Anthroposophische Geisteswissenschaft: „Wer nicht die Schulung durchgemacht hat durch die moderne Naturwissenschaft, der kann im Grunde genommen nur Nebuloses auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft hervorbringen“.

RUDOLF STEINER, Die Aufgabe der Anthroposophie gegenüber Wissenschaft und Leben

„…Daß das Ich nicht verflattere, daß man also in gesunder und nicht in kranker Weise eine seelisch-geistige Tätigkeit entwickeln könne, das ist das Bestreben der geisteswissenschaftlichen Methode. Und diese geisteswissenschaftliche Methode, sie wird nun in derselben Weise streng ausgestaltet, wie die äußere naturwissenschaftliche Methode ausgestalted wird.

Nur ist es im höchsten Grade wünschenswert, daß die, die maßgeblich
irgend etwas erforschen wollen in der geistigen Welt, dasjenige genossen haben, was ich im Eingang meiner Auseinandersetzung charakterisiert habe als die durch das naturwissenschaftliche Forschen angeeignete innere Disziplin und Gewissenhaftigkeit.
Wer nicht die Schulung durchgemacht hat durch die moderne Naturwissenschaft,
der kann im Grunde genommen nur Nebuloses auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft hervorbringen.

Es sollte das, was die hier gemeinte anthroposophische Geisteswissenschaft will, nicht verwechselt werden mit dem, was die im Nebulosen verschwimmenden Mystiker oder dergleichen hervorbringen, die ohne diese innere Disziplin, manchmal geradezu mit Disziplinlosigkeit,
ohne diese innere Gewissenhaftigkeit, ja mit Gewissenlosigkeit vorgehen, wenn sie der Welt ihre sogenannten geistigen Erlebnisse vormachen, die leider nur allzu leicht dann von Urteilslosen geglaubt werden.

Wahrhafte geisteswissenschaftliche Methodik muß in demselben strengen Sinne errungen werden und auf der Voraussetzung dessen, was man als naturwissenschaftlicher Forscher ausbildet, wie eben die naturwissenschaftliche Methode selbst.

Zweierlei ist es, auf das man zunächst hinsehen muß, wenn man die geisteswissenschaftliche Methode ausbilden will. Das erste ist, was sich nach innen zu ergibt als eine notwendige Kraft unseres alltäglichen Seelenlebens und auch unseres gewöhnlichen naturwissenschaftlichen Forschens, nämlich die Erinnerungsfähigkeit oder das Gedächtnis. Dem, der die pathologischen Zustände studiert hat, die den Menschen überkommen, wenn sein Gedächtnis nicht intakt ist, wenn, sagen wir, aus seiner Erinnerung gewisse Zeiträume seit seiner Geburt ausgelöscht sind – Sie können ja darüber hinreichende Studien in der psychiatrischen Literatur machen -, wer studiert hat, was der Mensch da erlebt durch die Diskontinuität seines Erinnerungsvermögens, dem zeigt sich, wie für das gewöhnliche, gesunde Leben dieses Erinnerungsvermögen
eine Grundlage bildet. Aber was bedeutet dieses Erinnerungsvermögen? Gerade die geisteswissenschaftliche Forschung zeigt dieses.
Wir müssen im gewöhnlichen menschlichen Leben und auch in der gewöhnlichen Wissenschaft dieses Erinnerungsvermögen haben.
Forscht man aber psychologisch, jetzt mit unbefangener Psychologie, nach dem, was in diesem Erinnerungsvermögen eigentlich enthalten ist, forscht man namentlich nach der Entwicklung dieses Erinnerungsvermögens von den ersten Kinderjahren an, dann findet man, daß die Vorstellungen, die da als Erinnerungen aus den Untergründen unserer Seele herauftauchen, dasjenige sind, was wir uns durch die Erfahrungen aus der Außenwelt angeeignet
haben, wenn es auch vielfach metamorphosiert auftritt, manchmal auch durch berechtigte oder unberechtigte Phantasie umgestaltet.
Aber studiert man die ganze menschliche Entwicklung, so kommt man dazu, in dieser Erinnerung etwas zu sehen wie eine Spiegelung unseres Erfahrungslebens an unserem eigenen Organismus.
Wie wir im Spiegel dasjenige sehen, was vor dem Spiegel ist – ich gebrauche jetzt einen Vergleich für dasjenige, was Sie ausführlich begründet in der anthroposophischen Literatur dargestellt finden – , wie man in einem Spiegel dasjenige sieht, was vor dem Spiegel ist, und man nicht hinter den Spiegel sieht, so sieht man mit dem gewöhnlichen Bewußtsein gewissermaßen bis zu einer Spiegelfläche, einer seelischen Spiegelfläche, die zurückspiegelt
die Erinnerungsvorstellungen. Wie der Wille da hineinspielt, das kann heute nicht berührt werden; vielleicht in einem der nächsten Vorträge. Es ist unser eigener Organismus, der da widerspiegelt dasjenige, was wir erleben.
Und ebensowenig, wie wir hinter den Spiegel schauen können, wenn wir vor ihm stehen, ebensowenig können wir in unseren eigenen Organismus hineinschauen und ihn kennenlernen als lebendigen Organismus.

