Durch die eigentümliche Konfiguration der materialistischen Kultur droht das Denken, das Vorstellen beschränkt, borniert zu werden… R.Steiner

Rudolf Steiner

Mitteleuropa zwischen Ost und West
Kosmische und menschliche Geschichte
Sechster Band GA 174 a

Kurztextauszug aus Zwölfter Vortrag, 4. Mai 1918

Charakterisierung der Zeittendenzen:
Borniertheit im Denken, Philistrosität im Fühlen, Ungeschicklichkeit im Wollen:

Aber wie oft ist es gerade unter uns betont worden, daß die Zeit herangerückt ist, in der die Menschen erwachen müssen zum freien, auf sich selbst gestellten Bewußtsein, in dem die Menschen nicht mehr verschlafen dürfen, was um sie herum vorgeht. Diese Zeit rückt mit Riesenschritten heran. Die Menschen müssen lernen, ihre Seelen aufzuschließen, um zu sehen, was wirklich da ist. Denn, wie gesagt, durch die eigentümliche Konfiguration der materialistischen Kultur droht das Denken, das Vorstellen beschränkt, borniert zu werden.

Geisteswissenschaft gibt Begriffe, Vorstellungen, die nicht gestatten, daß man in seinem Denken borniert wird. Man wird fortwährend aufgefordert, gerade durch die geisteswissenschaftlichen Begriffe, von den verschiedensten Seiten eine Sache zu betrachten. Darum ärgern sich gerade heute auch noch viele, die in den geisteswissenschaftlichen Reihen stehen, wenn sie hören: Nun kommt ein neuer Zyklus, da wird die Sache von ganz anderer Seite angefaßt. — Aber gerade das ist unvermeidlich, daß die Dinge von den verschiedensten Seiten angefaßt werden, und daß man endlich einmal hinauskommt über etwas, was ich
nennen möchte die Verabsolutierung des Urteils.

Es läßt sich nicht gut die Wahrheit, die im Geiste erfaßt wird, in scharfen Konturen fassen, weil der Geist ein Bewegliches ist. Geisteswissenschaft arbeitet also der Borniertheit entgegen in bezug auf das Denken. Es ist natürlich schwer, dies der Gegenwart zu sagen, aber notwendig ist es.

Das zweite, was man in der Seele beobachtet, ist das Fühlen. In bezug auf das Fühlen, auf die Gefühlswelt, – welches ist da die Tendenz, der die Menschheit aus der materialistischen Kultur heraus zustrebt?
Man kann sagen: Gerade auf diesem Gebiete hat sie es reichlich weit gebracht. Auf dem Gebiete des Fühlens bringt die materialistische Kultur Engherzigkeit, Philistrosität hervor. Ins Riesengroße sich auszuwachsen, dazu ist die Philistrosität unserer materialistischen Kultur eigentlich ganz besonders veranlagt. Engherzigkeit der Interessen! Im engsten Kreise möchten sich die Menschen immer mehr und mehr abschließen. Aber der Mensch ist heute nicht mehr dazu berufen, im engsten Kreise sich einzuschließen, er ist heute dazu berufen, zu erkennen, wie er ein Ton ist in der großen kosmischen Symphonie.

Führen wir uns noch einmal etwas vor Augen, um gleich das, was hier gemeint ist, von einem umfassenden Standpunkte aus zu betrachten, etwas, was schon einmal hier erwähnt worden ist. Ich möchte sagen: Berechnen kann man—und heute hält man viel auf Berechnung—, in welch wundervoller Weise der Mensch sich eingliedert in den Kosmos. In einer Minute ist die Zahl unserer Atemzüge etwa achtzehn. Das gibt, multipliziert mit sechzig und vierundzwanzig in einem Tag: 25 920 Atemzüge. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden 25 920 Atemzüge! Versuchen Sie nun folgendes auszurechnen: Sie wissen, jedes Jahr rückt der Frühlingspunkt, der Aufgangspunkt der Sonne im Frühling um ein Stückchen am Himmelsgewölbe weiter. Gehen wir zurück in sehr ferne Zeiten. Die Sonne ist im Frühling aufgegangen im Stier, dann ein Stückchen weiter im Stier und wieder ein Stückchen weiter, bis sie in den Widder eingetreten ist, und dann wieder weiter, und so geht die Sonne herum, scheinbar natürlich. Wieviel Jahre braucht die Sonne, um so ruckweise immer ein Stückchen vorwärtszuschreiten, so daß sie wieder an dem selben Punkt ankommt? Viele solcher Rucke macht die Sonne: sie braucht 25 920 Jahre, um durch solche Rucke vorwärts zu kommen, das heißt, die Sonne vollendet einen Umkreis im großen Kosmos in 25 920 Jahren, in so viel Jahren, als wir Atemzüge in einem Tage machen.

