«Was für eine Art von Wahrheit soll man vom Kunstwerke verlangen?» Rudolf Steiner

Naturwahrheit oder Kunstwahrheit…
Es ist ein großer Unterschied zwischen «wahr scheinen» und «den Schein des Wahren» haben. Die theatralische Darstellung ist selbstverständlich Schein. Man kann nun der Ansicht sein, daß der Schein
eine solche Gestalt haben müsse, daß er die Wirklichkeit vortäusche. Oder man kann der Überzeugung sein, daß der Schein aufrichtig zeigen solle: ich bin keine Wirklichkeit

ÜBER WAHRHEIT UND WAHRSCHEINLICHKEIT DER KUNSTWERKE R.Steiner
1898 – aus GA 271

Inhaltsangabe:
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Über dieses Thema gibt es einen interessanten Aufsatz Goethes in Gesprächform. In demselben wird die Frage: «Was für eine Art von Wahrheit soll man vom Kunstwerke verlangen?» in erschöpfender Weise behandelt…
Es ist ein großer Unterschied zwischen «wahr scheinen» und «den Schein des Wahren» haben. Die theatralische Darstellung ist selbstverständlich Schein. Man kann nun der Ansicht sein, daß der Schein
eine solche Gestalt haben müsse, daß er die Wirklichkeit vortäusche. Oder man kann der Überzeugung sein, daß der Schein aufrichtig zeigen solle: ich bin keine Wirklichkeit…
«…daß das Kunstwahre und das Naturwahre völlig verschieden sei, und daß der Künstler keineswegs streben sollte noch dürfte, daß sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine»…
Naturwahrheit werden nur diejenigen Künstler in ihren Werken liefern wollen, denen die Phantasie fehlt, die deshalb kein Kunstwahres erschaffen können, sondern die bei der Natur eine Anleihe machen müssen,
Ein großer Naturforscher besaß unter seinen Haustieren einen Affen, den er einst vermißte und nach langem Suchen in der Bibliothek fand. Dort saß das Tier an der Erde…
Die Kunst, welche bloße Naturwahrheit anstrebt, äffische Nachahmung der gemeinen alltäglichen Wirklichkeit, ist in dem Augenblicke widerlegt, in dem man in sich die Möglichkeit fühlt, sich die oben geforderte «höhere Existenz» zu geben…
Wer in sich die Fähigkeit entdeckt, über das Naturwesen hinaus ein besonderes Kunstwesen zu schauen, wird den Naturalismus als die ästhetische Weltanschauung künstlerisch bornierter Menschen empfinden…
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ÜBER WAHRHEIT UND WAHRSCHEINLICHKEIT DER KUNSTWERKE

Über dieses Thema gibt es einen interessanten Aufsatz Goethes in Gesprächform. In demselben wird die Frage: «Was für eine Art von Wahrheit soll man vom Kunstwerke verlangen?» in erschöpfender Weise behandelt. Was da gesagt wird, wiegt Bände auf, die in neuerer Zeit über diesen Gegenstand geschrieben worden sind. Da gegenwärtig ein ebenso lebhaftes Interesse wie eine große Verwirrung über die Frage herrschen, dürfte es wohl hier am Platze sein, an die Hauptgedanken des Goetheschen Gespräches zu erinnern.

Es nimmt seinen Ausgang von der Darstellung des «Theaters im Theater». «Auf einem deutschen Theater ward ein ovales, gewissermaßen amphitheatralisches Gebäude vorgestellt, in dessen Logen viele Zuschauer gemalt sind, als wenn sie an dem, was unten vorgeht, teilnähmen. Manche wirkliche Zuschauer im Parterre und in den Logen waren damit unzufrieden und wollten übelnehmen, daß man ihnen so etwas Unwahres und Unwahrscheinliches aufzubinden gedächte. Bei dieser Gelegenheit fiel ein Gespräch vor, dessen ungefährer Inhalt hier aufgezeichnet wird.»

