Schlaferlebnisse der Seele – und: Der Übergang vom seelisch-geistigen zum sinnlich-physischen Dasein / R.Steiner

Steiner, Rudolf:
Philosophie, Kosmologie, Religion.
GA 25
Auto-Referate zu den zehn Vorträgen des «Französischen Kurses» vom 6. Bis 13. September 1922.
Dornach (CH), Rudolf-Steiner-Verlag, 1956.

Drei m.E. zusammengehörende Vorträge:
V. Schlaferlebnisse der Seele
VI. Der Übergang vom seelisch-geistigen Dasein der Menschenentwickelung zum sinnlich-physischen
VII. Christus in seinem Zusammenhang mit der Menschheit und das Rätsel des Todes
(Die ersten 4 Vorträge findet Ihr hier: I – IV – hier weiter )

Z.Info – Kapitelübersicht aus GA 25:

I. Die drei Schritte der Anthroposophie
II. Seelenübungen des Denkens, Fühlens und Wollens
III. Imaginative, inspirierte und intuitive Erkenntnismethoden
IV. Erkenntnisgrundlagen einer wahren Kosmologie, Philosophie und Religion
V. Schlaferlebnisse der Seele
VI. Der Übergang vom seelisch-geistigen Dasein der Menschenentwickelung zum sinnlich-physischen
VII. Christus in seinem Zusammenhang mit der Menschheit
VIII. Das gewöhnliche und das höhere Bewusstsein
IX. Das Ereignis des Todes im Zusammenhang mit dem Christus
X. Das Erleben des Willensteils in seiner Wirkung über den Tod hinaus

Kurzinfo/Inhaltsübersicht der nachfolg. 3 Kapitel:
Schlaferlebnisse der Seele
Der Übergang vom seelisch-geistigen Dasein der Menschenentwickelung zum sinnlich-physischen
Christus in seinem Zusammenhang mit der Menschheit und das Rätsel des Todes

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Man spricht heute vom «Unbewußten» oder «Unterbewußten», wenn man andeuten will, daß die Seelenerlebnisse des gewöhnlichen Bewußtseins – Wahrnehmen, Vorstellen, Fühlen und Wollen – von einem Dasein abhängig sind, das von diesem Bewußtsein nicht umfaßt wird. Diejenige Erkenntnis, die sich nur auf diese Erlebnisse stützen will, kann wohl durch logische Schlussfolgerungen auf ein solches «Unterbewußtes» hinweisen; sie muß sich aber mit diesem Hinweis begnügen. Zu einer Charakteristik des Unbewußten kann sie nichts beitragen…
Vor der Imagination, Inspiration, Intuition erst treten die Schlaferlebnisse auf. Sie stellen sich nicht wie in einer Erinnerung dar, sondern wie in einem seelischen Hinschauen auf sie…
Der Mensch ist in einem allgemeinen, nebelhaften Dasein. In das imaginative Bewußtsein heraufgehoben, stellt sich dieses Erleben als ein Sich-Erfühlen dar, in dem das Erfühlen der Welt mitenthalten ist. Der Mensch ist aus dem Sinnensein ausgetreten und noch nicht deutlich in eine andere Welt hineinversetzt…
Die Führung Christi faßt die innerliche Zersplitterung, die Vielheit in eine Einheit zusammen. Und die Seele kommt jetzt dazu, ein anderes Innensein zu haben als während des Wachzustandes. Zu ihrer Außenwelt gehören jetzt auch der eigene physische und ätherische Organismus. Dagegen erlebt sie in ihrem jetzigen Inneren eine Nachbildung der Planetenbewegungen..
Die Seele erlebt in dieser Sphäre ihres Schlafdaseins ihre Verwandtschaft mit allen Menschenseelen, mit denen sie jemals in einem Erdenleben in Beziehung gestanden hat. Was da vor der Seele steht, wird, intuitiv erfaßt, zur Gewißheit über die wiederholten Erdenleben…
Wie im Wachzustande die Körperorgane, so werden jetzt Nachbildungen der Fixsternkonstellationen erlebt. Das kosmische Erleben der Seele erweitert sich. Sie ist jetzt Geistwesen unter Geistwesen…
…daß die Seele in diesem Zustande vor sich hat die Tatsachen der Geburt und des Todes. Sie erlebt sich als Geistwesen, das in einen physischen Leib durch Empfängnis und Keimesleben einzieht, und sie schaut (unbewußt) den Todesvorgang als einen Übertritt in eine rein geistig-seelische Welt…
In der Tat wird der Mensch von dem Einschlafen an, durch weitere Schlafzustände hindurch, unbewußter Philosoph, Kosmologe und gottdurchseeltes Wesen…
Es sind die geistigen Mondenwirkungen, die den Menschen in jedem Schlaf wieder zum Erdendasein zurückrufen…
Während des Schlafzustandes sind der physische und der ätherische Organismus des Menschen eine Außenwelt für die seelisch-geistige Wesenheit…
Im Erleben des kosmischen Gebildes, welches der geistige Keim seines künftigen physischen Organismus ist, [49] ist der Mensch während des vorirdischen Daseins. Und dieses geistige Gebilde wird als eine Einheit mit dem ganzen geistigen Kosmos anschauend erlebt
In dem tätigen Erleben des Geist-Keimes seines künftigen physischen Organismus hat der Mensch sein vorirdisches Dasein. Er bereitet selbst diesen Organismus vor, indem er in der geistigen Welt mit anderen Geistwesen an dem Geist-Keim wirkt…
Die entscheidende Entwickelungsepoche für die Entwickelung des Ich-Erlebens der Menschheit ist diejenige, in die auch das Ereignis von Golgatha gefallen ist…
Erst jetzt, seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, ist innerhalb der Menschheitsentwickelung wieder ein Stadium erlangt, in dem die neue Initiation, die in den vorangehenden Darstellungen geschildert worden ist, zu einer Anschauung des Wesens Christi innerhalb der Geisteswelt führt…
Heute ist es wieder möglich, ein unmittelbares Wissen von dem Christus zu erlangen…

