Zeit: Die Jünger ziehen sich zurück, sie werden nachdenklich, sie werden tief versonnen. Denn in ihrer Seele lebt die Erkenntnis: Durch das Mysterium von Golgatha ist zunächst für das Physisch-Ätherische der Menschheit alles geschehen. Was aber geschieht mit dem Geistig-Seelischen? Woher kommt dem Menschen die Kraft, in das Geistig-Seelische, in das Ich und den astralischen Leib den Christus-Impuls aufzunehmen?

Der Christus-Impuls hat sich durch das Mysterium von Golgatha auf der Erde so vollzogen, daß er nur durch geistige Erkenntniskräfte durchdrungen und erfaßt werden kann. Keine materialistische Erkenntniskraft, keine materialistische Wissenschaft kann das Mysterium von Golgatha verstehen. Da muß die Seele in sich die Kraft geistigen Erkennens, die Kraft geistigen Anschauens, die Kraft geistigen Empfindens (s. dazu auch: „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten “ oder auch“ 6 Nebenübungen“) aufnehmen, um den Christus-Impuls, wie er sich auf Golgatha mit den Erdenimpulsen vereinigt hat, auch verstehen zu können.
Daß das geschehen kann, dazu vollendete der Christus Jesus seine Tat auf Golgatha. Und er vollendete sie so, daß er zehn Tage nach dem Himmelfahrtsereignis den Menschen die Möglichkeit sandte, nun auch mit dem innerlich Geistig-Seelischen, mit dem Ich und dem astralischen Leibe, sich mit dem Christus-Impulse zu durchdringen.

Das ist das Bild vom Pfingstfesten: das Durchdringen des Geistig-Seelischen mit der das Mysterium von Golgatha verstehenden Kraft, die Sendung des Heiligen Geistes. Der Christus hat seine Tat für die ganze Menschheit vollbracht. Dem einzelnen, der diese Tat verstehen soll, dem einzelnen menschlichen Individuum hat er den Geist gesandt, so daß das Seelisch-Geistige den Zugang zu der allgemeinen Menschheitstat findet. Durch den Geist muß der Mensch innerlich geistigseelisch das Christus-Mysterium sich aneignen.

Es stehen die beiden Bilder hintereinander in der Entwickelungs-geschichte der Menschheit so da, daß uns das Himmelfahrtsbild sagt: Für den physischen und den ätherischen Leib ist das Ereignis von Golgatha allmenschlich vollzogen. Der einzelne Mensch muß es für sich fruchtbar machen, indem er den Heiligen Geist aufnimmt. Dadurch wird der Christus-Impuls für jeden einzelnen individuell.
Und jetzt können wir noch etwas hinzufügen zu der Charakteristik des Himmelfahrtsbildes. Solche geistige Anschauungen, wie sie die Jünger am Himmelfahrtstage hatten, beziehen sich eigentlich immer auf etwas, was der Mensch schon in dem einen oder andern Bewußtseinszustande erlebt. Nun wissen Sie: Nach dem Tode erlebt der Mensch den Fortgang seines ätherischen Leibes. Er legt mit dem Tode den physischen Leib ab. Einige Tage behält er seinen ätherischen Leib, dann löst sich der ätherische Leib auf; er vereinigt sich wirklich mit der Sonne. Diese Auflösung nach dem Tode ist Vereinigung mit dem Sonnenhaften, das den Raum, in dem sich auch die Erde befindet, durchströmt. In diesem sich vom Menschen entfernenden ätherischen Leibe schaut der Mensch seit dem Mysterium von Golgatha den Christus mit, der sein Retter geworden ist im künftigen Erdendasein; so daß eigentlich seit dem Mysterium von Golgatha jeder Mensch, der da stirbt, jenes Himmelfahrtsbild schon vor seiner Seele hat, das die Jünger durch ihren besonderen Seelenzustand an jenem Tage sahen.
Aber für denjenigen, der auch das Pfingstgeheimnis in sich aufnimmt, der den Heiligen Geist sich nahekommen läßt, für den ist dieses Bild nach dem Tode der größte Trost, den er haben kann, denn er durchschaut nun die ganze Wahrheit des Mysteriums von Golgatha, und das Bild wird für ihn zum Tröste. Es sagt ihm gewissermaßen dieses Himmelfahrtsbild: Du kannst vertrauen mit allen deinen folgenden Erdenleben der Erdenentwickelung, denn der Christus ist durch das Mysterium von Golgatha der Retter der Erdenentwickelung geworden.