Das Gespräch findet statt zwischen einem Anwalt des Künstlers, der mit den gemalten Zuschauern seine Aufgabe gelöst zu haben glaubt, und einem Zuschauer, dem solche gemalte Zuschauer nicht genügen, weil er Naturwahrheit verlangt. Dieser Zuschauer will, daß ihm «wenigstens alles wahr und wirklich scheinen solle». «Warum gäbe sich denn der Dekorateur die Mühe, alle Linien aufs genaueste nach den Regeln der Perspektive zu ziehen, alle Gegenstände nach der vollkommensten Haltung zu malen? Warum studierte man aufs Kostüm? Warum ließe man es sich so viel kosten, ihm treu zu bleiben, um dadurch mich in jene Zeiten zu versetzen? Warum rühmt man den Schauspieler am meisten, der die Empfindungen am wahrsten ausdrückt, der in Rede, Stellung und Gebärden der Wahrheit am nächsten kommt, der mich täuscht, daß ich nicht eine Nachahmung, sondern die Sache selbst zu sehen glaube?»

Der Anwalt des Künstlers macht nunmehr den Zuschauer darauf aufmerksam, inwiefern ihn das alles nicht berechtige zu sagen, er müsse im Theater die Menschen und Vorgänge nicht so vor sich haben, daß sie ihm wahr scheinen; er müsse vielmehr behaupten, daß er in keinem Augenblicke die Empfindung habe, Wahrheit zu sehen, sondern einen Schein, allerdings einen Schein des Wahren.

Zunächst glaubt nun der Zuschauer, daß der Anwalt ihm ein Wortspiel vorführe. Fein läßt hierauf Goethe den Anwalt antworten: «Und ich darf ihnen darauf versetzen, daß, wenn wir von Wirkungen unseres Geistes reden, keine Worte zart und subtil genug sind, und daß Wortspiele dieser Art selbst ein Bedürfnis des Geistes anzeigen, der, da wir das, was in uns vorgeht, nicht geradezu ausdrücken können, durch Gegensätze zu operieren, die Frage von zwei Seiten zu beantworten und so gleichsam die Sache in die Mitte zu fassen sucht.»

Menschen, die nur gewohnt sind, in den grobklotzigen Vorstellungen zu leben, die das Alltagsleben erzeugt, sehen oft unnötige Wortklauberei in den zarten, begrifflichen Unterscheidungen, die derjenige machen muß, der die feinen, unendlich komplizierten Verhältnisse der Wirklichkeit begreifen will. Zwar ist es richtig, daß sich mit Worten trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten lasse, aber nicht immer ist derjenige schuld, der das System bereitet, daß kein Begriff bei dem Worte ist. Oft kann auch derjenige, der die Worte hört, den Begriff nur nicht mit dem gehörten Worte verbinden. Es wirkt oft komisch, wenn die Leute sich darüber beklagen, daß sie bei den Worten dieses oder jenes Philosophen sich nichts denken können. Sie glauben immer, es läge an dem Philosophen -oft liegt es aber an den Lesern, die nur nichts denken können, während der Philosoph sehr viel gedacht hat.

Es ist ein großer Unterschied zwischen «wahr scheinen» und «den Schein des Wahren» haben. Die theatralische Darstellung ist selbstverständlich Schein. Man kann nun der Ansicht sein, daß der Schein
eine solche Gestalt haben müsse, daß er die Wirklichkeit vortäusche. Oder man kann der Überzeugung sein, daß der Schein aufrichtig zeigen solle: ich bin keine Wirklichkeit; ich bin Schein. Wenn der Schein diese Aufrichtigkeit hat, dann kann er seine Gesetze nicht aus der Wirklichkeit nehmen, dann muß er eigene Gesetze für sich haben, die nicht die gleichen mit denen der Wirklichkeit sind. Wer einen künstlerischen Schein will, der die Wirklichkeit nachäfft, der wird sagen: in einer theatralischen Darstellung muß alles so verlaufen, wie es in der Wirklichkeit verlaufen wäre, wenn derselbe Vorgang sich zugetragen hätte. Wer einen künstlerischen Schein will, der sich aufrichtig als Schein gibt, der wird hingegen sagen: in einer theatralischen Darstellung muß manches anders verlaufen, als es in der Wirklichkeit zu verlaufen pflegt; die Gesetze, nach denen die dramatischen Vorgänge zusammenhängen, sind andere als diejenigen, nach denen die wirklichen zusammenhängen.