Denken Sie sich, welch wunderbare Zusammenstimmung! Wir atmen im Tage 25 920mal, die Sonne rückt vor, und wenn sie den Ruck 25 920mal gemacht hat, wie wir unseren inneren Ruck, einen Atemzug, dann ist sie einmal herumgekommen um den Kosmos. So sind wir ein Abbild des Makrokosmos mit unserer Atmung.

Es geht weiter: Die Durchschnittslebensdauer – das kann natürlich viel weiter gehen, aber dafür sterben auch manche früher -, die Lebensdauer ist durchschnittlich siebzig, einundsiebzig Jahre. Was ist dieses eigentlich, dieses menschliche Leben? Es ist ja auch eine Summe von Atemzügen. Nur sind es andere Atemzüge. Beim gewöhnlichen physischen Atmen saugen wir die Luft ein und stoßen sie aus. In einem vierundzwanzigstündigen Tage, wenn wir ordentliche, rechtschaffene Leute sind und nicht die Nächte verlumpen, da machen wir eine große Einatmung unseres Ich und des astralischen Leibes beim Aufwachen, und atmen wiederum Ich und astralischen Leib aus beim Einschlafen: das ist auch ein Atemzug. Jeder Tag ein Atemzug unseres physischen und ätherischen Leibes gegenüber dem Ich und astralischen Leib. Wie oft machen wir das in einem Leben, das ungefähr siebzig, einundsiebzig Jahre dauert? Rechnen Sie sich das aus, wieviel Tage der Mensch eigentlich lebt: 25 920 Tage! Das heißt, nicht nur in einem Tage ahmen wir mit unseren Atmungsrucken den Gang der Sonne im Weltengang nach, indem wir so viel Atmungszüge entwickeln, als die Sonne Rucke macht, bis sie wieder an denselben Punkt im Kosmos zurückkommt, sondern wir führen den großen Atem, das Einatmen des Ich und des astralischen Leibes in den physischen und Ätherleib und das Ausatmen des Ich und astralischen Leibes, in den siebzig, einundsiebzig Jahren ebenso oft aus, als wir in einem Tage atmen: 25920mal, so viel wie die Sonne Rucke macht, bis sie wieder an denselben Punkt zurückkommt. Solche Dinge, wodurch sich uns zeigen kann, wie wir in der großen Harmonie des Alls mit unserem Menschenleben zahlenmäßig und auch sonst darinnenstehen, könnten wir viele anführen, und sie würden nicht minder überraschen, nicht minder großartig anmuten, als wenn wir recht empfinden, was ich eben ausgeführt habe.

Vieles ist verborgen in den Verhältnissen, in denen der Mensch in der Welt drinnensteht, aber dieses Verborgene hat seine tiefe Wirkung, weil es eigentlich dasselbe ist, was in alten Zeiten als die Sphärenharmonie aufgefaßt worden ist. Das allerdings ruft unser Interesse für die ganze Welt auf. Wir lernen allmählich verstehen, daß wir von uns als Menschen gar nichts wissen, wenn wir unser Interesse philiströs eingeschränkt halten auf den allernächsten Umkreis. Das aber ist das Charakteristikum der neueren Zeit immer mehr und mehr geworden, Philistrosität!
Ja, Philistrosität ist geradezu die Grundstimmung der religiösen Weltanschauung geworden; und von da aus strahlte ja in viele Gemüter hinein diese Grundstimmung der Philistrosität.

