Visionäres Hellsehen und die Fähigkeit des gründlichen Denkens… Rudolf Steiner

RUDOLF STEINER GA 117
Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien – Zwölf Vorträge,
gehalten in Berlin, Stuttgart, Zürich und München vom 11. Oktober bis 26. Dezember 1909 Stuttgart

13. November 1909: ÜBER DAS RECHTE VERHÄLTNIS ZUR ANTHROPOSOPHIE:

Kurztext/Inhalt
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„Nichts kann so sehr die Lügenhaftigkeit züchten als ein gewisses bloß visionäres Hellsehen, das nicht am Gedanken sich aufrankt und kontrolliert wird. Und auf der andern Seite wird ein solches Hellsehen wiederum eine andere Eigenschaft noch züchten, nämlich eine gewisse Überhebung, einen gewissen Hochmut, der bis zum Größenwahn führen kann. Und er ist um so gefährlicher, weil er nicht bemerkt wird. Die Gefahr ist sehr groß, daß man sich deshalb für etwas Besseres hält, weil man diese oder jene Dinge sieht, die der andere nicht sieht. Und gewöhnlich weiß man dann gar nicht, wie tief das, was hart an Größenwahn grenzt, wie tief das eigentlich in der Seele sitzt.“
und
„Insbesondere zeigt sich das nach dem Tode. Was nützt eigentlich – wenn wir dieses triviale Wort anwenden wollen, um uns die Sache zu verdeutlichen -, was nützt dem Menschen mehr nach dem Tode: wenn er ohne Gedanken visionär irgend etwas sieht, oder wenn er rein spirituelle Mitteilungen, ohne visionär zu schauen, empfängt?
Da könnte man sehr leicht glauben, das visionäre Sehen sei eine bessere Vorbereitung für den Tod als das bloße Hören der Tatsachen aus der geistigen Welt. Und dennoch! Nach dem Tode nützt dem Menschen recht wenig, was er bloß visionär gesehen hat. Ist dagegen eine Tatsache da, fängt er sofort an, sich dessen bewußt zu werden, was er an Mitteilungen empfangen hat, wenn er diese vernünftigerweise begriffen hat. Gerade das hat den Wert nach dem Tode: was man verstanden hat, gleichgültig, ob es geschaut ist oder nicht. Und nehmen Sie den tiefsten Eingeweihten: durch sein Hellsehen kann er die ganze geistige Welt schauen, aber das erhöht seine Bedeutung nach dem Tode nicht, wenn er nicht in menschlichen Begriffen diese Tatsachen auszudrücken imstande ist. Nach dem Tode helfen ihm nur diejenigen Dinge, die er hier als Begriffe hat. Das sind die Samenkörner für das Leben nach dem Tode.“

und
„Bilden Sie also Ihre Urteilskraft aus, dann sind Sie Kandidaten des Sich-Erinnerns in der folgenden Inkarnation an die gegenwärtige.“
Über das rechte Verhältnis zur Anthroposophie…
Visionäres Hellsehen und die Fähigkeit des gründlichen Denkens…
Warum man sich nicht an frühere Inkarnationen erinnert…
Warum die Götter den Menschen haben entstehen lassen…
Wie ein denkender und ein nichtdenkender visionärer Hellseher die Erscheinungen der geistigen Welt sieht…
Die Gedanken geben die Substanz her, das, was in der geistigen Welt ist, zu ergreifen…
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ÜBER DAS RECHTE VERHÄLTNIS ZUR ANTHROPOSOPHIE
Stuttgart, 13. November 1909

…Welches ist die richtige Art, in der sich der Anthroposoph zur Geisteswissenschaft selber stellen kann?
Was hiermit gesagt sein soll, wird uns noch viel klarer werden, wenn wir die Frage etwas anders stellen, wenn wir sie so stellen:

Warum wird denn überhaupt heute so, wie es geschieht, Anthroposophie gelehrt? Warum werden Mitteilungen gegeben über die höheren Welten, Mitteilungen, die Ergebnisse der geistigen Forschung, des hellseherischen Bewußtseins sind?

Könnte es vielleicht nicht so sein, daß in ganz anderer Weise vorgegangen würde, daß man vielleicht damit begänne, einem jeden gewisse Anweisungen zu geben, wie er seine eigenen, inneren, in der Seele schlummernden Fähigkeiten entwickeln kann, so daß er sozusagen durch diese Anweisungen empfangen würde die Möglichkeit, nach und nach selber hinaufzudringen in die geistigen Welten, auch bevor er irgend etwas, wie es heute geschieht, mitgeteilt erhält von dem, was Tatsachen in den höheren Welten sind?
Man muß sagen, es ist in einer gewissen Weise früher die Gepflogenheit so gewesen; sie war so vor unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung im modernen Sinne des Wortes. Da hat man lange Zeiten hindurch gesagt: Es nützt ja eigentlich nicht viel, wenn irgend jemand hintritt vor die Welt und die Ergebnisse der geistigen Forschung mitteilt. – Und man hat sich so zurückhaltend wie möglich benommen in bezug auf solche Mitteilungen. Man hat eigentlich sich darauf beschränkt, den Menschen gewisse Regeln zu geben, wie sie die in ihrer Seele schlummernden Fähigkeiten entwickeln sollen, und hat dann, im Grunde genommen, sie nicht mehr wissen lassen als das, was sie sich so selber durch eigene Anschauung langsam in den höheren Welten erworben haben.

Es könnte nun die Frage entstehen: Warum wird dieser Weg heute nicht eben ausschließlich eingeschlagen, sondern warum wird heute aus den Ergebnissen der Geistesforschung Anthroposophie mitgeteilt?

Das ist nicht aus irgendeines Menschen Vorliebe oder Willkür entsprungen, sondern das hat seine guten Gründe. Und wir werden besser verstehen, was wir gut verstehen sollten, wenn wir uns immer wiederum eines sagen:

Was teilt eigentlich diese Geisteswissenschaft mit? Sie teilt mit Tatsachen, Wahrheiten aus dem Bereich der höheren, der übersinnlichen Welten; sie teilt mit dasjenige, was das hellseherische Bewußtsein in diesen höheren Welten erforschen kann.

Nun ist es ja richtig, daß derjenige, dem solche Mitteilungen gemacht werden und der nicht selbst hellseherisch ist, sich von den Tatsachen als solchen zunächst nicht durch unmittelbare Anschauung überzeugen kann. Es ist richtig, daß er die Mitteilungen hinnimmt, und daß er sie sozusagen durch den hellseherischen Augenschein nicht prüfen kann.

Gewiß, das ist ganz richtig. Aber es wäre ganz falsch, zu glauben, daß der Mensch, der nicht hellseherisch ist, die heute mitgeteilten Erkenntnisse überhaupt nicht prüfen könnte, überhaupt nicht einsehen könnte. Das zu glauben, wäre ganz falsch und es wäre eine unrichtige Meinung, wenn man behaupten wollte, daß man bloß auf Treu und Glauben, auf bloße Autorität hin das aufnehmen müßte, was aus dem hellseherischen Bewußtsein heraus mitgeteilt wird. Es würde geradezu etwas im höchsten Grade Unvollkommenes in diesen Mitteilungen liegen, etwas Mangelhaftes, wenn diese Mitteilungen bloß auf Autorität, bloß auf Glauben Anspruch machen wollten.

Was mitgeteilt wird auf rechtmäßige Weise, das kann – und das ist ja oft gesagt worden – erforscht werden nur durch das hellseherische Bewußtsein. Ist es aber, und meinetwillen auch nur von einem einzigen, erforscht, ist es einmal geschaut und wird es mitgeteilt, dann kann es jeder einsehen durch seine unbefangene Vernunft, durch das, was ihm zugänglich ist auf dem physischen Plan. Und es darf wohl gesagt werden: Wenn auch nicht jeder von denen, die hier sitzen, immer die Möglichkeit hat, gleich alles im umfänglichsten Sinne zu prüfen, so könnte er sich doch wenigstens diese Möglichkeit verschaffen, wenn er Zeit und Fähigkeit – aber nur Fähigkeiten dieses physischen Planes – dazu hätte.