Wer einer solchen Überzeugung ist, muß also zugeben, daß es in der Kunst Gesetze für den Zusammenhang von Tatsachen gibt, für die ein entsprechendes Vorbild in der Natur nicht vorhanden ist. Solche Gesetze vermittelt die Phantasie. Sie schafft nicht der Natur nach, sie schafft neben der Naturwahrheit eine höhere Kunstwahrheit.
Diese Überzeugung läßt Goethe den «Anwalt des Künstlers» aussprechen. Dieser behauptet, «daß das Kunstwahre und das Naturwahre völlig verschieden sei, und daß der Künstler keineswegs streben sollte noch dürfte, daß sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine».
Naturwahrheit werden nur diejenigen Künstler in ihren Werken liefern wollen, denen die Phantasie fehlt, die deshalb kein Kunstwahres erschaffen können, sondern die bei der Natur eine Anleihe machen müssen, wenn sie überhaupt etwas zustande bringen wollen.

Und nur diejenigen Zuschauer werden Naturwahrheit in den Kunstwerken verlangen, die nicht ästhetische Kultur genug haben, um sich zu der Forderung eines besonderen Kunstwahren neben dem Naturwahren zu erheben. Sie kennen nur das Wahre, das sie täglich erleben. Und wenn sie der Kunst gegenüberstehen, dann fragen sie: stimmt dieses Künstliche mit dem überein, was wir als Wirklichkeit kennen?
Der Mensch mit ästhetischer Kultur kennt ein anderes Wahres als dasjenige der gemeinen Wirklichkeit. Er sucht dieses andere Wahre in der Kunst.

Goethe läßt seinen «Anwalt des Künstlers» den Unterschied zwischen einem Menschen mit ästhetischer Kultur und einem solchen ohne diese durch ein sehr derbes, aber vortreffliches Beispiel erläutern. «Ein großer Naturforscher besaß unter seinen Haustieren einen Affen, den er einst vermißte und nach langem Suchen in der Bibliothek fand. Dort saß das Tier an der Erde und hatte die Kupfer (Binder eines Buches, admin) eines ungebundenen, naturgeschichtlichen Werkes um sich her zerstreut. Erstaunt über dieses eifrige Studium des Hausfreundes, nahte sich der Herr und sah zu seiner Verwunderung und zu seinem Verdruß, daß der genäschige Affe die sämtlichen Käfer, die er hie und da abgebildet gefunden, herausgespeist habe.»

Der Affe kennt nur naturwirkliche Käfer, und die Art, wie er sich im gemeinen Leben zu solchen naturwirklichen Käfern verhält, ist die, daß er sie verspeist. Auf den Abbildungen tritt ihm nicht Wirklichkeit, sondern nur Schein entgegen. Er nimmt den Schein nicht als Schein. Denn zu einem Scheine könnte er kein Verhältnis gewinnen. Er nimmt den Schein als Wirklichkeit und verhält sich zu ihm wie zu einer Wirklichkeit.
In dem Falle dieses Affen sind diejenigen Menschen, die einen künstlerischen Schein so wie eine Wirklichkeit nehmen. Wenn sie eine Raubszene oder eine Liebesszene auf der Bühne sehen, dann wollen sie von dieser Raub- oder Liebesszene genau dasselbe haben wie von entsprechenden Szenen in der Wirklichkeit.