Für denjenigen, der mit seinem Ich und seinem astralischen Leibe, also erkennend, empfindend nicht durchdringt den Inhalt des Mysteriums von Golgatha, für den ist dieses Bild ein Vorwurf, so lange ein Vorwurf, bis er erkannt hat: auch er muß dieses Mysterium von Golgatha verstehen lernen. Es ist gewissermaßen eine Mahnung nach dem Tode: Versuche für das nächste Erdenleben solche Kräfte dir anzueignen, daß du das Mysterium von Golgatha auch verstehen kannst. Es ist nur natürlich, daß zunächst dieses Bild der Himmelfahrt eine Mahnung ist, denn die Menschen können ja in den folgenden Erdenleben eben versuchen, die Kräfte, an die sie gemahnt worden sind, anzuwenden und sich ein Verständnis des Mysteriums von Golgatha anzueignen.

Aber sehen Sie jetzt, wie der Unterschied ist zwischen denjenigen Menschen, die mit ihren innerlichen Glaubens-, Erkenntnis-, Empfindungskräften sich zu dem Mysterium von Golgatha bekennen, und denen, die sich nicht dazu bekennen. Das Mysterium von Golgatha ist eben nur für den physischen und den Ätherleib für alle Menschen dagewesen. Die Sendung des Geistes, das Pfingstgeheimnis besagt, wie das Seelische und Geistige des Menschen an den Früchten des Mysteriums von Golgatha nur teilhaben können, wenn der Mensch sich aufschwingt zur wirklichen Anerkenntnis des Inhaltes des Mysteriums von Golgatha.
Damit aber ist zugleich gesagt – weil dieser Inhalt des Mysteriums von Golgatha nur begriffen werden kann in geistiger Erkenntnis, nicht in materieller Erkenntnis -, daß das richtige Pfingstfest nur verstanden werden kann, wenn die Menschen verstehen, daß die Aussendung des Geistes die Forderung an die Menschheit ist, sich zur Geist-Erkenntnis allmählich durchzuarbeiten. Denn nur durch Geist-Erkenntnis kann das Mysterium von Golgatha verstanden werden.
Daß es verstanden werden soll, das ist die Forderung des Pfingstgeheimnisses.

Daß es für alle Menschen geschehen ist, das ist die Offenbarung des Himmelfahrtsgeheimnisses. Diese zwei Dinge stehen in der christlich interpretierten Menschheitsentwickelung hintereinander: die Himmelfahrtsoffenbarung, daß der Christus seine Tat als eine allmenschliche vollbracht hat, das Pfingstgeheimnis als eine Forderung an den Menschen, als einzelner den Impuls des Mysteriums von Golgatha in sich aufzunehmen.

So kann man wohl sagen, daß Anthroposophie in bezug auf diese Dinge darin besteht, das rechte Verständnis zu gewinnen für das Pfingstgeheimnis in seinem Anschlüsse an die Himmelfahrtsoffenbarung. Und wenn wir empfinden: Anthroposophie steht da wie eine Art erklärender Herold gerade für diese Frühlingsfeste, dann haben wir zu den Farben, die Anthroposophie für uns hat, eben wieder eine, die ihr notwendig ist, hinzugefügt.

Das soll Ihnen etwas von dem sagen, was anthroposophisch eine Stimmung abgeben kann für das richtige Fühlen des Himmelfahrtsund Pfingstfestes. Die Bilder, die mit solchen Festen sich vor die Seele des Menschen hinstellen, sind wie Lebewesen. Wir können immer mehr ihrem Inhalte nahekommen, wir können sie immer besser und besser kennenlernen. Wenn die Menschen sich wieder aufschwingen dazu, das Jahr zu erfüllen mit solchem geistigem Verständnis der Festeszeiten, dann wird dieses Jahr einen konkreten, damit aber einen kosmisch-spirituellen Inhalt bekommen. Und der Mensch wird schon in dem Erdendasein das kosmische Dasein miterleben lernen.
Man möchte sagen: Wenn das Pfingstfest, das vor allen Dingen auch ein Fest der Blumen ist, in der richtigen Weise erfühlt ist, da geht der Mensch überall hinaus, wo die Blumen sprießen, die sich öffnen unter der Einwirkung des Sonnenhaften, sich öffnen unter dem Ätherisch-Astralischen – und der Mensch empfindet in der sich beblumenden Erde das irdische Abbild desjenigen, was sich dann zusammendrängt in dem Himmelfahrtsbilde des Christus, in dem sich anschließenden Bilde der feurigen Zungen über den Häuptern der Jünger. Die sich öffnende Menschenbrust mag auch symbolisiert sein in der sich der Sonne öffnenden Blume. Und dasjenige, was von der Sonne herunterkommt, um der Blume die nötige Fruchtkraft zu geben, das mag symbolisieren die feurigen Zungen, die sich niedergießen über die Häupter der Jünger.

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Lesetipp:
Friedrich Benesch: Das Ereignis der Himmelfahrt Christi / Verlag Urachhaus

DAS WESEN DES GEBETES – Rudolf Steiner
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Die Jahresfeste, die Sprachentwicklung, der Christus-Impuls und: Nach dem Tod lebt das Ich als Geistig-Seelisches unter geistig-seelischen Götterwesen – Rudolf Steiner
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