Nehmen wir selbst so schwierige Dinge, wie sie hier in den letzten Vorträgen berührt worden sind, von den Inkarnationen des Zarathustra, so schwierige Dinge also, die sich darauf bezogen, daß des Zarathustra astralischer Leib übergegangen ist in Hermes, daß des Zarathustra ätherischer Leib übergegangen ist in Moses, dann darf niemand behaupten, daß derjenige, der diese Dinge aus der Geistesforschung heraus kennt, bloß Anspruch machen würde auf den blinden Glauben. Nein, das ist durchaus nicht der Fall! Wenn jemand käme und sagte: Gut, ich habe gar nichts von einem Hellseher. Da behauptet einer diese Sachen von Zarathustra und seinen Inkarnationen. Ich will jetzt alles das, was dem Menschen auf dem physischen Plan zur Verfügung steht, aufgreifen, alles, was die Geschichte überliefert, alles, was in steinernen Dokumenten enthalten ist, alles, was in religiösen Urkunden enthalten ist, alles das will ich in der sorgfältigsten Weise prüfen. –
Und ein solcher sagte: Nehmen wir an, daß richtig sei, was der da sagt, stimmt das mit den Tatsachen, die äußerlich konstatiert werden können? – Und dann würde er alles, was äußerlich konstatiert werden kann, durchforschen und würde sehen, daß, je genauer er vorgeht bei seinen Forschungen, er um so mehr die Tatsachen, die der Hellseher mitteilt, bestätigt fände.

Wenn das Wort Furcht überhaupt eine Bedeutung dabei hätte, so könnte man sagen, die geisteswissenschaftliche Forschung kann eventuell Furcht haben vor einer ungenauen Prüfung, aber vor denjenigen nicht, die alles nehmen wollen, was der physischen Forschung zur Verfügung steht. Diese werden sehen, daß, je genauer sie vorgehen bei ihren Forschungen, sie desto mehr die Tatsachen, die der Hellseher mitteilt, bestätigt finden werden. Für diejenigen Dinge aber, die nicht so ferne liegen und die nicht so schwierig sind, die sich auf Karma und Reinkarnation, auf das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt beziehen, da braucht jemand nur das, was das Leben bietet, unbefangen zu betrachten. Je genauer er das betrachtet, desto mehr wird er bestätigt finden, was der Hellseher mitteilt; das heißt, es gibt genugsam Möglichkeiten, sich zu überzeugen davon, daß das, was gewonnen wird aus den übersinnlichen Welten, sich bestätigt an der äußeren physischen Welt.
Und das ist etwas, was nicht so leicht hingenommen werden soll, sondern etwas, was wir als eine unerläßliche Notwendigkeit betrachten sollen. Wir sollen zunächst die Tatsachen, die vielleicht nur wenige erforschen können, an dem Leben prüfen. Wir sollen gar nicht immerfort die Phrase wiederholen: Das muß man auf Treu und Glauben hinnehmen! – Nein, nehmt so wenig als möglich auf Treu und Glauben an, aber prüft, prüft, nur nicht befangen, sondern unbefangen! Das ist dasjenige, was man zunächst betonen kann.

Nun aber handelt es sich ja darum, daß eine solche Prüfung, wenn sie vorgenommen wird, in gewisser Beziehung anstrengend ist. Sie erfordert Denken, sie erfordert, daß man sozusagen arbeitet, daß man sich tatsächlich darauf einläßt, Bestätigungen in der physischen Welt zu finden für das, was aus der hellseherischen Forschung heraus gesagt wird.

Und da kommen wir auf ein Kapitel, das sehr wohl einmal besprochen werden kann, welches unserer eigentlichen Frage erst entspricht, nämlich darauf: Ist es notwendig oder wenigstens gut für den heutigen Menschen, neben dem Streben, das ja berechtigt ist, selber hineinzudringen in die geistige Welt, ist es notwendig oder wenigstens gut, mit den gewöhnlichen Erkenntnismitteln und den gewöhnlichen Denkmethoden des physischen Planes sich eingehend und energisch zu beschäftigen? Mit andern Worten:
Tut der Geistesschüler gut, jene Bequemlichkeit zu überwinden, die er ja heute reichlich mitbringt aus der nichtspirituellen Welt, tut er gut, jene Bequemlichkeit zu überwinden und ernsthaft seine Gedankenwelt auszubauen, sich wirklich der Mittel, mit denen man den Menschen auch vom physischen Plan aus erkennen kann, zu bemächtigen und ihrer sich zu bedienen? Tut er gut, vor allen Dingen recht viel zu lernen, namentlich zu lernen in bezug auf denkerische Art? Es ist sogar recht schwierig, ganz klar und präzis dem heutigen Bewußtsein beizubringen, was man darunter versteht.

Da kam es mir vor, daß jemand, der vorwärtskommen wollte auf anthroposophischem Felde, gleichzeitig aber sich schulen wollte, um die spirituellen Gedanken immer genauer zu denken, eine Lektüre von mir angewiesen haben wollte. Ich empfahl dem Betreffenden zu seiner Denktrainierung, damit er immer mehr imstande sein werde, die Gedanken, die er überliefert erhalte, sich in scharfen Konturen hineinzuzeichnen, er solle das Werk von Spinoza «Die Ethik» studieren. Es dauerte nur wenige Wochen, da schrieb mir die betreffende Persönlichkeit: Ja, er wisse eigentlich nicht, warum er das studieren solle; denn es sei verhältnismäßig ein dickes Buch und alles liefe darin doch nur darauf hinaus, das Dasein Gottes zu beweisen. Das habe er aber niemals bezweifelt und brauche deshalb nicht lange Gedankengänge durchzumachen, um das Dasein Gottes zu beweisen. –
Sehen Sie, das ist so richtig ein Beispiel für jene Bequemlichkeit, mit der heute viele Menschen an die Geisteswissenschaft herankommen. Sie sind sozusagen schnell zufrieden, wenn sie sich einen Glauben erworben
haben, und sie scheuen die Mühe, sich Stück für Stück jene Vorstellungen, die ja unbequem sind, zu erwerben, auszubauen.
Dadurch kann aber niemals etwas anderes herauskommen als ein blinder Glaube, während Sie schon sehen werden, daß die Sache aufhört, blinder Glaube zu sein, wenn Sie wirklich Ihr Denken schulen und nicht bloß gierig danach streben, jene Kräfte auszubilden, die sozusagen zu einer elementaren Stufe der Hellsichtigkeit führen.

Gewiß soll heute nichts gesagt werden gegen das Streben, die verborgenen Kräfte in der Seele zu entwickeln. Das ist ein schönes und ein gutes Streben. Aber auf der andern Seite soll auch betont werden, daß damit parallelgehen muß, daß es notwendig ist, daneben die physischen Gedankenkräfte, diejenigen Erkenntnisfähigkeiten, die uns zunächst hier gegeben sind auf dem physischen Plan, diese wenn auch in unbequemer Weise zu schulen, damit wir imstande sind, uns scharfe Vorstellungen und scharfe Begriffe zu machen von dem, was uns mitgeteilt wird aus den höheren Welten.

Man könnte sehr leicht glauben, daß der geringste Grad des Hellsehens besser sei als noch so viel Hören durch vernünftiges Begreifen von den Tatsachen der höheren Welten. Es könnte jemand sagen: Ich weiß gar nicht, warum ich in dieser Gesellschaft bin. Da werden immer Dinge der höheren Welten erzählt; das ist ganz schön, aber mir wäre es lieber, wenn ich auch nur ein klein, klein wenig sehen könnte durch hellsichtiges Schauen.

