Rudolf Steiner: Albert Schweitzer und – „Herr Richter, es waren schöne Hühner“

AUS:


RUDOLF STEINER Drei Perspektiven der Anthroposophie – Kulturphänomene
geisteswissenschaftlich betrachtet
GA 225

Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach
zwischen dem 5. Mai und 23. September 1923

Kurzauszug über Albert Schweitzer…
3.Vortrag: Kulturphänomene 1.Juni 1923

Albert Schweitzer:
„Der Bankerott des Kulturstaates, der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt offenbarer wird,
richtet den modernen Menschen zugrunde. Die Demoralisation des einzelnen durch die Gesamtheit ist in vollem Gange.
Ein Unfreier, ein Ungesammelter, ein Unvollständiger, ein sich in humanitätlosigkeit Verlierender, ein seine geistige Selbständigkeit
und sein moralisches Urteil an die organisierte Gesellschaft Preisgebender, ein in jeder Hinsicht Hemmungen der Kulturgesinnung Erfahrender: so zog der moderne Mensch seinen dunklen Weg in dunkler Zeit. Für die Gefahr, in der er sich befand, hatte die Philosophie kein Verständnis. So machte sie keinen Versuch, ihm zu helfen. Nicht einmal zum Nachdenken über das, was mit ihm vorging, hielt sie ihn an.“

Im dritten Kapitel spricht dann Albert Schweitzer davon, daß eine wirkliche Kultur einen ethischen Grundcharakter haben müßte.
Frühere Weltanschauungen haben ethische Werte geboren; seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat man mit den alten ethischen Werten weitergelebt, ohne sie irgendwie zu verankern in einer Totalweltanschauung, und man bemerkte das gar nicht:
A.Schweitzer:
«Man lebte in der durch die ethische Kulturbewegung geschaffenen Situation weiter, ohne sich darüber klarzuwerden, daß sie nun unhaltbar geworden war, und ohne auf das, was sich zwischen den Völkern und in den Völkern
vorbereitete, auszublicken. So kam unsere Zeit, gedankenlos wie sie
war, zu der Meinung, daß Kultur vornehmlich in wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Leistungen bestehe und ohne Ethik oder mit einem Minimum von Ethik auskommen könne.
Autorität erlangte diese veräußerlichte Auffassung von Kultur in der öffentli-
chen Meinung dadurch, daß sie durchgängig auch von Personen vertreten wurde, denen nach ihrer gesellschaftlichen Stellung und nach ihrer wissenschaftlichen Bildung Kompetenz in Sachen des geistigen Lebens zuzukommen schien. Unser Wirklichkeitssinn besteht also darin, daß wir aus einer Tatsache durch Leidenschaften und kurzsichtige Nützlichkeitserwägungen die nächstliegend andere hervorgehen lassen, und so fort und fort. Da uns die zielbewußte Absicht
auf ein zu verwirklichendes Ganzes fehlt, fällt unsere Aktivität unter
den Begriff des Naturgeschehens.»

Und auch das sieht Albert Schweitzer mit voller Klarheit ein, daß die Leute, weil sie Kulturschöpferisches nicht mehr hatten, zum Nationalismus gekommen sind:

A.Schweitzer
«Bezeichnend für das krankhafte Wesen der Realpolitik des Nationalismus war, daß sie sich auf jede Weise mit dem Flitter des Ideals zu behängen suchte. Der Kampf um die Macht wurde zum Kampf für Recht und Kultur. Die egoistischen Interessengemeinschaften, die Völker untereinander gegen andere eingingen, präsentierten sich als Freundschaften und Seelenverwandtschaften. Als solche wurden sie in die Vergangenheit zurückdatiert, wenn die Geschichte auch mehr
von Erbfeindschaft als von innerer Verwandtschaft zu berichten wußte.
Zuletzt genügte es dem Nationalismus nicht, in seiner Politik jede Absicht auf das Zustandekommen einer Kulturmenschheit beiseite zu setzen. Er zerstörte noch die Vorstellung der Kultur selber, indem er die nationale Kultur proklamierte.“

Sehen Sie, auf den verschiedensten Gebieten des Lebens sieht schon Albert Schweitzer, man muß sagen, recht klar. Und er findet
Worte, um dieses Negative unserer Zeit auszudrücken. So, möchte ich sagen, ist es ihm auch ganz klar, was unsere Zeit geworden ist
durch den großen Einfluß der Wissenschaft. Da ihm aber auch klar ist, daß unsere Zeit nicht denken kann – ich habe Ihnen das an dem
Beispiel des Max Rubner gezeigt -, so weiß Albert Schweitzer auch, daß die Wissenschaft erst recht gedankenlos geworden ist und daher
in unserer Zeit gar nicht den Beruf zur Führung der Menschheit in der Kultur haben kann.
«Heute hat das Denken nichts mehr von der Wissenschaft, weil diese ihm gegenüber selbständig und indifferent geworden ist. Fort-
geschrittenstes Wissen verträgt sich jetzt mit gedankenlosester Weltanschauung. Es behauptet, es nur mit Einzelfeststellungen zu tun
zu haben, da nur bei diesen sachliche Wissenschaft gewahrt sei. Die Zusammenfassung der Erkenntnisse und die Geltendmachung ihrer
Konsequenzen für die Weltanschauung sei nicht seine Sache. Früher war jeder wissenschaftliche Mensch», so sagt Albert Schweitzer, «zu-
gleich ein Denker, der in dem allgemeinen geistigen Leben seiner Generation etwas bedeutete. Unsere Zeit ist bei dem Vermögen ange-
langt, zwischen Wissenschaft und Denken scheiden zu können. Darum gibt es bei uns wohl noch Freiheit der Wissenschaft, aber fast
keine denkende Wissenschaft mehr.»