Wir müssen ihn kennenlernen aus dem Leichnam oder aus demjenigen, was er uns in pathologischen und sonstigen Abweichungen zeigt. Wir lernen ihn von außen
kennen. Wir lernen vergleichsweise diesen Organismus aus demselben Grunde nicht von innen kennen, wie wir nicht hinter den Spiegel sehen können. Es ist aber möglich, wenn man zunächst durch die besondere Methode der Meditation, wie sie beschrieben wird in meinen Büchern «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und im zweiten Teil der «Geheimwissenschaft », dieses Erinnerungsvermögen so ausgebildet hat, daß man sich auf es verlassen kann, mit anderen Worten, wenn man nicht ein nebuloser Mystiker, sondern ein vernünftiger Mensch ist, der jedem Grade innerer Forschung gewachsen ist, sodaß er nicht «verdreht» werden kann, wenn er weiter geht, – es ist möglich, auch durch Meditation das Gedächtnis zu «unterbrechen
», so wie man den Spiegel zerbrechen und dann auch das schauen kann, was dahinter ist. Wenn das durch volle Willenskultur in Besonnenheit und mit Aufrechterhaltung des Ich-Bewußtseins geschieht, dann führt das den Menschen dazu, hinter das Gedächtnis zu schauen.
Nicht zu pathologischen Zuständen führt es.
Wenn der Mensch durch geisteswissenschaftliche Methodik, wie ich es hier nur im Prinzip kurz schildern kann, Vorstellungen, die nicht Reminiszenzen sein dürfen, zu Dauervorstellungen macht, wenn er sich meditativ leicht überschaubaren Vorstellungen hingibt, wenn er seine Seele darauf ruhen läßt, darauf konzentriert, aber so, daß alles ausgeschlossen ist, was nicht aus der
menschlichen Willensanwendung erfolgt, und wenn er alle nebulose Mystik ausschließt, dann gelangt der Mensch in der Tat dazu, hinter das Gedächtnis zu schauen; er gelangt dazu, zur wirklichen Selbsterkenntnis zu kommen.

Diese Selbsterkenntnis, wie sie die anthroposophische Geisteswissenschaft anstreben muß mit ihren empirischen Methoden, sie unterscheidet sich selbst gar sehr von einer solchen poetischen, in einem gewissen Sinne bewunderungswürdigen Mystik eines Johannes vom Kreuz oder der heiligen Therese. Wer sich den
Schriften dieser Geister hingibt, empfindet das Hochpoetische, empfindet, was in diesen wunderbaren Bildern waltet. Wer im anthroposophischen Sinne ein Geistesforscher geworden ist, der weiß ein anderes, der weiß, daß gerade bei solchen Geistern aus den Untergründen der menschlichen Natur, in die das gewöhnliche Bewußtsein nicht hinunterschaut, besondere Tatsachen in das Bewußtsein her auf flammen, könnte man sagen.

Bei einer heiligen Therese oder bei Johannes vom Kreuz geschehen in den menschlichen Organen, gerade in den sogenannten physischen menschlichen Organen, in Leber, Lunge und in den Verdauungswerkzeugen – man möge das als noch so prosaisch oder profan ansehen, es ist das nicht profan für den, der die Sache durchschaut -, in diesen physischen Organen geschehen abnorme
Dinge, die «dampfen herauf» in das Bewußtsein und werden da zu solchen Bildern, wie sie sich dann ausleben in solchen Persönlichkeiten, die dazu geeignet sind.

Der wirkliche Geistesforscher aber durchbricht den Gedächtnisspiegel. Er gelangt nicht zu solch nebuloser Selbsterkenntnis, die man Mystik nennt und anhimmelt, sondern er gelangt zu konkreter Selbsterkenntnis.
Er gelangt zur lebendigen Anschauung dessen, was die menschlichen Organe sind. Da eröffnet sich der Weg zu einer wirklichen Erkenntnis der menschlichen Organisation, der Weg, auf dem die Geisteswissenschaft auch in das medizinische Gebiet hinüberführt. Aber das ist nur der Anfang.
Denn sieht man auf diese Weise durch geistig-übersinnliche Kräfte in das eigentlich Materielle der menschlichen Organisation hinein, dann überwindet man auch das bloße materielle Anschauen dieser menschlichen Organisation.

Denn zuletzt sieht man, wie das, was sich einem da als Materielles im Menschen darstellt, nicht bloß aus der Vererbungsströmung herausgeboren ist, mit der es sich nur verbunden hat, sondern wie es herausgeboren ist aus einer Welt, die der Mensch durchlebt hat vor seiner Geburt oder Empfängnis. Man schaut auf dem Umweg durch materielle Innenerkenntnis in das präexistente Menschenleben hinein. Eine Realität vor der übersinnlichen Erkenntnis wird das
präexistente Leben. Die gewöhnliche Mystik, wie sie von kritiklosen Geistern angehimmelt wird, ist eher ein Hindernis für wirkliche Geist-Erkenntnis.“

aus:
RUDOLF STEINER
Die Aufgabe der
Anthroposophie gegenüber
Wissenschaft und Leben

Darmstädter Hochschulkurs
Vorträge und Ansprachen,
Darmstadt, 27. bis 30. Juli 1921
GA 77b

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