Ich kenne einen sehr gelehrten Theosophen, der seine inbrünstige Sehnsucht, auch einmal hinauszukommen über die bloße Gelehrsamkeit zum Sehen, damit ausgesprochen hat, daß er sagte: Wenn ich auch nur einmal in der Lage wäre, das Ende des Schwänzchens eines Elementarwesens zu sehen! –
Gewiß, es ist das begreiflich. Man kann es durchaus verstehen, daß jemand so sagt. Dieser Theosoph würde ja niemals sagen, daß er die Erkenntnisse der spirituellen Wahrheiten dafür hingeben würde. Aber auch das kann vorkommen, daß einer sie hingeben würde, wenn er dafür auch nur ein wenig Hellsehen eintauschen könnte. Und dennoch, wenn jemand eine solche Empfindung hat, so ist sie ungeheuer irrtümlich, und zwar in jeder Beziehung irrtümlich.
Denn wir leben in der Zeit, welche in der Entwickelung der Gesamtheit das Zeitalter des bewußten Denkens ist.

Wie oft betont worden ist, bildete das altindische Zeitalter noch eine ganz andere Art des Bewußtseins aus, die an dämmerhaftes, dumpfes Hellsehen erinnert. Nach und nach erst haben sich die heutigen Fähigkeiten entwickelt und erst wir haben mit der eigentlichen Entwicklung der Bewußtseinsseele das menschliche Denken in den Kreis der Erdenentwickelung hereinbekommen. Deshalb muß es auch heute geschehen, daß die Geisteswissenschaft heruntergeholt wird aus der übersinnlichen Welt und daß sie appelliert an das vernünftige Denken des Menschen.

Wir müssen uns einmal den folgenden Unterschied klarmachen: Bei einem bloß visionären Hellsehen braucht jemand kein besonderer Denker zu sein. Sein Denken kann sehr primitiv sein und er kann doch verhältnismäßig weit sein in bezug auf das Sehen auf dem astralischen und, bis zu einem gewissen Grade sogar devachanischen Plane. Er kann also da ziemlich weit sein, er kann vieles sehen. Der andere mögliche Fall ist, daß jemand sehr, sehr viel weiß von spirituellen Wahrheiten und noch gar nichts sieht, überhaupt nicht in der Lage ist, irgend etwas, wie gesagt auch nur das Ende des Schwänzchens eines Elementarwesens zu sehen. Auch das kann der Fall sein. Nun fragen wir uns einmal: Wie verhalten sich eigentlich diese verschiedenen Fähigkeiten der menschlichen Seele zueinander?

Da müssen wir vor allen Dingen betonen, daß man nicht verwechseln darf: Etwas haben, und sich dessen, was man hat, bewußt sein. Das ist ungeheuer wichtig, daß man das ins Auge faßt. Sie werden diese Frage richtig verstehen, wenn wir sie etwas anders stellen. Sehen Sie, Sie alle waren einmal hellsehend in uralten Zeiten. Denn alle Menschen waren hellsehend, und zwar gab es Zeiten, in denen die Menschen zurückgesehen haben weit, weit in der Zeitenwende. Und nun können Sie fragen: Ja, warum erinnern wir uns nicht an unsere früheren Inkarnationen, wenn wir doch schon in der Zeitenwende rückwärtsschauen konnten?
Das müßte Ihnen ein Beweis sein für die eine Tatsache, daß es Ihnen gar nichts geholfen hat für diese Fähigkeit, zum Beispiel sich nun zurückzuerinnern, daß Sie früher in Ihre Inkarnationen zurückschauen konnten. Und Sie könnten die Frage aufwerfen:
Nützt es uns also zunächst eigentlich etwas für eine folgende Inkarnation, wenn wir jetzt visionär hellsehend werden, für die Rückerinnerung? –
Die eine Tatsache können Sie sich ja schon vor Augen halten: daß das alte Hellsehen nichts nützt für das Zurückschauen heute, denn das haben Sie alle gehabt. Warum erinnern sich heute so viele Menschen nicht an ihre vorhergehenden Inkarnationen?
Die Frage ist außerordentlich wichtig. Es erinnern sich so viele nicht an ihre früheren Inkarnationen, obwohl sie in höherem oder geringerem Maße hellsichtig waren in früheren Zeiten, weil sie damals nicht ausgebildet hatten diejenigen Fähigkeiten, die gerade die Fähigkeiten des Selbstes, des Ichs sind. Denn nicht darum handelt es sich, daß man hellseherische Fähigkeiten ausgebildet hat, sondern daß man dasjenige, was gesehen werden soll, wirklich schon ausgebildet hat.

Wenn nun die Menschen früher noch so hellsichtig gewesen sind und nicht dafür gesorgt haben, gerade diejenigen Fähigkeiten auszubilden, welche die Fähigkeiten des Ichs sind, nämlich die Fähigkeit des Denkens, des Unterscheidungsvermögens, dasjenige, was die besondern Fähigkeiten des menschlichen Selbstes auf dieser Erde sind, so war ja das Ich nicht da in den vorhergehenden Inkarnationen. Woran soll man sich dann erinnern?

Man muß in der vorhergehenden Inkarnation dafür sorgen, daß ein in sich geschlossenes Ich da war. Darauf kommt es an! So daß also heute nur diejenigen Menschen sich an frühere Inkarnationen erinnern können, die in diesen früheren Inkarnationen gearbeitet haben mit den Mitteln des Denkens, der Logik, des UnterscheidungsVermögens.
Diese können sich erinnern. Es kann also bei jemandem das Hellsehen noch so sehr ausgebildet werden: wenn er nicht in früheren Inkarnationen gearbeitet hat mit den Mitteln des Unterscheidungsvermögens, des logischen Denkens, dann kann er sich an eine frühere Inkarnation nicht erinnern. Damals hat er nicht hingesetzt die Marke, an die er sich erinnern soll. Da werden Sie sehen, daß man eigentlich, wenn man Anthroposophie versteht, sich überlegen sollte, daß man nicht schnell genug herangehen kann, diese Fähigkeiten gerade des gründlichen Denkens sich zu erobern.

Nun könnten Sie sagen: Wenn ich hellseherisch werde, dann werde ich mir diese Fähigkeit des logischen Denkens schon von selbst erobern. –
Das ist nicht richtig. Warum haben die Götter überhaupt Menschen entstehen lassen? Aus dem Grunde, weil sie nur in Menschen Fähigkeiten entwickeln konnten, die sie sonst überhaupt nicht hätten entwickeln können: die Fähigkeit zu denken, in Gedanken sich etwas vorzustellen, so daß diese Gedanken an Unterscheidung gebunden sind. Diese Fähigkeit kann erst auf unserer Erde ausgebildet werden; sie war früher überhaupt nicht da, sie mußte erst dadurch kommen, daß eben Menschen entstanden sind.

Wenn wir einen Vergleich gebrauchen wollen, so können wir sagen: Nehmen wir an, Sie haben ein Samenkorn, einen Weizensamen etwa. Wenn Sie ihn noch so lange anschauen, da wird kein Weizen daraus. Sie müssen ihn in die Erde hineinlegen und ihn wachsen lassen, die Kräfte des Wachstums auf ihn wirken lassen. Das, was die göttlich-geistigen Wesenheiten vor der Bildung des Menschen gehabt haben, läßt sich dem Weizensamen vergleichen. Sollte der in Form von Gedanken aufgehen, dann mußte er erst auf dem physischen Plan durch Menschen gepflegt werden.
Es gibt keine andere Möglichkeit, Gedanken zu züchten von den höheren Welten herunter, als sie in Menscheninkarnationen aufgehen zu lassen. So daß dasjenige, was Menschen hier auf dem physischen Plane denken, ein Einzigartiges ist und zu dem hinzukommen muß, was in den höheren Welten möglich ist. Der Mensch war tatsächlich notwendig, sonst hätten ihn die Götter nicht entstehen lassen. Die Götter haben den Menschen entstehen lassen, um das, was sie gehabt haben, auch noch in der Form des Gedankens durch den Menschen zu erhalten.
So also würde überhaupt das, was aus den höheren Welten herunterkommt, nie die Form des Gedankens bekommen, wenn der Mensch ihm nicht diese Form des Gedankens geben könnte. Und wer nicht denken will auf der Erde, der entzieht den Göttern das, worauf sie gerechnet haben, und kann also das, was eigentlich Menschenaufgabe und Menschenbestimmung ist auf der Erde, gar nicht erreichen. Er kann es nur erreichen in derjenigen Inkarnation, wo er sich darauf einläßt, wirklich denkerisch zu arbeiten.