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V. Schlaferlebnisse der Seele

[39] Man spricht heute vom «Unbewußten» oder «Unterbewußten», wenn man andeuten will, daß die Seelenerlebnisse des gewöhnlichen Bewußtseins – Wahrnehmen, Vorstellen, Fühlen und Wollen – von einem Dasein abhängig sind, das von diesem Bewußtsein nicht umfaßt wird. Diejenige Erkenntnis, die sich nur auf diese Erlebnisse stützen will, kann wohl durch logische Schlussfolgerungen auf ein solches «Unterbewußtes» hinweisen; sie muß sich aber mit diesem Hinweis begnügen. Zu einer Charakteristik des Unbewußten kann sie nichts beitragen.

Die in den vorangehenden Betrachtungen geschilderte imaginative, inspirierte und intuitive Erkenntnis vermag eine solche Charakteristik zu geben. Diesmal soll das versucht werden für die Seelenerlebnisse, welche der Mensch während des Schlafes durchmacht.

Die Schlaferlebnisse der Seele treten in das gewöhnliche Bewußtsein nicht ein, weil dieses auf der Grundlage der körperlichen Organisation entsteht. Während des Schlafes ist aber das seelische Erleben ein außerkörperliches. Wenn die Seele beim Erwachen beginnt, mit Hilfe des Körpers vorzustellen, zu fühlen, zu wollen, knüpft sie in ihrem Erinnern an diejenigen Erlebnisse an, die vor dem Einschlafen auf der Grundlage der körperlichen Organisation sich abgespielt haben. Vor der Imagination, Inspiration, Intuition erst treten die Schlaferlebnisse auf. Sie stellen sich nicht wie in einer Erinnerung dar, sondern wie in einem seelischen Hinschauen auf sie.

Ich werde nun zu schildern haben, was in diesem Hinschauen sich offenbart. Weil dieses dem gewöhnlichen Bewußtsein [40] eben verborgen ist, so muß für dasselbe, wenn es unvorbereitet an eine solche Schilderung herantritt, diese sich naturgemäß grotesk ausnehmen. Aber die vorangehenden Darstellungen haben ja gezeigt, daß eine solche Schilderung möglich, und wie sie aufzufassen ist. Ich werde daher, trotzdem über sie von der einen oder andern Seite sogar gespottet werden kann, sie einfach so geben, wie sie aus den gekennzeichneten Bewußtseinszuständen erfließt.

Zunächst im Einschlafen befindet sich der Mensch in einem innerlich unbestimmten, undifferenzierten Sein. Es wird da kein Unterschied erlebt zwischen dem eigenen Sein und dem Sein der Welt; auch nicht ein solcher zwischen einzelnen Dingen oder Wesenheiten. Der Mensch ist in einem allgemeinen, nebelhaften Dasein. In das imaginative Bewußtsein heraufgehoben, stellt sich dieses Erleben als ein Sich-Erfühlen dar, in dem das Erfühlen der Welt mitenthalten ist. Der Mensch ist aus dem Sinnensein ausgetreten und noch nicht deutlich in eine andere Welt hineinversetzt.

Es werden im weiteren nun Ausdrücke gebraucht werden müssen, wie «Fühlen», «Sehnsucht» usw., die auch im gewöhnlichen Leben auf ein Bewußtes bezogen werden. Und doch soll durch sie hingewiesen werden auf Vorgänge, die für das gewöhnliche Seelenleben unbewußt bleiben. Aber die Seele erlebt sie als reale Tatsachen während des Schlafens. Man denke daran, wie im Alltagsleben z. B. Freude im Bewußtsein erlebt wird. Im Körperlichen spielt sich da eine Erweiterung der feinen Blutgefäße und anderes ab. Diese Erweiterung ist eine reale Tatsache. Im Bewußtsein wird bei ihrem Ablaufen Freude [41] erlebt. So wird von der Seele während des Schlafens Reales erlebt; im folgenden soll dieses durch die Ausdrücke geschildert werden, die auf das entsprechende Erleben des imaginativen, inspirierten und intuitiven Bewußtseins sich beziehen. Wenn z. B. von «Sehnsucht» gesprochen wird, so ist ein tatsächlicher Seelenvorgang gemeint, der imaginativ als Sehnsucht sich offenbart. Es werden also die unbewußten Seelenzustände und Seelenerlebnisse so geschildert werden, als ob sie bewußt wären.

Gleichzeitig mit dem Erfühlen des Unbestimmten, Undifferenzierten, stellt sich in der Seele eine Sehnsucht ein nach einem Ruhen in einem Geistig-Göttlichen. Die Menschenseele entwickelt diese Sehnsucht als die Gegenkraft gegen das Verlorensein im Unbestimmten. Sie hat das Sinnensein verloren und begehrt nach einem Sein, das sie aus der geistigen Welt heraus trägt.
In den soeben geschilderten Seelenzustand wirken die Träume hinein. Sie durchsetzen das Unbewußte mit halbbewußten Erlebnissen. Die wahre Gestalt der Schlaferlebnisse wird durch die gewöhnlichen Träume nicht deutlicher, sondern noch undeutlicher. Auch für das imaginative Bewußtsein tritt diese Undeutlichkeit ein, wenn dieses in seiner Reinheit durch unwillkürlich auftauchende Träume gestört wird. Die Wahrheit schaut man jenseits des wachen und auch jenseits des Traumeslebens durch diejenige Seelenverfassung, die im freien Willen durch die in den vorigen Darstellungen beschriebenen Seelenübungen herbeigeführt ist.