Sie sehen, das Negative sieht Schweitzer außerordentlich klar, und er weiß auch zu sagen, worauf es ankommt: daß es darauf ankommt, den Geist wiederum in die Kultur hineinzubringen. Er weiß, daß die Kultur geistlos geworden ist. Aber ich habe heute vormittag im pädagogischen Vortrag ausgeführt, wie von dem, was in früherer Zeit die Menschen von der Seele wußten, nur die Worte geblieben sind.

Es wird fortgesprochen in Worten von der Seele, aber irgend etwas Reales wird mit den Worten nicht mehr verbunden. Und so ist es mit dem Geiste. Daher ist heute kein Bewußtsein vom Geiste vorhanden. Man hat nur das Wort. Und dann, wenn dann nun jemand so scharfsinnig das Negative der modernen Kultur charakterisiert hat, dann kann er höchstens noch dazu kommen, nach gewissen traditionellen Empfindungen, die man hat, wenn heute von Geist gesprochen wird – weil ja aber niemand etwas von Geist weiß -, da kann man dann höchstens dazu kommen zu sagen: Der Geist ist notwendig.

Aber wenn man sagen soll, wie der Geist nun in die Kultur hineinkommen soll, da wird es einem so — verzeihen Sie:

Als ich ein ganz kleiner Junge noch war, da lebte ich in der Nähe eines Dorfes,
und da waren einer Persönlichkeit, die zu den höchsten Honoratioren
des Dorfes gehörte, Hühner gestohlen worden. Nun kam es zu einem Prozeß. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung. Der Richter wollte durchaus herausbringen, wie groß er die Strafe bemessen sollte, und dazu war notwendig, daß eine Vorstellung erweckt wurde, wie denn die Hühner waren. Und da verlangte er von dieser Persönlichkeit, die zu den Honoratioren des Dorfes gehörte, sie solle beschreiben, was das für Hühner waren. – Also sagen Sie uns etwas Näheres, was
waren denn das für Hühner? Beschreiben Sie sie uns ein bißchen! —
Ja, Herr Richter, es waren schöne Hühner. – Da kann man nichts Rechtes damit anfangen, wenn Sie uns nicht etwas Genaueres sagen können! Sie haben diese Hühner doch gehabt, beschreiben Sie uns ein bißchen diese Hühner. – Ja, Herr Richter, es waren halt schöne Hühner! – Und so fuhr diese Persönlichkeit fort. Weiteres war nicht aus ihr herauszubringen als: Es waren schöne Hühner.
Und sehen Sie, da kommt ja nun auch im weiteren Kapitel Albert Schweitzer dazu, daß er positiv sagen soll, wie er sich nun vorstellt, daß eine totale Weltanschauung wieder werden soll.
„Welcher Art aber», so sagt er, „muß die denkende Weltanschauung sein, damit
Kulturideen und Kulturgesinnungen in ihr begründet sein können?
Optimistisch und ethisch.“

Es waren halt schöne Hühner! Optimistisch und ethisch muß sie sein. Ja, aber wie soll sie es sein? Denken Sie sich nur einmal, wenn ein Architekt jemandem ein Haus bauen sollte, und er will herausbekommen, wie das Haus sein soll, und der
Betreffende erwidert ihm nur: Das Haus soll fest sein, wettersicher, schön, und es soll sich gut drinnen wohnen lassen -, nun machen Sie den Plan und wissen, wie er es haben will! Aber gerade so ist es, wenn einem jemand sagt, eine Weltanschauung soll optimistisch und ethisch sein. Wenn man ein Haus bauen will, so muß man doch den Plan gestalten; das muß ein konkret gestalteter Plan werden.