Wenn man sich das überlegt, so folgt alles andere daraus. Was Offenbarungen, wirkliche Tatsachen gibt über die geistige Welt, das kann in der mannigfaltigsten Weise in die Menschenseele einziehen. Gewiß ist es möglich und in zahlreichen Fällen heute wirklich so, daß die Menschen zu einem visionären Sehen kommen, ohne scharfe Denker zu sein – viel mehr Leute kommen zum Hellsehen, die keine scharfen Denker sind, als scharfe Denker -, aber es ist ein großer Unterschied zwischen den Erfahrungen in der geistigen Welt derjenigen, die scharfe Denker sind, und derjenigen, die keine scharfen Denker sind. Es ist ein Unterschied, den ich so ausdrücken kann: Was sich aus den höheren Welten offenbart, das prägt sich am allerbesten ein in diejenigen Formen des Vorstellens, die wir als Gedanken diesen höheren Welten entgegenbringen; das ist das beste Gefäß.

Wenn wir nun keine Denker sind, dann müssen sich die Offenbarungen andere Formen suchen, zum Beispiel die Form des Bildes, die Form des Sinnbildes. Das ist die häufigste Art, wie derjenige, der Nichtdenker ist, die Offenbarungen erhält. Und Sie können dann von solchen, die visionäre Hellseher sind, ohne daß sie zugleich Denker sind, hören, wie von ihnen in Sinnbildern die Offenbarungen erzählt werden. Diese sind ja ganz schön, aber wir müssen uns zu gleicher Zeit bewußt sein, daß das subjektive Erlebnis ein anderes ist, ob Sie als Denker Offenbarungen haben oder als Nichtdenker. Wenn Sie als Nichtdenker Offenbarungen haben, so ist das Sinnbild da; es steht da diese oder jene Figur. Das offenbart sich aus der geistigen Welt heraus. Sagen wir, Sie sehen eine Engelgestalt, dieses oder jenes Symbolum, das dieses oder jenes ausdrückt, meinetwillen ein Kreuz, eine Monstranz, einen Kelch – das ist da im übersinnlichen Felde, das sehen Sie als fertiges Bild. Sie sind sich klar: Das ist keine Wirklichkeit, aber es ist ein Bild.

In etwas anderer Weise werden schon für das subjektive Bewußtsein die Erfahrungen aus der geistigen Welt für den Denker erlebt, nicht ganz so wie bei dem Nichtdenker. Da stehen sie nicht sozusagen auf einmal gegeben da, wie aus der Pistole heraus geschossen; da haben Sie sie anders vor sich. Nehmen Sie, ich will sagen, einen nichtdenkenden visionären Hellseher und einen denkenden.
Der nicht-denkende visionäre Hellseher und der denkende visionäre Hellseher würden beide dieselben Erfahrungen empfangen. Wollen wir einen bestimmten Fall setzen: Der nichtdenkende visionäre Hellseher sieht diese oder jene Erscheinung der geistigen Welt, der denkende visionäre Hellseher sieht sie noch nicht, sondern etwas später, und in dem Momente, wo er sie sieht, da war sie bereits erfaßt von seinem Denken. Da kann er sie schon unterscheiden, er kann schon wissen, ob sie Wahrheit oder Unwahrheit ist. Er sieht sie etwas später. Es tritt ihm aber, indem er sie etwas später sieht, die Erscheinung aus der geistigen Welt so entgegen, daß er sie gedankendurchdrungen hat und unterscheiden kann, ob sie Täuschung oder Wirklichkeit ist, so daß er sozusagen früher etwas hat, bevor er es sieht.

Er hat es natürlich im selben Momente wie der nichtdenkende visionäre Hellseher, aber er sieht es etwas später. Dann aber, wenn er es sieht, dann ist die Erscheinung schon mit dem Urteil, mit dem Gedanken durchsetzt, und er kann genau wissen, ob sie ein Scheinbild ist, ob da seine eigenen Wünsche objektiviert sind, oder ob sie objektive Realität ist.

Das ist der Unterschied im subjektiven Erlebnis. Der nichtdenkende visionäre Hellseher sieht die Erscheinung sogleich, der denkende etwas später. Dafür aber wird sie auch beim ersteren so bleiben, wie er sie sieht, er kann sie so beschreiben. Der Denker aber wird sie ganz einreihen können in das, was dann in der gewöhnlichen physischen Welt ist. Er wird sie in Beziehung bringen können zu dieser. Die physische Welt ist eben auch, wie jene Erscheinung, eine Offenbarung aus der geistigen Welt.

Daraus sehen Sie schon, daß Sie dadurch, daß Sie ausgerüstet mit dem Instrument des Gedankens an die geistige Welt herangehen, Sicherheit haben in der Beurteilung dessen, was Ihnen gegeben wird. Nun aber kommt noch hinzu: Man könnte über den Wert von Mitteilungen aus der geistigen Welt streiten, wenn man die entsprechenden Erscheinungen nicht selber gesehen hat. Setzen wir zu den zweien, die wir einander gegenübergestellt haben, einen dritten hinzu, der nun gar kein Hellseher ist, sondern dem nur mitgeteilt werden die Ergebnisse der geistigen Forschung, insofern sie auf dem Wege des scharfen Denkens im Verein mit dem visionären Sehen gewonnen werden. Er nimmt sie und begreift sie als vernünftig.

Ja, es sind Tatsachen aus der geistigen Welt. Der visionäre, denkende Seher hat sie und ein jeder hat sie, der sie vernünftigerweise begriffen hat, wenn er sich dessen auch nicht bewußt ist. Sie brauchen lange nicht hellsichtig zu sein und haben dennoch den vollen Wert dessen, was Sie als Mitteilungen empfangen, in sich.

Es ist ein Unterschied zwischen dem, etwas zu haben, und sich dessen bewußt zu sein, was man hat.
Man kann sich daran sehr leicht das Verhältnis eines solchen nicht sehenden Geistesschülers zum hellsichtigen klarmachen. Denken Sie, Sie hätten eine Erbschaft gemacht, hätten aber noch nichts davon erfahren. Wenn dies der Fall wäre, wenn Sie die Erbschaft gemacht hätten, Ihnen aber noch nichts bekannt wäre, so hat sie auch schon heute den richtigen Wert für Sie. Sie können es erst später erfahren, daß Sie heute diese Erbschaft gemacht haben, Sie besitzen sie aber trotzdem.
So ist es auch mit demjenigen, der durch die Anthroposophie Tatsachen der geistigen Welt erfährt. Er hat sie, wenn er sie vernünftigerweise begriffen hat, er besitzt sie und kann nun abwarten die Zeit, wo er sich ihrer bewußt wird. Das ist aber eben etwas, was durchaus nicht gleichbedeutend ist mit dem Besitz der Tatsachen.

Insbesondere zeigt sich das nach dem Tode. Was nützt eigentlich – wenn wir dieses triviale Wort anwenden wollen, um uns die Sache zu verdeutlichen -, was nützt dem Menschen mehr nach dem Tode: wenn er ohne Gedanken visionär irgend etwas sieht, oder wenn er rein spirituelle Mitteilungen, ohne visionär zu schauen, empfängt?