…Aber auch dieses Kapitel ist ja eigentlich in ein recht egoistisches Fahrwasser gebracht worden. Im Grunde genommen fragt der Mensch heutzutage: Was tritt ein mit meinem seelisch-geistigen Leben, wenn ich durch die Pforte des Todes getreten bin? – Und darin stecken viele egoistische Impulse.
Gerade die Unsterblichkeitsfrage würde unter dem Einfluß der Geisteswissenschaft eine ganz andere Gestalt annehmen. Man würde in der Zukunft nicht allein fragen: Inwiefern ist das geistig-seelische Leben nach dem Tod eine Fortsetzung des Lebens hier auf Erden -, sondern: Inwiefern ist das Leben auf der Erde hier eine Fortsetzung des Lebens, das ich früher in der geistig-seelischen Welt zugebracht habe? – Da wird man dann hinblicken können auf so etwas wie das Folgende.
Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes tritt, so ist bei ihm in der ersten Zeit das imaginative Vorstellen recht stark ausgebildet; eine umfassende Bilderwelt entrollt sich ihm imaginativ. Ich möchte das nennen ein Entrollen der Bilderwelt. Das zweite Drittel des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt ist vorzugsweise von Inspirationen ausgefüllt. Inspirationen treten im menschlichen Leben im zweiten Drittel dieses Lebens zwischen dem Tod und einer neuen Geburt auf. Und Intuitionen im letzten Drittel. Nun bestehen Intuitionen darin, daß der Mensch sich mit seinem Selbst, seinem Seelischen in andere Wesenheiten versetzt, und das Ende dieser Intuitionen besteht darin, daß er sich in den physischen Leib versetzt. Dieses Sich-Versetzen in den physischen Leib durch die Geburt ist bloß die Fortsetzung des hauptsächlich intuitiven Lebens des letzten Drittels zwischen Tod und neuer Geburt. Und das muß eigentlich auftreten, wenn der Mensch ins Physische hereintritt, das muß ein besonders charakteristischer Zug sein beim Kinde: das Sich-Versetzen ins andere Leben. Es muß das tun, was andere tun, nicht was aus einem selbst hervorgeht, sondern imitierend, nachahmend, was der andere tut.
Warum mußte ich beschreiben, als ich über «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» sprach, daß die Kinder in den ersten sieben Jahren vorzugsweise Nachahmer sind? Weil die Nachahmung, weil das Sich-Versetzen in andere die Fortsetzung der intuitiven Welt ist, die im letzten Drittel des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt da ist. Man sieht noch hereinströmen und hereinleuchten das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, wenn man recht sinnvoll das Leben des Kindes hier betrachtet.

Die Unsterblichkeitsfrage wird auf diese Basis gestellt werden müssen: Inwiefern ist das Leben hier auf der Erde eine Fortsetzung des seelisch-geistigen Lebens? -Dann wird man aber auch lernen, dieses Leben auf der Erde besonders wichtig zu nehmen, aber nicht im egoistischen Sinn. Dann wird man sich vor allen Dingen an das Verantwortlichkeitsgefühl halten, das so begründet wird, daß man sich sagt:

Ich habe fortzusetzen hier dasjenige, was mir auferlegt ist dadurch, daß ich etwas als Erbschaft aus dem Seelisch-Geistigen mitgebracht habe. – Es wird einen ungeheuren Umschwung bedeuten in der Auffassung der Menschen, wenn sie von dem anderen Gesichtspunkte aus sprechen werden. Denn dasjenige, was die Seele zwischen dem Tod und einer neuen Geburt erlebt, dieser große geistige Umkreis, der erlebt wird in Imaginationen, Inspirationen, Intuitionen, das ist für dort das Diesseits; und was wir hier erleben, ist für dort das Jenseits. Und dieses Jenseits verstehen wollen, würdigen wollen, das wird ein Teil der neugestalteten Unsterblichkeitsfrage werden, die in weniger egoistischer Weise in die geistige Entwickelung der Menschheit eingreifen wird, als es vielfach die Unsterblichkeitsfrage in der religiösen Entwickelung der verflossenen Jahrtausende getan hat.

Solche Dinge wollte ich schildern, um zu zeigen, wie die Menschheit herauskommen soll aus der Philistrosität, um zu zeigen, wie man eben kein Philister ist. Man ist kein Philister, wenn man hinausgehen kann über das engste Interesse, und wenn man auch ein Interesse hat dafür, daß man hier auf Erden in einem Tag 25 920 Atemzüge macht, was der Anzahl der Tage in einem Erdenleben entspricht und was auch den «Rucken» der Sonne entspricht, die sie vollführt, indem sie herumkreist in der kosmischen Ellipse…

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Die Philosophie der Freiheit. Grundlegende Gedanken zum Erkennen der Welt / Rudolf Steiner
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