Der nächste Zustand, den die Seele erlebt, ist wie ein Aufgeteiltsein ihres Selbstes in voneinander differenzierte [42] innere Geschehnisse. Die Seele erlebt sich in dieser Schlafperiode nicht als eine Einheit, sondern als eine innere Vielheit. Dieser Zustand ist ein von Ängstlichkeit durchsetzter. Wenn er bewußt erlebt würde, wäre er Seelenangst. Das reale Gegenstück von dieser Ängstlichkeit erlebt aber die Menschenseele in jeder Nacht. Es bleibt ihr nur unbewußt.

Für den Menschen der Gegenwart tritt in diesem Augenblicke des Schlafzustandes die seelenheilende Wirkung dessen auf, was er im Wachzustande als seine Hingegebenheit an Christus erlebt. Vor dem Ereignisse von Golgatha war dies für die Menschen anders. Sie bekamen von ihren Religionsbekenntnissen im Wachen die Mittel, die dann in den Schlafzustand hereinwirkten und die Arznei gegen die Ängstlichkeit waren. Für den Menschen, der nach dem Ereignisse von Golgatha lebt, treten die religiösen Erlebnisse, die er in der Beschauung des Lebens und Sterbens und Wesens Christi hat, dafür ein. Er überwindet durch deren Hineinwirken in den Schlaf die Ängstlichkeit Diese verhindert, solange sie vorhanden ist, die innere Anschauung dessen, was von der Seele im Schlafen so erlebt werden soll, wie der Körper im Wachen. Die Führung Christi faßt die innerliche Zersplitterung, die Vielheit in eine Einheit zusammen. Und die Seele kommt jetzt dazu, ein anderes Innensein zu haben als während des Wachzustandes. Zu ihrer Außenwelt gehören jetzt auch der eigene physische und ätherische Organismus. Dagegen erlebt sie in ihrem jetzigen Inneren eine Nachbildung der Planetenbewegungen. Es tritt in der Seele an die Stelle des individuellen, durch den physischen und ätherischen Organismus bedingten [43] Erlebens ein kosmisches Erleben.
Die Seele lebt außerhalb des Körpers; und ihr Innenleben ist eine innere Nachbildung der Planetenbewegung. Als eine solche erkennt die entsprechenden inneren Vorgänge das inspirierte Bewußtsein in der Art, wie dies in den vorigen Betrachtungen geschildert worden ist. Dies Bewußtsein erschaut auch, wie dasjenige, was die Seele durch das Planetenerlebnis hat, in seiner Nachwirkung im wachen Bewußtsein vorhanden ist. In dem Rhythmus der Atmung und der Blutzirkulation wirkt dies Planetenerlebnis während des Wachens als Anreiz fort. Während des Schlafes stehen physischer und ätherischer Organismus unter der Nachwirkung des Planetenreizes, der im wachen Tagesleben in der geschilderten Art als Nachwirkung der vorigen Nacht in ihnen waltet.

Parallel diesen Erlebnissen gehen andere. Die Seele erlebt in dieser Sphäre ihres Schlafdaseins ihre Verwandtschaft mit allen Menschenseelen, mit denen sie jemals in einem Erdenleben in Beziehung gestanden hat. Was da vor der Seele steht, wird, intuitiv erfaßt, zur Gewißheit über die wiederholten Erdenleben. Denn in der Verwandtschaft mit Seelen enthüllen sich diese Erdenleben. Auch die Verbindung mit andern Geistwesen, die in der Welt leben, ohne je einen menschlichen Körper anzunehmen, wird Seelenerlebnis.

Aber in diesem Stadium des Schlafes tritt auch ein Erlebnis dessen auf, was gute und schlechte Neigungen, gute und schlechte Erlebnisse im Schicksalszusammenhange des Erdendaseins bedeuten. Was ältere Weltanschauungen Karma genannt haben, steht vor der Seele.