Da könnte man sehr leicht glauben, das visionäre Sehen sei eine bessere Vorbereitung für den Tod als das bloße Hören der Tatsachen aus der geistigen Welt. Und dennoch! Nach dem Tode nützt dem Menschen recht wenig, was er bloß visionär gesehen hat.
Ist dagegen eine Tatsache da, fängt er sofort an, sich dessen bewußt zu werden, was er an Mitteilungen empfangen hat, wenn er diese vernünftigerweise begriffen hat. Gerade das hat den Wert nach dem Tode: was man verstanden hat, gleichgültig, ob es geschaut ist oder nicht. Und nehmen Sie den tiefsten Eingeweihten: durch sein Hellsehen kann er die ganze geistige Welt schauen, aber das erhöht seine Bedeutung nach dem Tode nicht, wenn er nicht in menschlichen Begriffen diese Tatsachen auszudrücken imstande ist. Nach dem Tode helfen ihm nur diejenigen Dinge, die er hier als Begriffe hat.
Das sind die Samenkörner für das Leben nach dem Tode. Natürlich, wer visionärer Hellseher ist und Denker, der kann es nutzbringend machen, was er visionär sieht. Aber zwei nichtdenkerische Menschen, von denen der eine hellsichtig ist und der andere nur hört, was dieser sieht, sind nach dem Tode in genau derselben Lage; denn das, was wir mitbringen in das Leben nach dem Tode, das ist dasjenige, was wir uns hier erwerben mit Hilfe des scharfen Denkens.
Das geht auf als ein Samen, nicht das, was wir herausholen aus den Welten, wo wir hineingehen. Wir bekommen das, was wir aus den höheren Welten empfangen, nicht als ein freies Geschenk, damit wir es dann bequemer haben, wenn wir den physischen Plan verlassen, sondern dazu, daß wir es hier in die Münze dieser Erde umsetzen. So viel wie wir in die Münze dieser Erde umgesetzt haben, so viel hilft uns nach dem Tode. Das ist das Wesentliche.

So ist es in bezug auf das Verhältnis nach dem Tode. Aber auch hier auf dem physischen Plan ist das Verhältnis ein anderes beim visionären Hellseher und bei dem denkenden visionären Hellseher. Gewiß ist es interessant und schön, hineinzusehen in die geistigen Welten; aber es ist trotzdem ein Unterschied, diese geistigen Welten bloß visionär zu sehen, abgesehen davon, daß man, ohne diese Dinge denkerisch zu durchschauen, niemals vor Täuschungen bewahrt bleibt.

Es gibt kein anderes Mittel gegen Täuschungen, als das Geschaute erst klar zu denken. Aber selbst abgesehen davon: Nehmen wir an, es habe ein visionärer Hellseher dieses oder jenes geschaut, so wie er es schaut -das können Sie seinen Schilderungen entnehmen -, so ist es doch durchdrungen von Elementen des physischen Planes. Oder hat Ihnen irgendeiner einen Engel beschrieben, der nicht durchdrungen gewesen wäre von Elementen des physischen Planes? Er hat Flügel gehabt, Flügel haben aber die Vögel auch. Er hat einen menschlichen Oberleib gehabt, einen menschlichen Oberleib hat aber auch jeder Mensch auf dem physischen Plan. Gewiß, wie die Dinge zusammengesetzt sind, von denen der visionäre Hellseher erzählt, das ist nicht auf dem physischen Plan vorhanden; aber die Elemente dazu sind auf dem physischen Plan vorhanden. Die Bilder sind durchaus aus Elementen des physischen Planes zusammengesetzt. Das ist nicht unberechtigt. Aber Sie können daraus doch entnehmen, daß ein solches Bild einen Erdenrest hat. Was Sie da in Formen, in Bildern, die dem physischen Plan entnommen sind, an Ihren Schauungen haben, das gehört nicht der geistigen Welt an, das ist nur Versinnbildlichung der geistigen Welt mit Mitteln der physischen Welt.

Ich habe das klar auseinandergesetzt in der «Geheimwissenschaft im Umriß». Ich habe da auseinandergesetzt, daß das wirklich für das heutige Hellsehen bis zu dem Punkte gehen muß, daß es zwar zuerst zu seiner Vorentwickelung seine Bildhaftigkeit hat, daß es aber nicht stehenbleiben darf dabei, sondern vorrücken muß bis zu dem Punkte, wo auch der letzte Erdenrest von dem, was geschaut wird, abgeworfen wird. Dann ist allerdings eine gewisse Gefahr vorhanden für den Hellseher, wenn er alle Erdenreste abstreift. Wenn er da zum Beispiel den Engel sieht und alles Irdische abstreift, so ist die Gefahr vorhanden, daß er dann nichts mehr sieht. Wenn er das wegläßt, was hinaufgetragen worden ist an Sinnbildlichkeit, dann besteht die Gefahr, daß er nichts mehr sieht. Was einen dann bewahrt, die Sache ganz zu verlieren, wenn man wirklich in die geistige Welt kommt, das ist der Same, der aus dem Denken aufgehen kann.

Die Gedanken geben dann die Substanz her, das, was da ist in der geistigen Welt, zu ergreifen. Dadurch erhalten wir die Fähigkeit, wirklich in der geistigen Welt zu leben, daß wir das ergreifen in unserer sinnlichen Welt, was nicht mehr von Elementen der Sinnlichkeit durchsetzt ist und doch hier auf dem physischen Plane ist. Das sind einzig und allein die Gedanken. Wir dürfen nichts mitbringen in die geistige Welt als lediglich die Gedanken; von einem Kreis zum Beispiel nichts von der Kreide, sondern lediglich die Gedanken von dem Kreise. Mit diesen können Sie aufsteigen in die geistigen Welten. Von dem Bilde dürfen Sie nichts mitbringen.

…Das alles ist etwas, was sozusagen intimer auf die Sache eingeht und was ungeheuer wichtig ist zu bedenken, was einen darauf führen muß, daß man es wirklich nötig hat, sein Denken auszubilden, die Bequemlichkeit zu überwinden, die darin liegt, daß man sich eben nicht ein erkennendes Wissen aneignen will. Es ist tausendmal besser, die spirituellen Vorstellungen erst denkerisch erfaßt zu haben und dann, je nach seinem Karma später oder früher, selber hinaufsteigen zu können in die geistigen Welten, als zunächst zu sehen und nicht denkerisch erfaßt zu haben, was mitgeteilt wird in der Bewegung, die man die anthroposophische nennt. Tausendmal besser ist es, Geisteswissenschaft zu kennen und noch nichts zu sehen, als etwas zu sehen und nicht die Möglichkeit zu haben, die Dinge auch denkerisch zu durchdringen, weil dadurch Unsicherheit in die Sache hineinkommt.

Sie können aber die Sache noch präziser zum Ausdruck bringen, indem Sie sagen: Es gibt in der Gegenwart scharfe Denker, die können vernünftigerweise die geisteswissenschaftliche Weltanschauung einsehen. Warum kommen manchmal gerade diese so schwer zum Hellsehen? –
Verhältnismäßig leicht wird es gerade denen, die nicht scharfe Denker sind, zum visionären Hellsehen zu kommen, und sie werden dann leicht hochmütig gegenüber dem Denken, während es schwierig ist für die scharfen Denker, zur Hellsichtigkeit zu kommen. Da ist haarscharf die Klippe vorhanden, wo ein gewisser maskierter Hochmut sich geltend macht. Es gibt ja kaum etwas, was den Hochmut so sehr züchtet, wie ein nicht von Gedanken erhelltes Hellsehen, und es ist deshalb so besonders gefährlich, weil der Betreffende in der Regel gar nicht weiß, daß er hochmütig ist, sondern sich sogar für demütig hält. Er weiß gar nicht zu beurteilen, was für ein ungeheurer Hochmut dazugehört, die denkerische Arbeit der Menschen gering zu achten und auf gewisse Eingebungen den Hauptwert zu legen. Es steckt darin ein maskierter Hochmut, der ungeheuerlich ist.