Aber der so scharfsinnige Albert Schweitzer weiß nichts zu sagen als: Es
waren halt schöne Hühner. Oder: Das Haus soll schön sein, nämlich es soll optimistisch und ethisch sein.
Er geht sogar ein bißchen weiter, aber es kommt doch nicht viel anderes heraus als die schönen Hühner. Er sagt zum Beispiel, weil nun das Denken so sehr aus der Mode gekommen ist, weil das Denken gar nicht mehr gekonnt wird und die Philosophen selbst nicht bemerken, daß es gar nicht mehr da ist, sondern immer noch glauben, sie können denken, so sind viele Leute zur Mystik gekommen, die gedankenfrei arbeiten will, die ohne das Denken zu einer Weltanschauung
kommen will.
Nun sagt er: Ja, aber warum sollte man denn nicht auch mit dem Denken in die Mystik hineingehen? Also die Weltanschauung, die da kommen soll, muß mit dem Denken in die Mystik hineingehen. Ja, aber wie wird denn das dann? Das Haus soll fest, wettersicher, schön sein und so, daß man bequem drinnen wohnen
kann. Die Weltanschauung soll so sein, daß sie denkend in die Mystik
eindringt. Das ist genau dasselbe. Ein wirklicher Inhalt wird nirgends
auch nur spärlichst angedeutet. Das gibt es gar nicht.

Nun, wodurch unterscheidet sich denn Anthroposophie von einer solchen Kulturkritik? Mit dem Negativen kann sie ja ganz einverstanden sein, aber sie ist nicht zufrieden damit, das Haus so zu beschreiben: Es soll fest und wettersicher und schön und so sein, daß man bequem drinnen wohnen kann -, sondern sie macht die Pläne des Hauses, sie entwirft wirklich das Bild einer Kultur.
Nun, dagegen wehrt sich zwar Albert Schweitzer etwas, indem er sagt: «Die große
Revision der Überzeugungen und Ideale, in denen und für die wir leben, kann sich nicht so vollziehen, daß man in die Menschen unserer Zeit andere, bessere Gedanken hineinredet als die, die sie haben. Sie kommt nur so in Gang, daß die vielen über den Sinn des Lebens nachdenkend werden…»

Also das geht nicht, in die Menschen unserer Zeit bessere Gedanken hineinzureden als die, die sie schon haben, das geht nicht! Ja, was soll man dann tun im Sinne von Albert Schweitzer? Er ermahnt die Menschen, sie sollen in sich gehen, sie
sollen dasjenige aus sich herausholen, was sie aus sich selber haben,
damit man ihnen nicht irgendwie andere Gedanken, als sie schon haben, einzureden braucht.
Ja, aber indem die Menschen dasjenige in sich gesucht haben, was sie schon haben, kam eben das alles, was im Anfange steht:
«Wir stehen im Zeichen des Niederganges der Kultur.» – «Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war» und so weiter.

Ja, das ist ja alles dadurch geworden — was also Schweitzer so sehr scharf und mit einem intensiven Denken trifft -, daß die Menschen außer acht gelassen haben jede wirkliche konkrete Planlegung der Kultur. Und jetzt sagt er: Das geht nicht,
daß die Menschen irgend etwas aufnehmen; sie müssen in sich selber gehen. —

Sehen Sie, da kann man sagen, nicht nur ein Max Rubner, der überall mit seinem Denken nicht fertig wird, sondern sogar ein so furchtbar scharfer Denker wie der Albert Schweitzer ist nicht imstande, den Übergang zu machen von einer negativen Kritik der Kultur zu einer Anerkenntnis dessen, was als ein neues Geistesleben
befruchtend in diese Kultur hereinkommen muß.

Anthroposophie ist ja ebensolange da, als Albert Schweitzer, eingestandenermaßen
seit dem Jahre 1900, an diesem Buch geschrieben hat. Aber er hat nichts bemerkt davon, daß in positiver Weise Anthroposophie das will, was er bloß in negativer Weise kritisiert: Geist in die Kultur hineinbringen. In dieser Beziehung wird er sogar sehr spaßig. Denn da sagt er ungefähr gegen das Ende des letzten Teiles seiner Schrift:

«An sich schon hat das Besinnen auf den Sinn des Lebens eine Bedeutung. Kommt solches Nachdenken wieder unter uns auf» – es ist der konditionelle Satz, nur verschlechtert, denn eigentlich müßte es heißen: Wenn solches Nachdenken wieder unter uns aufkäme! —, «so welken die Eitelkeits- und Leidenschaftsideale, die jetzt wie böses Unkraut in den Überzeugungen der Massen wuchern, rettungslos dahin. Wieviel wäre für die heutigen Zustände schon gewonnen, wenn wir alle nur jeden Abend drei Minuten lang sinnend zu den unendlichen Welten des gestirnten Himmels emporblickten…» – also er kommt darauf, daß es gut wäre für die Menschen, wenn sie jeden Abend drei Minuten zu dem gestirnten Himmel hinaufblickten!

Wenn man es ihnen so sagt, werden sie es ganz gewiß nicht tun; aber lesen Sie nach, wie diese Dinge gemacht werden sollten, in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Man begreift es nicht, warum hier der Schritt vom Negativen zum Positiven gar nicht gemacht werden kann, man begreift das nicht!

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“Vertiefung des spirituellen Erlebens” – ein Kurzvid zum Thema: “Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten”
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