In das Tagesleben wirken alle diese Schlafereignisse [44] so herein, daß sich das allgemeine Sich-Fühlen, die Seelenstimmung, das Sich-glücklich- oder -unglücklich-Empfinden mitbewirken.
Im weiteren Verlaufe des Schlafes tritt zu dem geschilderten Zustande der Seele noch ein anderer. Diese erlebt in sich das Fixsterndasein im Abbilde. Wie im Wachzustande die Körperorgane, so werden jetzt Nachbildungen der Fixsternkonstellationen erlebt. Das kosmische Erleben der Seele erweitert sich. Sie ist jetzt Geistwesen unter Geistwesen.
Die Intuition erkennt in der Art, wie dies in den vorigen Betrachtungen geschildert worden ist, die Sonne und die anderen Fixsterne als die physischen Ausgestaltungen von Geistwesen. Was die Seele da erlebt, wirkt im Tagesleben nach als ihre religiöse Anlage, ihr religiöses Fühlen und Wollen. Man muß in der Tat sagen, was in den Tiefen der Seele sich regt als religiöse Sehnsucht, ist für das Wachen die Nachwirkung des Sternenerlebens während des Schlafzustandes.
Aber vor allem bedeutungsvoll ist, daß die Seele in diesem Zustande vor sich hat die Tatsachen der Geburt und des Todes. Sie erlebt sich als Geistwesen, das in einen physischen Leib durch Empfängnis und Keimesleben einzieht, und sie schaut (unbewußt) den Todesvorgang als einen Übertritt in eine rein geistig-seelische Welt.
Daß die Seele in ihrem Wachzustande nicht an die Realität dessen glauben kann, was sich äußerlich den Sinnen als die Ereignisse der Geburt und des Todes darstellt, ist eben nicht bloß ein phantasievolles Ausgestalten einer Sehnsucht, sondern das dumpf gefühlte Nacherleben des im Schlafzustand vor der Seele Stehenden. [45] Könnte der Mensch alles dasjenige, was vom Einschlafen bis zum Aufwachen unbewußt durchlebt wird, in seinem Bewußtsein gegenwärtig machen, so hätte er in dem ersten Erlebnis, in dem die Sinneserscheinungen in einem allgemein inneren Welterleben sich auflösen und in dem eine Art pantheistischen Gottesbewußtseins auftritt, einen Bewußtseinsinhalt, der seinen philosophischen Ideen das Erlebnis der Wirklichkeit gäbe.
Könnte er das Planeten- und Fixsternleben des Schlafes bewußt in sich tragen, so hätte er eine inhaltvolle Kosmologie. Und den Abschluß könnte bilden das im Sternenerleben Auftauchende, das ein Erleben des Menschen als Geist unter Geistern ist. In der Tat wird der Mensch von dem Einschlafen an, durch weitere Schlafzustände hindurch, unbewußter Philosoph, Kosmologe und gottdurchseeltes Wesen. Imagination, Inspiration und Intuition heben aus der dunklen Tiefe des sonst nur im Schlafe Erlebten das heraus, was zeigt, welch ein Wesen der Mensch an sich ist, wie er ein Glied des Kosmos ist, wie er gottdurchdrungen wird.

Das letztere tritt für den Menschen im tiefsten Schlafzustande ein. Von da aus tritt die Seele wieder den Rückweg in die Sinneswelt an. In dem Impuls, der zu diesem Rückweg führt, erkennt das intuitive Bewußtsein eine Wirkung derjenigen Wesenheiten, die als geistige ihr sinnliches Gegenbild im Monde haben. Es sind die geistigen Mondenwirkungen, die den Menschen in jedem Schlaf wieder zum Erdendasein zurückrufen. Natürlich sind diese Mondenwirkungen auch beim Neumond vorhanden. Aber es hat die Verwandlung dessen, was an dem Mondenbilde [46] in sinnlicher Sichtbarkeit sich wandelt, eine Bedeutung für dasjenige, was Mondenwirkungen für das Festhalten des Menschen im Erdendasein von der Geburt (Empfängnis) bis zum Tode sind.

Nach dem tiefsten Schlafstadium kehrt der Mensch durch dieselben Zustände hindurch wieder zum Wachdasein zurück. Er macht vor dem Erwachen wieder das Erleben in dem allgemeinen Weltdasein mit der Gottessehnsucht durch, in das die Träume hineinspielen können.

VI. Der Übergang von seelisch-geistigen Dasein in der Menschenentwicklung zum sinnlich-physischen

[47] Es ist in den vorangehenden Betrachtungen gezeigt worden, wie durch die inspirierte und intuitive Erkenntnis eine Anschauung des ewigen geist-seelischen Wesenskernes im Menschen erlangt werden kann. Dabei ist aufmerksam gemacht worden, wie das menschliche Innenleben von Nachbildungen des kosmischen Geschehens erfüllt wird. Wie der Mensch ein solches kosmisches Innenleben unbewußt während des Schlafes erlebt, das ist in der letzten Betrachtung dargestellt worden. Die menschliche Innenwelt wird zur Außenwelt, und umgekehrt: die geistige Wesenheit der Außenwelt wird zur Innenwelt.

Während des Schlafzustandes sind der physische und der ätherische Organismus des Menschen eine Außenwelt für die seelisch-geistige Wesenheit. Sie bleiben in der Art vorhanden, wie sie immer wieder im Wachen das Werkzeug des seelisch-geistigen Menschen werden können. In den Schlafzustand nimmt der Mensch den Wunsch nach diesen beiden Organismen mit hinüber. Dieser Wunsch hängt – das wurde in der letzten Betrachtung gezeigt – mit denjenigen geistigen Kräften des Kosmos zusammen, die in den Erscheinungen des Mondes ihr sinnenfälliges Abbild haben. Diesen Mondenkräften ist der Mensch nur durch seinen Zusammenhang mit dem Erdenwesen unterworfen. Es ergibt die Anschauung desjenigen Zustandes, in dem sich der Mensch in der rein geistigen Welt eine gewisse Zeit vor seiner Hinwendung zum Erdenleben [48] befindet, daß er da den Einflüssen dieser Mondenkräfte nicht unterworfen ist.

In diesem Zustande erlebt er nicht einen physischen und ätherischen Menschenorganismus als zu ihm gehörig, wie das im Schlafzustande der Fall ist. Aber er erlebt doch in ganz anderer Art diese Organismen. Er erlebt in den kosmischen Welten ihre Grundlagen. Er erlebt das Werden dieser Organismen aus dem geistigen Kosmos heraus. Er schaut einen geistigen Kosmos an. Dieser geistige Kosmos ist der geistige Teil des Keimes des physischen Erdenorganismus, den er künftig tragen wird. Wenn man in diesem Zusammenhange von «Keim» spricht, so wird damit etwas bezeichnet, das in einer gewissen Beziehung sich entgegengesetzt zu dem verhält, das im physischen Weltzusammenhange so genannt wird.
Da ist der «Keim» der kleine physische Anfang eines sich vergrößernden Gebildes. Das geistige Kraftgebilde, das der Mensch in seinem vorirdischen geistigen Dasein im Zusammenhange mit seinem Wesen erschaut, ist groß und zieht sich immer mehr zusammen, um zuletzt mit dem physischen Keimteil zu verwachsen.