Die Frage ist nun diese: Warum ist es – was ja die Erfahrung lehrt -gerade manchem Denker so ungeheuer schwierig, es dahin zu bringen, nun auch hellsichtig zu werden? –
Das hängt zusammen mit einer wichtigen Tatsache. Was man menschliche Unterscheidungskraft, Urteilskraft nennt, was der Denker gerade ausbildet, das logische Denken, das bewirkt nämlich eine ganz bestimmte Änderung des ganzen Gehirnbaues. Das physische Instrument wird umgeändert durch scharfes Denken. Die physische Forschung weiß zwar wenig davon, aber es ist so; es schaut ein physisches Gehirn anders aus, das ein Denker benützt hat, als eines, das einem Nichtdenker angehörte. Daß einer hellseherisch ist, ändert es nicht viel.
Bei einem, der nicht denkt, finden Sie das Gehirn in sehr komplizierten Windungen, beim scharfen Denker dagegen verhältnismäßig einfach, ohne besondere Komplikationen. Gerade in der Vereinfachung der Gehirnwindungen drückt sich das Denken aus. Davon weiß die heutige Forschung nichts.

Scharfes Denken ist das, was überschauen kann, nicht, was sich im Analysieren betätigt. Daher die größere Einfachheit der Gehirnwindungen beim scharfen Denker. Wo die physische Forschung irgendwie nur sich herbeiläßt, bloß einmal das scharfe Denken, das für physische Verhältnisse gilt, zu prüfen, da zeigt sich sehr bald, daß die physische Forschung bestätigt, was die Geisteswissenschaft behauptet. Die Untersuchung des Gehirns von Mendelejew, dem die Wissenschaft die Aufstellung des periodischen Systems der Elemente verdankt, bewahrheitet, was die Geisteswissenschaft sagt: seine Gehirnwindungen waren einfacher. Bei ihm war in gewissen Grenzen ein umfassendes Denken da, und da ergab auch die physische Untersuchung durchaus die Wahrheit dessen, was ich gesagt habe. Das ist nicht von besonderem Wert, das sei nur nebenbei erwähnt.
Also, wie gesagt, es ist eine Veränderung des Werkzeuges des Denkens da. Diese Veränderung muß die Tätigkeit des Denkens selber herbeirufen. Es wird ja keiner geboren mit all den Fähigkeiten, die er später hat, vielleicht mit den Anlagen dazu; aber die Fähigkeiten muß er erst ausbilden, so daß tatsächlich mit dem Gehirn während des Lebens eine Veränderung vorgeht.
Es ist das Werkzeug des Denkens anders geworden nach dem denkerischen Leben, als es vorher gewesen war. Die Sache ist nun diese, daß unser Ätherleib, den wir für das hellseherische Bewußtsein loskriegen müssen von unserem physischen Gehirn, durch diese denkerische Betätigung gekettet wird an das physische Gehirn. Diese Arbeit des Denkens kettet, verbindet den Ätherleib stark mit dem Gehirn.
Hat einer durch sein Karma noch nicht die Kräfte, ihn wieder loszukriegen zur rechten Zeit, dann kann es sein, daß er in dieser Inkarnation nichts Besonderes auf hellseherischem Gebiete erreichen kann. Nehmen wir an, er habe das Karma, in einer früheren Inkarnation ein scharfer Denker gewesen zu sein. Dann wird das Denken jetzt nicht so stark den Ätherleib mit dem Gehirn engagieren, und er wird verhältnismäßig leicht den Ätherleib bald loskriegen und kann gerade dadurch, daß die denkerischen Elemente die besten Samen sind für das Aufsteigen in die höheren Welten, in feinster Weise die Geheimnisse der höheren Welten erforschen. Er muß natürlich erst wieder loskriegen den Ätherleib von dem Gehirn. Wenn der Ätherleib aber sich so verfangen hat im physischen Gehirn beim Hineinziselieren der denkerischen Tätigkeit, daß er erschöpft ist, dann kann ihn sein Karma vielleicht lange warten lassen, bis er ihn wieder loskriegt. Wenn er aber dann aufsteigt, dann ist er durchgeschritten durch den Punkt des logischen Denkens. Dann ist das unverloren, dann kann ihm niemand wegnehmen, was er sich errungen hat, und das ist ungeheuer wichtig, weil die Hellsichtigkeit sonst immer wieder verlorengehen kann. Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß Sie alle hellsichtig waren in früheren Zeiten.

Warum besitzen Sie die Fähigkeit des Hellsehens jetzt nicht mehr? Weil Sie dazumal nicht mit dem Erdendasein verknüpft und verbunden waren, weil Sie entrückt waren in die geistige Welt, weil Sie diese nicht heruntergeholt haben bis zu Ihren Fähigkeiten, weil das visionäre Hellsehen auf einer Entrücktheit beruhte.

Das ist, was wir ins Auge fassen müssen. Diese Feinheiten muß man sich in die Seele schreiben. Man muß sich klar sein darüber, daß eine wirkliche Geheimwissenschaft heute die Aufgabe hat, diejenigen Ergebnisse der geistigen Forschung mitzuteilen, die mit dem denkerischen Gehalt durchdrungen sind, so daß man immer die Ergebnisse der hellseherischen Forschung so einkleidet, daß der nicht hellseherische Mensch sie durch sein Denken begreifen kann.
Dazu müssen sie aber erst mit dem Gedanken verbunden sein. Daher die Schwierigkeit alten Büchern gegenüber, in denen von Erscheinungen der höheren Welten die Rede ist. Wenn Sie solche alte Bücher hernehmen, so werden Sie überall – wenn Sie mit der Gepflogenheit der heutigen Geisteswissenschaft herantreten – einen Mangel empfinden. Es sind vielleicht großartige Mitteilungen, die Sie in diesen alten Büchern finden, aber es kann der heutige Mensch mit ihnen, wenn er nicht selber Hellseher ist und die Sache richtigstellen kann, nicht viel anfangen, während mit dem, was heute Geisteswissenschaft darbietet, jeder, der sich bemüht, etwas anfangen kann, weil er es durchdringen kann mit dem, was er auf dem physischen Plan an Gedankenelementen gewinnen kann.
Denn mit denselben Begriffen wird das erfaßt, was in der geistigen Welt ist und was in der physischen Welt ist.

Die heutige Naturwissenschaft redet von Entwickelung und die Geisteswissenschaft redet von Entwickelung. Haben Sie den Begriff der Entwickelung erfaßt, so können Sie verstehen, was in der Geisteswissenschaft mitgeteilt wird. Sie können sich von Karma einen Begriff verschaffen, weil Sie sich ein denkerisches Bild davon verschaffen können. Freilich, wenn Sie einfach sagen, wie dies manche Theosophen tun: Jede geistige Ursache hat eine geistige Wirkung und dies ist Karma -, dann haben Sie keinen Begriff von Karma. Bei einer Billardkugel können Sie auch das Gesetz von Ursache und Wirkung sehen, aber da haben Sie nicht den richtigen Vergleich mit Karma.

Nehmen Sie dagegen einmal eine Kugel aus Eisen und werfen Sie diese in ein Gefäß mit Wasser. Wenn die Kugel kalt ist, so bleibt das Wasser, wie es ist. Wenn Sie aber die Kugel heiß machen und dann hineinwerfen, dann wird das Wasser warm. Infolge des Ereignisses, das mit der Kugel geschehen ist, wird das Wasser warm. Das läßt sich mit dem Karma vergleichen, wenn ein späteres Ereignis die Folge ist eines früheren Geschehnisses.

So also müssen wir uns durchaus klar sein darüber, daß jeder, der mit dem Gedanken durchdringt die Tatsachen der geistigen Welt, sie auch mitteilen kann in solcher Weise, daß derjenige, der die Gedanken hier auf dem physischen Plane gewonnen hat, dieselben Gedanken anwenden kann auf das, was mitgeteilt wird aus den geistigen Welten. Dann kann er das begreifen. Das soll sich jeder zu Gemüte führen.

Jeder soll verstehen, daß es nicht darauf ankommt, Mitteilungen aus den höheren Welten zu bekommen, sondern es kommt darauf an, daß man sie bekommt auf eine Art, die unseren irdischen Verhältnissen entspricht. Jeder sollte darauf achtgeben, daß er die Mitteilungen aus den höheren Welten nicht anders bekommt. Freilich ist die Bequemlichkeit da, einfach zu glauben, was mitgeteilt wird. Das ist aber von großem Übel.