Der «Zuschauer» in Goethes Gespräch wird durch das Beispiel vom Affen zu einer reineren Anschauung vom künstlerischen Genüsse gebracht und sagt: «Sollte der ungebildete Liebhaber nicht eben deswegen verlangen, daß ein Kunstwerk natürlich sei, um es nur auch auf eine natürliche, oft rohe und gemeine Weise genießen zu können?» –
Das Kunstwerk will auf eine höhere Art genossen sein als das Naturwerk. Und wer diese höhere Art des Genusses nicht durch ästhetische Kultur in sich gepflanzt hat, der gleicht dem Affen, der die gemalten Käfer frißt, statt sie zu betrachten und sich durch ihre Betrachtung naturwissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben. Der «Anwalt» bringt das in die Worte:
«Ein vollkommenes Kunstwerk ist ein Werk des menschlichen Geistes, und in diesem Sinne auch ein Werk der Natur. Aber indem die zerstreuten Gegenstände in eins gefaßt und selbst die gemeinsten in ihrer Bedeutung und Würde aufgenommen werden, so ist es über die Natur. Es will durch einen Geist, der harmonisch entsprungen und gebildet ist, aufgefaßt sein, und dieser findet das Vortreffliche, das in sich Vollendete auch seiner Natur gemäß. Davon hat der gemeine Liebhaber keinen Begriff; er behandelt ein Kunstwerk wie einen Gegenstand, den er auf dem Markte antrifft: aber der wahre Liebhaber sieht nicht nur die Wahrheit des Nachgeahmten, sondern auch die Vorzüge des Ausgewählten, das Geistreiche der Zusammenstellung, das Überirdische der kleinen Kunstwelt; er fühlt, daß er sich zum Künstler erheben müsse, um das Werk zu genießen, er fühlt, daß er sich aus seinem zerstreuten Leben sammeln, mit dem Kunstwerke wohnen, es wiederholt anschauen und sich selbst dadurch eine höhere Existenz geben müsse.»

Die Kunst, welche bloße Naturwahrheit anstrebt, äffische Nachahmung der gemeinen alltäglichen Wirklichkeit, ist in dem Augenblicke widerlegt, in dem man in sich die Möglichkeit fühlt, sich die oben geforderte «höhere Existenz» zu geben. Diese Möglichkeit kann im Grunde nur jeder bei sich selbst fühlen. Deshalb wird es eine allgemeine, überzeugende Widerlegung des Naturalismus nicht geben können. Wer nur die gemeine, alltägliche Wirklichkeit kennt, wird immer Naturalist bleiben.
Wer in sich die Fähigkeit entdeckt, über das Naturwesen hinaus ein besonderes Kunstwesen zu schauen, wird den Naturalismus als die ästhetische Weltanschauung künstlerisch bornierter Menschen empfinden.

Wenn man dieses eingesehen hat, wird man nicht mit logischen oder anderen Waffen gegen den Naturalismus kämpfen. Denn ein solcher Kampf käme dem gleich, wenn man dem Affen nachweisen wollte, daß gemalte Käfer nicht zum Fressen, sondern zum Betrachten gehören. Wenn man schon soweit kommen würde, dem Affen begreiflich zu machen, daß er gemalte Käfer nicht fressen soll: eines würde er doch nie einsehen, nämlich wozu gemalte Käfer sind, da man sie doch nicht fressen darf. Ebenso geht es mit dem ästhetisch Ungebildeten. Er wird vielleicht bis zu der Einsicht zu bringen sein, daß ein Kunstwerk nicht so zu behandeln ist wie ein Gegenstand, den man auf dem Markte antrifft. Aber da er doch nur ein solches Verhältnis versteht, wie er zu den Gegenständen des Marktes gewinnen kann, so wird er nicht einsehen, wozu denn Kunstwerke dann eigentlich da sind.

Dies ist ungefähr der Inhalt des erwähnten Goetheschen Gespräches. Man sieht, daß in demselben in einer vornehmen Weise Fragen behandelt werden, die heute von vielen einer erneuten Prüfung unterzogen werden. Die Prüfung dieser sowie vieler anderer Dinge wäre nicht notwendig, wenn man sich die Mühe nehmen wollte, sich in die Gedanken derer zu vertiefen, die im Zusammenhange mit einer einzig hohen Kultur an diese Sachen herangetreten sind.

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s. dazu auch:
„Was die unmittelbare Wahrnehmung der Natur darbietet, durch die Kunst darstellen zu wollen, entspringt eigentlich immer gewissen Abirrungen“

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