Man muß sich zur Darstellung dieser Verhältnisse der Ausdrücke «groß» und «klein» bedienen. Aber es muß dabei berücksichtigt werden, daß das Erleben in der geistigen Welt ein geistiges ist, und daß für dasselbe der Raum, in dem das physische Geschehen vor sich geht, nicht vorhanden ist. Die verwendeten Ausdrücke sind also eigentlich nur Verbildlichungen dessen, was geistig, rein qualitativ, unräumlich, erlebt wird.

Im Erleben des kosmischen Gebildes, welches der geistige Keim seines künftigen physischen Organismus ist, [49] ist der Mensch während des vorirdischen Daseins. Und dieses geistige Gebilde wird als eine Einheit mit dem ganzen geistigen Kosmos anschauend erlebt und offenbart sich zugleich als der kosmische Leib des eigenen Menschenwesens. Der Mensch fühlt den geistigen Kosmos als die Kräfte seines eigenen Wesens. Sein ganzes Dasein besteht darinnen, daß er sich in diesem Kosmos erlebt. Aber er erlebt nicht nur sich. Denn es trennt ihn dieses kosmische Dasein nicht wie später sein physischer Organismus von dem anderen Leben des Kosmos ab. Er ist diesem Leben gegenüber in einer Art Intuition. Das Leben anderer geistiger Wesen ist zugleich sein Leben.

In dem tätigen Erleben des Geist-Keimes seines künftigen physischen Organismus hat der Mensch sein vorirdisches Dasein. Er bereitet selbst diesen Organismus vor, indem er in der geistigen Welt mit anderen Geistwesen an dem Geist-Keim wirkt. Wie er während des Erdendaseins durch seine Sinne eine physische Umwelt vor sich hat und in dieser tätig ist, so hat er im vorirdischen Dasein seinen im Geiste sich erbildenden physischen Organismus vor sich; und seine Tätigkeit besteht in der Teilnahme an dessen Gestaltung, wie seine Tätigkeit in der physischen Welt in der Teilnahme an der Gestaltung der physischen Dinge in der Außenwelt besteht.

In dem Geist-Keim des physischen Menschenleibes, welchen der geistig-seelische Mensch in seinem vorirdischen Dasein anschauend erlebt, ist ein wahres Universum vorhanden, nicht minder mannigfaltig und vielgestaltig in sich, als die physische Umwelt der Sinne ist. Ja, die intuitive Erkenntnis darf sagen, daß dasjenige, was der [50] Mensch, in dem physischen Menschenkörper zusammengezogen, als ihm unbewußte Welt an sich hat, ein solches Universum ist, mit dem sich an Großartigkeit die physische Welt gar nicht im entferntesten messen kann.
Und dieses Universum erlebt auf geistige Art der Mensch in seinem vorirdischen Zustande, und er wirkt an ihm. Er erlebt es in seinem Werden, seiner Beweglichkeit, aber erfüllt von geistigen Wesenheiten.

Er hat innerhalb dieser Welt ein Bewußtsein. Mit den tätigen Kräften, die im Werden dieses Universums sich auswirken, sind seine eigenen verbunden. Die Zusammenarbeit der geistigen Kosmoskräfte mit seinen eigenen erfüllt sein Bewußtsein. Der Schlafzustand ist in einem gewissen Sinne eine Nachbildung dieser Betätigung. Aber dieser verläuft so, daß der physische Organismus als ein abgeschlossenes Gebilde außer dem seelisch-geistigen Menschen vorhanden ist. Die sich betätigenden Kräfte, die im vorirdischen Dasein den Inhalt des Bewußtseins bilden, fehlen der Anschauung. Deswegen verläuft der Zustand unbewußt.

Im weiteren Verlaufe des vorirdischen Daseins wird das bewußte Mit-Erleben am Werden des zukünftigen Erden-Organismus immer dumpfer. Es schwindet für die Anschauung nicht völlig dahin; aber es dämmert ab. Es ist, als ob der Mensch seine eigene kosmische Innenwelt immer mehr sich entfremdet fühlte. Er lebt sich aus dieser Welt heraus. Was erst ein völliges Mit-Erleben mit den geistigen Wesenheiten des Kosmos war, stellt sich nunmehr nur als eine Offenbarung dieser Wesen dar. Man kann sagen, vorher hatte der Mensch eine erlebte Intuition [51] der Geisteswelt; jetzt verwandelt sich diese in eine erlebte Inspiration, bei der das Wesen von außerhalb auf den Menschen, sich offenbarend, wirkt.

Damit aber tritt im Innern des geistig-seelischen Menschen ein Erleben auf, das sich mit dem «Entbehren» und der Entstehung der «Begierde nach dem Verlorenen» bezeichnen läßt. Wenn man solche Ausdrücke gebraucht, so ist es, um durch ähnliche Verhältnisse des physischen Erlebens das übersinnliche zu verbildlichen.

In einem solchen «Entbehren» und «Begehren» lebt die Menschenseele in einer späteren Zeit ihres vorirdischen Daseins. Sie hat eine geistige Welt nicht mehr in der vollen Realität des Mit-Erlebens, sondern als geoffenbarten Abglanz, gewissermaßen mit geringerer Intensität des Daseins im Bewußtsein.