Denn, nicht wahr, wenn jemand glauben will, so ist das ungefähr so, wie wenn er sich erzählen lassen will, daß es ein Licht gibt, während er doch das Licht braucht, um ein Zimmer zu beleuchten. Da muß er das Licht haben, da hilft der bloße Glaube nichts. So ist es wichtig, daß man zunächst die Form ergreift, die Form des gewissenhaften, gründlichen Nachdenkens, um durch diese Form zuerst zu empfangen die Mitteilungen aus der geistigen Welt. Erforscht werden können sie nur, wenn man die Fähigkeit des Hellsehens besitzt, aber begreifen kann sie jeder, wenn sie erforscht sind, der sie in richtiger Weise empfängt.

Wenn man so denkt, dann werden alle die Gefahren, die wirklich sonst verknüpft sind mit dem, was man anthroposophische Bewegung nennt, mehr oder weniger dadurch beseitigt sein. Die Gefahren treten aber sofort ein, wenn Leute hellseherische Fähigkeiten entwickeln und nicht darauf halten, zu gleicher Zeit ihr Denken und namentlich ihr Erkennen mit den Mitteln des Denkens zu bereichern.
Diese Gier haben viele, nur ja etwas zu erhaschen aus der geistigen Welt und nicht sorgfältig wirklich erkennend vorzugehen mit dem, was auf dem physischen Plan erobert werden muß. Kein Gott kann die Welt in Gedanken erfassen, wenn er sich nicht auf dieser physischen Erde inkarniert. Er kann die Welt erfassen in anderer Form; aber um sie zu erfassen in dieser Form, da muß er sich auf dieser Erde inkarnieren.

Das bedenkend, kann sich jeder klarmachen, daß es mit gewissen Gefahren verbunden ist, Fähigkeiten in sich zu entwickeln, die man dann nicht richtig verwendet. Wer ein gewisses visionäres Hellsehen entwickelt und es nicht richtig verwendet, indem er sich die Möglichkeit abschneidet, die Welt damit zu überzeugen, wer nur auf dem astralischen Plan bleibt und seine Erfahrungen nicht herunterbekommt auf den physischen Plan, der setzt sich der Gefahr aus, daß ein Abgrund sich auftut zwischen seinen Visionen und dem physischen Plan.

Nehmen wir an, jemand habe ganz bedeutende Visionen, die dem astralischen Plane angehören. Diese seien meinetwillen ganz Wirklichkeit – sie können es ja auch beim nichtdenkenden visionären Hellseher sein -, aber nun tut sich zwischen ihm und demjenigen, was dem physischen Plan zugrunde liegt, ein Abgrund auf. Denken Sie sich einmal, dieses Handtuch wäre der physische Plan. Nun stünde der visionäre Hellseher davor; er sieht seine Vision. Hinter dem physischen Plan ist aber die eigentliche geistige Welt. Der physische Plan ist Maja. Diesen physischen Plan, den schafft derjenige, der visionärer Hellseher ist, nicht weg; der verschwindet erst für den, der ihn mit den Mitteln des Gedankens fortschafft. Da erst dringen Sie hinter den physischen Plan, so daß Sie das erst mit dem denkerischen Hellsehen verstehen. Der physische Plan ist da, aber Sie sehen die geistige Welt, die wirkliche geistige Welt nicht. Da tut sich der Abgrund auf, da bleibt der physische Plan als Maja vorhanden.
Und diese Unmöglichkeit, den physischen Plan zu durchdringen, beruht darauf, daß das Gehirn nicht dazu fähig ist, sich auszuschalten.

Wenn Sie gelernt haben, richtig zu denken, so brauchen Sie zum Denken Ihr Gehirn nicht unmittelbar. Dasjenige, was Denken ist, das arbeitet am Gehirn, aber die denkerische Tätigkeit braucht das Gehirn nicht unmittelbar.
Es ist Unsinn, wenn jemand behaupten wollte: Das Gehirn denkt. -Ich ging einmal – es ist jetzt vielleicht fünfunddreißig Jahre her – mit einem jungen Manne, der damals studierte, auf der Straße, der damals auf dem besten Wege war, ganz Materialist zu werden. Der sagte: Nun ja, wenn er denke, da schwingen dadrinnen die Gehirnatome; jeder bestimmte Gedanke habe eine bestimmte Form, und er beschrieb, daß das eigentlich Unsinn wäre, so etwas wie eine Seele vorauszusetzen, die da denke. Denn da denke das Gehirn. – Ich sagte ihm: Ja, sage mir einmal, warum bist du denn eigentlich so verlogen? Wenn das so ist, dann kannst du doch nicht sagen: Ich denke. Du mußt dann sagen: Mein Gehirn denkt. Du mußt dann auch sagen: Mein Gehirn ißt, mein Gehirn sieht die Sonne. Das wäre dann die Wahrheit. – Dann würde er bald sehen, welchen Unsinn er mit sich herumträgt.

Also das Gehirn ist es nicht, was denkt. Das kann man sich, wie gesagt, durch recht triviale Überlegungen klarmachen – wenn man nicht gerade ein recht moderner Materialist ist. Die denkerische Tätigkeit ist zunächst gar nicht darauf angewiesen, das Gehirn sozusagen als ihr Instrument zu gebrauchen. Wo der Gedanke rein wird, da ist das Gehirn nicht beteiligt. Bloß bei der Versinnbildlichung ist es beteiligt.

Wenn Sie sich einen Kreidekreis vorstellen, so geschieht dies nur durch das Gehirn; wenn Sie sich aber einen reinen, sinnbildlichkeits-freien Kreis denken, so ist der Kreis selber das Aktive, was das Gehirn erst formt. Dann aber, wenn der Mensch visionäres Hellsehen hat, so bleibt er in seinem Ätherleib und kommt gar nicht bis zum physischen Gehirn. Man kann das ganze Leben lang in visionärer Hellseherei leben.
Dadurch wird das Gehirn nicht anders, dadurch wird der Ätherleib ausgearbeitet, aber nicht das Gehirn. Dadurch aber wiederum können Sie niemals diesen Abgrund durchdringen, niemals können Sie Maja wirklich durchdringen. Das können Sie nur, wenn Sie es mit den Gedanken durchdringen.

Wer verschmäht, denkerisch vorzugehen, der entwickelt Fähigkeiten, die sozusagen ihr Objekt nicht ergreifen, die nicht wirklich in die geistige Welt hineingreifen. Und die Folge ist, daß ein MißVerhältnis entsteht zwischen dem, was er in seinem Ätherleib fortwährend entwickelt, und dem, was er eigentlich als Mensch ist.
Es entsteht ein vollständiges Mißverhältnis: es ist nicht angemessen sein Gehirn seinen hellseherischen Fähigkeiten. Das Gehirn ist grob, denn der Betreffende hat sich nicht Mühe gegeben, es durch Denken zu veredeln. Es bildet sich etwas, wodurch er nicht durch kann, was ihm ein Hindernis ist, mit seinen Visionen an die geistige Wirklichkeit heranzukommen. Er entfernt sich von der Wirklichkeit, statt sich ihr zu nähern. Dann ist jede Möglichkeit, zu entscheiden über die geistige Welt, ausgeschlossen. Ein solcher Mensch wird gewiß viel sehen können, aber niemals ist bei ihm eine Garantie vorhanden, daß das der Wirklichkeit entspricht.

Entscheiden könnte nur derjenige, der unterscheiden kann zwischen bloßer Vision und Wirklichkeit. Unterscheiden kann eben nur das Unterscheidungsvermögen. Wenn man das nicht hat, kann man niemals unterscheiden eine bloße Vision von Wirklichkeit. Aber Unterscheidungsvermögen kann man sich nur erarbeiten durch Arbeiten auf dem physischen Plan. So schwebt man immer ohne Untergrund, wenn man die etwas mühsam zu erringende denkerische Arbeit verschmäht.

Das ist das, was man sich zu Gemüte führen muß. Dann können nicht die Dinge entstehen, die sonst so sehr leicht entstehen, die immer und immer wieder vorkommen können, daß Menschen dadurch, daß sie visionäres Hellsehen entwickeln, sich einen Damm aufrichten gegen die wirkliche Welt und dann in ihren Träumen leben.
Das ist gleichbedeutend mit Sich-nicht-mehr-Auskennen in der physischen Welt, gleichbedeutend eben mit Nicht-vollständig-bei-seinen-Sinnen-Sein. Besonnenheit kann man sich erringen dadurch, daß man arbeitet da, wo diese Besonnenheit einzig und allein ausgebildet werden kann: durch das Denken des physischen Planes.
Verschmäht man es, diese Besonnenheit sich anzueignen, so schwebt man in der Irre. Das ist, was wir uns aneignen müssen, sonst kommen all die Schäden, die notwendigerweise mit dem, was man die anthroposophische Bewegung nennt, verknüpft sein müssen.

Wer nur blind glauben will, also alle Mitteilungen aus den höheren Welten auf die bloße Autorität eines andern hin ohne vernünftiges Denken annimmt, der tut etwas, was sehr bequem ist, aber es hat eine Gefahr in sich. Statt in sich die Sachen zu erarbeiten, statt aus sich heraus nachzudenken, nimmt man das Wissen eines andern, die Dinge, die ein anderer gesehen hat, in sich auf. Man verzichtet, denkerisch zu prüfen, was er mitteilt. Das erzeugt dasjenige, was durch die anthroposophische Bewegung an Schäden entstehen kann.

Es darf sich natürlich dadurch niemand abschrecken lassen, sich ihr hinzugeben. Es kann vorkommen bei einem solch blindgläubigen Menschen, daß er sich verliert, daß er nicht mehr unterscheiden kann zwischen dem, was wahr ist und was Lüge ist. Nichts kann so sehr die Lügenhaftigkeit züchten als ein gewisses bloß visionäres Hellsehen, das nicht am Gedanken sich aufrankt und kontrolliert wird. Und auf der andern Seite wird ein solches Hellsehen wiederum eine andere Eigenschaft noch züchten, nämlich eine gewisse Überhebung, einen gewissen Hochmut, der bis zum Größenwahn führen kann. Und er ist um so gefährlicher, weil er nicht bemerkt wird.
Die Gefahr ist sehr groß, daß man sich deshalb für etwas Besseres hält, weil man diese oder jene Dinge sieht, die der andere nicht sieht. Und gewöhnlich weiß man dann gar nicht, wie tief das, was hart an Größenwahn grenzt, wie tief das eigentlich in der Seele sitzt. Es verbirgt sich in gewisser Weise und namentlich hinter dem, daß man mit unbedingter Sicherheit auf seine Visionen schwört und keine Einrede duldet, so daß man es erleben kann, daß die Leute das törichteste Zeug glauben, wenn es ihnen nur vom astralischen Plan aus gesagt wird. Es würde ihnen gar nicht einfallen, von einem Menschen des physischen Planes solche Dinge zu glauben, wenn er es ihnen sagte, aber sie glauben es mit sklavischer Gläubigkeit, wenn es ihnen vom astralischen Plan aus gesagt wird.
Wer sich das abgewöhnt, der kann auch nicht auf jeden Schwindel und Humbug hereinfallen. Man fällt aber herein, wenn man nicht den Trieb in sich ausbildet, zu prüfen, und sobald man auf bequeme Weise sich eine Überzeugung verschaffen will. Man soll es sich nicht leicht machen. Man soll es in Betracht ziehen, daß es zu den heiligsten Angelegenheiten des Menschen gehört, sich eine Überzeugung zu verschaffen. Wenn man das in Betracht zieht, dann wird man keine Mühe scheuen, wirklich zu arbeiten, nicht bloß hinzuhorchen auf sensationelle Mitteilungen.

An Mitteilungen aus der geistigen Welt heraus haben wir wirklich genug, sozusagen, aber es ist auch notwendig, daß man sich die richtige Gesinnung und die richtige Vorstellungsart aneignet, sich zu diesen Dingen entsprechend zu verhalten.

Das wollte ich heute einmal aussprechen. Ich wollte es nicht bloß ermahnend aussprechen, wie eine Predigt, sondern aussprechen mit allen Begründungen. Daher war es vielleicht an sich schon etwas schwerere Denkarbeit, da mitzudenken. Aber ich versuche ja immer, auch in meinen Methoden dasjenige einzuhalten, was man als das Richtige in der geisteswissenschaftlichen Bewegung verlangen kann.
Viele wollen salbungsvolle Ermahnungen. Darauf verzichte ich. Ich versuche die Dinge so darzustellen, daß sie in wirkliche Gedankenformen sich kleiden können. Wenn man Dinge des physischen Planes erörtert, wie heute, dann ist das natürlich manchmal eine schwierige Denkarbeit, denn sie sind nicht so sensationell, auch nicht so angenehm wie Dinge der höheren Welten, aber doch ungeheuer wichtig.

Sie werden die Wichtigkeit dieser Dinge nicht unterschätzen, wenn Sie sich sagen: Soll wirklich eintreten, was eintreten muß, daß nämlich in den nächsten Inkarnationen eine genügend große Anzahl von Menschen sich erinnert an die gegenwärtige Inkarnation, dann muß vorgesorgt werden. Bilden Sie also Ihre Urteilskraft aus, dann sind Sie Kandidaten des Sich-Erinnerns in der folgenden Inkarnation an die gegenwärtige. Sorgen Sie dafür, mit Gedanken die Welt verfolgen zu können. Denn, wenn Sie auch noch so viel sehen können in visionärer Art, so wird Ihnen das nichts helfen zu einer Rückerinnerung an die jetzige Inkarnation. Anthroposophie ist aber dazu da, jenes, was als Notwendigkeit eintreten muß, vorzubereiten: daß es eine genügend große Anzahl von Menschen gibt, die nun wirklich aus eigenem Wissen zurückschauen können auf diese Verkörperung.

Wie viele in dieser Inkarnation dazu kommen, das geisteswissenschaftliche Wissen zu begleiten mit hellseherischem Vermögen, das hängt ab von dem Karma des einzelnen. Viele sitzen gewiß hier, deren Karma so ist, daß sie in dieser Inkarnation nicht dazu kommen, hellseherisch die Welt zu durchschauen. Aber alle diejenigen, die sich aneignen das, was in der wirklichen Geisteswissenschaft so gegeben wird, daß es in die Formen des Denkens gekleidet wird, die werden in der nächsten Inkarnation die Früchte davon haben, denn sie haben sich angeeignet die Grundlagen dazu. Der Mensch kann sozusagen ein Hellseher sein, ohne daß er es weiß, und derjenige, der Geisteswissenschaft ordentlich studiert, hat das Sehen und kann dann warten, bis ihm sein Karma erlaubt, die Dinge auch zu schauen.

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Einführung in die Anthroposophie. Rudolf Steiner
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Audio-Einführungs-Zyklus in die Geisteswissenschaft von Marcus Baader: Rudolf Steiner – „Menschheitsentwicklung“
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Anthroposophische Geisteswissenschaft: „Wer nicht die Schulung durchgemacht hat durch die moderne Naturwissenschaft, der kann im Grunde genommen nur Nebuloses auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft hervorbringen“.
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Rhythmen im Kosmos und im Menschenwesen – Wie kommt man zum Schauen der geistigen Welt? Rudolf Steiner
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Seelenerlebnisse nach dem Tode. Die Wirkungen unserer Taten im anderen Wesen erleben wir jetzt selber… Rudolf Steiner
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Die Geheimwissenschaft: Vorreden – Charakter / von Rudolf Steiner
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Seien wir „selbstlose Egoisten!“ Aphorismen, Gedankensplitter zur Gestaltung der eigenen Biographie
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