Die Menschenseele wird jetzt reif zum Mit-Erleben der geistigen Mondenkräfte, die vorher außerhalb ihres Daseinsbereiches waren. Sie erhält dadurch ein Sein, durch das sie sich als selbständig absondert von den andern Geistwesen, mit denen sie vorher gelebt hat. Man kann sagen: vorher war ihr Erleben geistdurchdrungen, gott-durchdrungen; nachher wird ein eigenes, seelisches Wesen gefühlt; und der Kosmos wird als eine Außenwelt empfunden, wenn auch das Mit-Erleben mit dieser Offenbarung des Kosmos noch immer ein sehr intensives ist in den Anfangsstadien und sich erst allmählich als ein dumpferes herausbildet.

In diesem Erleben tritt also der Mensch aus dem als Wirklichkeit empfundenen, geistdurchtränkten Dasein in ein solches, in dem ihm ein geoffenbarter Geist-Kosmos [52] gegenübersteht. Das erste Stadium des Erlebens ist die Realität desjenigen, was später im Erdendasein als religiöse Seelenanlage für Vorstellung und Empfindung erscheint. Das zweite ist die Realität dessen, was, wenn es beschrieben wird, eine wahre Kosmologie ergibt. Denn es wird da die physische Menschenorganisation auch in ihrer kosmischen Keimanlage angeschaut, ohne die sie nicht verständlich sein kann.

In der Folgezeit verliert der Mensch die Anschauung des Geist-Kosmos. Dieser verdunkelt sich vor dem «Geistesauge». Das Erleben des seelischen Inneren, das im Zusammenhange steht mit den geistigen Mondenkräften, wird dafür immer intensiver. Und die Menschenseele wird reif, dasjenige von außen zu empfangen, was sie vorher im Innern erlebt hat. Die geistige Tätigkeit am Werden des physischen Organismus, die vorher der Mensch bewußt miterlebt hat, entfällt seinen Seelenorganen; sie geht über an die physische Tätigkeit, die sich in der Fortpflanzungsentwickelung innerhalb des Erdendaseins vollzieht. Das von der Menschenseele vorher Miterlebte geht über auf diese Fortpflanzungsentwickelung, um in derselben als dirigierende Kräfte zu wirken. Die Menschenseele hat jetzt für einige Zeit in der geistigen Welt ein Dasein, in dem sie an der Bildung des physischen Menschenorganismus nicht mehr einen Anteil hat.

In diesem Stadium wird sie reif, dasjenige, was in ihr «Entbehren» und «Begehren» ist, an dem Ätherischen des Kosmos zu befriedigen. Sie zieht den kosmischen Äther an sich heran. Und sie bildet im Sinne der Anlagen, die ihr aus dem Mitarbeiten an dem menschlichen [53] Universum geblieben sind, ihren ätherischen Organismus. So lebt sich der Mensch in seinen ätherischen Organismus hinein, bevor ihn im Erdendasein sein physischer Organismus empfängt.
Die im Bereich des Erdendaseins in der Folge der vollzogenen Empfängnis auftretenden Vorgänge haben, abgesondert von dem Verlauf der letzten Stadien des vorirdischen Lebens der Menschenseele, die Bildung des physischen Organismus bis zu der physischen Keimanlage gebracht. Mit dieser kann sich die Menschenseele, die mittlerweile sich ihren ätherischen Organismus eingegliedert hat, vereinigen. Sie vereinigt sich mit derselben durch die Kraft des fortwirkenden «Begehrens»; und der Mensch tritt sein physisches Erdendasein an.

Das Erleben der Menschenseele bei ihrer Eingliederung des ätherischen Organismus in sich, gewissermaßen des Zuwachsens dieses Organismus aus dem Weltenäther, ist ein erdfremdes Erleben; denn es wird ohne den physischen Organismus durchgemacht. Es hat aber diesen zum «begehrten» Objekt. Dasjenige, was im Erleben des ganz kleinen Kindes auftritt, ist eine unbewußte Erinnerung an dieses Erleben. Es ist aber eine tätige Erinnerung, ein unbewußtes Arbeiten an dem physischen Organismus, der vorher seelische Innenwelt war und der jetzt als ein äußerer der Menschenseele gegeben ist. Die bildende Tätigkeit, welche der Mensch unbewußt an seinem eigenen Organismus in dessen Wachstum vollzieht, ist die Erscheinung dieser tätigen Erinnerung. Was die Philosophie sucht und was sie nur durch ein vollbewußtes Imaginieren des ersten Kindheitserlebens als eine innere Realität [54] haben kann, das liegt in dieser tätigen, unbewußten Erinnerung. Damit hängt das weltfremde und doch wieder der Welt geneigte Wesen des Philosophierens zusammen.

VII. Christus in seinem Zusammenhang mit der Menschheit und das Rätsel des Todes
[55] Wie das seelisch-geistige Dasein auf dem Gebiete der Menschenentwickelung in das sinnlich-physische übergeht, versuchte ich in der letzten Betrachtung zu schildern.
Von dem Verständnisse, das der Mensch diesem Übergange entgegenbringt, hängt es ab, ob er ein dem gegenwärtigen Bewußtsein entsprechendes Verhältnis gewinnen kann zu dem Ereignis von Golgatha und seiner Beziehung zur Erdenentwickelung des Menschen.

Erkennt man in seinem eigenen physisch-sinnlichen Wesen nicht, wie ein Geistig-Seelisches aus einer geistigen Erlebensform sich so gewandelt hat, daß es zur Erscheinung in der physisch-sinnlichen Welt geworden ist, so muß einem auch verschlossen bleiben, wie der Christusgeist aus Geisteswelten in dem Jesusmenschen innerhalb der physischen Welt erschienen ist.
Es muß aber immer wieder betont werden, daß nicht das schauende Erkennen selbst bei jedem Einzelnen in Betracht kommt, sondern das gemütvolle Verstehen des durch das Schauen Erforschten. Das schauende Erkennen erringen sich Einzelne. Das begründete Verstehen ist jedem möglich.

Wer die Welten anerkennt, welche die Menschenseele im vorirdischen Dasein durchlebt, der lernt auch aufblicken zu Dem, der vor dem Geschehen des Mysteriums von Golgatha nur in diesem Dasein gelebt, als Christus, und der durch dieses Mysterium und seit dessen Geschehen sein Leben mit der Erdenmenschheit verbunden hat. [56] Die Seelen der Erdenmenschheit haben diejenige Verfassung, in der sie heute leben, erst in einer allmählichen Entwickelung erlangt.
Das gewöhnliche Bewußtsein nimmt die Seelenverfassung, wie sie heute ist, und konstruiert sich eine «Geschichte», in welcher die Sache so dargestellt wird, als ob die Menschen der grauen Vorzeit fast ebenso gedacht, gewollt und gefühlt hätten wie heute.
Aber das ist nicht so. Es hat Zeiten gegeben im Erdendasein der Menschheit, in denen diese Seelenverfassung ganz anders war als gegenwärtig. Damals war nicht ein so schroffer Gegensatz zwischen Schlafen und Wachen. Einen Übergang zwischen beiden bildet heute nur das Träumen. Aber dessen Inhalt hat etwas Trügerisches, Fragwürdiges. Der Mensch der Vorzeit erlebte zwischen dem vollen Wachen und dem bewußtlosen Schlafen einen Zwischenzustand, der bildhaft und sinnentrückt war, durch den aber ein wirklich Geistiges sich offenbarte, wie durch die Sinneswahrnehmung ein wirkliches Physisches.

In diesem Erleben durch Bilder, nicht durch Gedanken, hatte der Mensch der Vorzeit eine traumhafte Erfahrung von seinem vorirdischen Dasein. Er erlebte sich selbst als vorirdisches Seelenwesen wie in einem Nachklang des damals Durchgemachten. Aber er hatte dafür nicht das volle deutliche Ich-Erleben, das der Mensch der Gegenwart hat. Er empfand sich nicht in demselben Grade wie heute als ein «Ich».
Dieses «Ich»-Erleben ist erst im Laufe der menschlichen Geistesentwickelung eingetreten.
Die entscheidende Entwickelungsepoche für die Entwickelung des Ich-Erlebens der Menschheit ist diejenige, in die auch das Ereignis von Golgatha gefallen ist.

In dieser Zeit wurde für das gewöhnliche Bewußtsein [57] das seelische Erleben eines Nachklanges des vorirdischen Daseins immer dumpfer. Der Mensch wurde mit dem, was er von sich selbst wissen kann, immer mehr auf das beschränkt, was sich ihm von sich selbst als physischsinnliches Erden-Sein offenbart.

Von diesem Zeitpunkt an bekam auch die Wahrnehmung des Todes eine neue Bedeutung. Vorher wußte der Mensch in der angedeuteten Art von seinem eigenen Wesenskerne. Er kannte denselben durch das Schauen des erwähnten Nachklanges so, daß ihm klar war, dieser werde vom Tode nicht berührt. In dem welthistorischen Zeitabschnitt, in dem der Blick auf das physische Menschenwesen beschränkt wurde, stellte sich der Tod als ein quälendes Rätsel vor die Seele hin.
Dieses Rätsel wurde dem Menschen nicht durch die weitere Entwickelung bloß innerer Erkenntniskräfte gelöst. Es wurde ihm gelöst, indem das Ereignis von Golgatha in die Erdenentwickelung eintrat.

Auf den Boden des Erdendaseins ist der Christus aus denjenigen Welten herabgestiegen, in denen der Mensch sein vorirdisches Dasein verlebt. In der Vereinigung der Erlebnisse des wachen gewöhnlichen Bewußtseins mit der Wesenheit und in dem Aufblick zu Christi Taten kann der Mensch seit dem Ereignis von Golgatha finden, was er vorher durch eine natürliche Beschaffenheit seines Bewußtseins gefunden hat.

Die Initiierten der alten Mysterien haben zu ihren Bekennern so gesprochen, daß diese in den Wahrnehmungen über das vorirdische Dasein eine Gnadengabe des [58] geistigen Sonnenwesens gesehen haben, das seinen Abglanz in der physischen Sonne hat.

Die Initiierten, die zur Zeit des Mysteriums von Golgatha noch in einer Fortsetzung der alten Initiationsmethoden lebten, sprachen zu denjenigen, die es hören wollten, davon, wie das Wesen, welches früher den Menschen aus den geistigen Welten den Nachklang des vorirdischen Daseins in das irdische mitgegeben hat, als der Christus heruntergestiegen ist in die physische Erdenwelt und in dem Menschen Jesus Körper angenommen hat.

Von Seite derjenigen, die dadurch aus der Initiation das Rechte über das Mysterium von Golgatha wußten, wurde in den ersten Zeiten der christlichen Entwickelung durchaus von dem Christuswesen als einem solchen gesprochen, das aus geistigen Welten in die irdische heruntergestiegen ist. Auf den Christus der überirdischen Welt und auf seinen Weg zu den Erdenmenschen kam es den damaligen Lehrern der Menschheit vorzüglich an.
Die Voraussetzung zu einer solchen Anschauung war, daß man aus der alten Initiation noch so viel über die übersinnlichen Welten wußte, um in Christus ein Wesen der geistigen Welt vor seinem Abstieg zur Erde zu schauen.

Die Reste eines solchen Wissens dauerten etwa bis in das vierte nachchristliche Jahrhundert hinein. Dann dämmerten sie in den menschlichen Bewußtseinen ab. Das Ereignis von Golgatha wurde dadurch ein nur durch die Fortpflanzung der äußeren Geschichte gewußtes Ereignis. Die Initiationsprinzipien der alten Welt gingen der Außenwelt verloren und pflanzten sich nur noch in Stätten [59] fort, von denen die Menschen kaum etwas wußten. Erst jetzt, seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, ist innerhalb der Menschheitsentwickelung wieder ein Stadium erlangt, in dem die neue Initiation, die in den vorangehenden Darstellungen geschildert worden ist, zu einer Anschauung des Wesens Christi innerhalb der Geisteswelt führt.

Zur vollen Entfaltung des Ichbewußtseins, das innerhalb der Menschheitsentwickelung zutage treten sollte, war es notwendig, daß die initiierte Erkenntnis für einige Jahrhunderte zurücktrat und der Mensch sich zunächst auf die sinnliche und äußerlich-historische Welt verwiesen sah, in der er das Ichbewußtsein frei entfalten konnte.
So wurde es der christlichen Gemeinschaft nur möglich, die Gläubigen auf die historische Tradition über das Mysterium von Golgatha zu verweisen, und dasjenige, was einmal durch Geisterkenntnis über dasselbe gewußt wurde, in Dogmen für den Glauben zu kleiden. Nicht um den Inhalt dieser Dogmen handelt es sich hier, sondern um die Art, wie er in der Seele erlebt wird, ob durch Glauben oder durch Wissen.

Heute ist es wieder möglich, ein unmittelbares Wissen von dem Christus zu erlangen. Aber es stand die Gestalt Jesu durch Jahrhunderte vor dem gewöhnlichen Bewußtsein; und der Christus, der in ihm lebte, war ein Gegenstand des Glaubens geworden. Immer mehr aber verlor sich gerade in dem geistig führenden Teil der Menschheit die Hinneigung zu den Glaubensdogmen; Jesus wurde immer mehr nur so gesehen, wie er sich aus der Geschichte heraus vor das gewöhnliche Bewußtsein hinstellt. Man verlor nach und nach ein Erleben des [60] Christus. Und so ergab sich sogar ein moderner Zweig der Theologie, der sich eigentlich nur beschäftigt mit dem Menschen Jesus, und dem ein lebendiges Verhältnis zu dem Christus fehlt. Aber ein bloßer Jesusglaube ist eigentlich kein Christentum mehr.

In dem Bewußtsein von seinem vorirdischen Dasein hatte der Mensch der Vorzeit auch einen Halt für ein rechtes Verhältnis zu seinem Dasein nach dem Erdentode. Das, was ihm auf diese Art in der Vorzeit für das Rätsel des Todes ein natürliches Sich-Erleben gegeben hatte, das sollte ihm in der späteren Zeit in einer anderen Art durch seine Verbindung mit dem Christus gegeben werden. Dieser sollte ihn nach dem Paulusworte: «Nicht ich, sondern der Christus in mir», so durchdringen, daß er ihm dadurch der Führer durch die Todespforte werden konnte. Im gewöhnlichen Bewußtsein hatte der Mensch jetzt zwar etwas, was das volle Ich-Erleben zur Entfaltung bringen konnte, nicht aber etwas, was der Seele die Kraft geben konnte, an ihren lebendigen Durchgang durch die Todespforte erkennend heranzukommen. Denn das gewöhnliche Bewußtsein ist ein Ergebnis des physischen Leibes.
Es kann also auch der Seele nur eine Kraft geben, die sie als mit dem Tode erlöschend ansehen muß.
Denjenigen, die noch aus der alten Initiation heraus das alles erkennen konnten, erschien der menschliche physische Organismus krank. Denn sie mußten annehmen, er könne nicht die Macht entfalten, ein so umfassendes Bewußtsein der Seele zu geben, daß diese ihr volles Dasein erleben kann. Christus erschien als der Seelenarzt der Welt, als der Heiler, der Heiland. Und als solcher [61] muß er in seinem tiefbegründeten Zusammenhang mit der Menschheit erkannt werden.

Das Ereignis des Todes im Zusammenhange mit dem Christus soll den Gegenstand der nächsten Betrachtungen bilden.
Durch das Aufnehmen des Christuserlebens wird, was das alte Bewußtsein, vertieft durch die Aussagen der Initiierten, als Ewigkeitserlebnis dem Menschen gegeben hatte, zu einer Philosophie, die im Weltendasein mit dem göttlichen Vaterprinzip rechnen kann. Der Vater im Geiste kann wieder angesehen werden als das alles-durchdringende Seiende. Durch die Erkenntnis des Christus, der, ein Wesen der außerirdischen Welt, in dem Menschen Jesus irdischen Körper annahm, erlangt die Kosmologie ihren christlichen Charakter. In den Geschehnissen der Menschheitsentwickelung wird der Christus miterkannt als das Wesen, dem ein Entscheidendes in dieser Entwickelung zugefallen ist. – Und durch das Wiederanfachen der abgedämmerten Erkenntnis von dem «ewigen Menschen» wird das menschliche Gemüt aus der bloßen Sinneswelt, die das Ichbewußtsein entwickelt, zu dem Geiste gelenkt, der mit dem Vatergott und dem Christus zusammen in einer erneuten Erkenntnisgrundlage der Religion von der Seele verständnisvoll erlebt werden kann.
 
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VIII. Das gewöhnliche und das höhere Bewußtsein
[62] Im Schlafzustande hört für das gewöhnliche Bewußtsein das Sinnes-Erleben auf, und auch die seelische Betätigung in Denken, Fühlen und Wollen. Damit entfällt dem Menschen dasjenige, was er als sein «Selbst» zusammenfaßt…
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