„Das Wort wird zum Bild“ – Rudolf Steiners Wandtafelzeichnungen

Einige Bemerkungen über einen bisher weitgehend unbekannten Teil seines Werkes – Eine Initiative und ihre Folgen

In vielen seiner Vorträge pflegte Rudolf Steiner während des Sprechens an die Tafel zu zeichnen oder zu schreiben, entweder um einen Begriff, einen Namen, eine Jahreszahl hervorzuheben, oder um einen komplexen Sachverhalt anhand eines Schemas aufzuschlüsseln, oder auch nur, um einen Gedanken wie durch eine Geste zu beleben. Häufig wurden zunächst einfach angelegte Skizzen oder Schemata im Laufe des Vortrages immer weiter ausgestaltet, so dass schließlich, wie es von einigen Zuhörern überliefert wurde, ein imaginativ farbig-fließendes Gesamtbild entstand, das als die Umwandlung des gesprochenen Wortes in ein unmittelbar bildhaft anschauliches Element erlebt werden konnte. Nach dem Vortrag wurden die Zeichnungen gelöscht und waren damit unwiederbringlich der Nachwelt verloren, allerdings: nicht alle. Es ist die Initiative der am ersten Goetheanumbau tätigen Erna Stolle zu verdanken, dass im Herbst 1919 in Dornach damit begonnen wurde, regelmäßig die Wandtafel mit schwarzem Papier zu bespannen. Vielfach standen Rudolf Steiner zwei oder gar drei solchermaßen vorbereitete Tafeln pro Vortrag zur Verfügung. Im Anschluss an einen Vortrag wurden die in weißer oder farbiger Kreide ausgeführten Zeichnungen auf dem Papier fixiert, datiert und aufbewahrt. Verschiedentlich wurde dieses Verfahren auch schon in früheren Jahren angewandt, doch von «den seit 1914 bis 1922 in Dornach ausgeführten Zeichnungen sind die meisten durch den Brand des ersten Goetheanum vernichtet». (Assja Turgenieff).

Die Sorge um den Erhalt der Tafelzeichnungen Angesichts dessen, dass die Wandtafelzeichnungen vor mehr als einem halben Jahrhundert entstanden sind, ist ihr gegenwärtiger Zustand noch überraschend gut, «obwohl», so berichtet Assja Turgenieff, «die Blätter oftmals durch Jahrzehnte bei den Vorlesungen der Vorträge in der Schreinerei des Goetheanum benutzt wurden». Da der Alterungsprozess aber unaufhaltsam voranschreitet, werden die «Tafeln» auf Dauer nicht zu erhalten sein. Trotz sorgfältigster Aufbewahrung sind durch Klimaeinflüsse bedingte Schäden wie das Abbröckeln der Kreide und ein allmählicher Zerfall des stark holzhaltigen Papiers unvermeidlich. Hieraus ergab sich für die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung die Notwendigkeit, konkrete Schritte zu unternehmen, um den Bestand der Tafelzeichnungen für die Zukunft zu sichern. In einem ersten Schritt wurde das Basler Foto-Atelier Hoffmann beauftragt, sämtliche «Tafeln» fotografisch aufzunehmen. Die Kosten hierfür belaufen sich auf etwas mehr als 10000 Franken, den Aufwand der Mitarbeiter des Archivs nicht einberechnet, die an den sich über nahezu zwei Wochen erstreckenden Aufnahmearbeiten beteiligt waren.

Aufgrund des besonderen Stellenwertes der Tafelzeichnungen im Zusammenhang mit den Vortragsinhalten und auch aufgrund des zunehmenden Interesses der Leserschaft an den Originaltafelzeichnungen, hat man sich dann in einem nächsten Schritt dazu entschlossen, sämtliche vorhandenen «Tafeln» zu publizieren.

Die Form, in der nun die Wandtafelzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, ist das Ergebnis monatelanger Beratungen zwischen Archiv und Verlag. Es war ja bereits vor einigen Jahren schon damit begonnen worden, einzelnen Bänden farbige Reproduktionen von Wandtafelzeichnungen beizugeben. Mal waren diese in den Band mit eingebunden («Das Miterleben des Jahreslaufes», GA 229; «Landwirtschaftlicher Kurs», GA 327), mal als separate Broschüre dem jeweiligen Band beigegeben («Entsprechung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos», GA 20I; «Heilpädagogischer Kurs», GA 317). Diese Broschüren waren, mit Rücksicht auf die Besitzer früherer Ausgaben der in Frage kommenden Bände, auch einzeln erhältlich, jedoch wurde von dieser Möglichkeit fast kein Gebrauch gemacht. Angemerkt werden muss hier noch, dass es sich bei den zumeist farbigen Reproduktionen nur um eine Auswahl handelte, das heißt, zu den einzelnen Bänden liegen in den meisten Fällen mehr Tafelzeichnungen vor als abgedruckt wurden. Wollte man nun bei allen in Frage kommenden Bänden so wie bisher verfahren und auch noch auf Vollständigkeit bedacht sein, dann würden einzelne Bände an Umfang erheblich zunehmen und sich damit zugleich auch wesentlich verteuern. Angesichts dieser Erwägungen entschloss man sich zu einer eigenständigen Edition der Wandtafelzeichnungen, die nun auf 28 Bände veranschlagt ist.

Wege zu einem neuen Kulturstil
Für die nun gewählte Form ausschlaggebend war auch die Tatsache, dass die Wandtafelzeichnungen neben ihrer Bedeutung für die Erarbeitung der jeweiligen Vortragsinhalte auch zu einem großen Teil von hohem künstlerischem Wert sind. Assja Turgenieff hat hierauf mit folgenden Worten verwiesen: «Auch bewahren uns diese Skizzen eine Erinnerung an die Farbwirkungen der Malereien Rudolf Steiners in der kleinen Kuppel des vernichteten ersten Goetheanum. Kunst kommt von Können, wiederholte oft Dr. Steiner, und wie viel Können lag in diesen spontan im Augenblick entstandenen Bildern. So sind diese anspruchslosen Skizzen auch Zeugen dessen, was alles künstlerisches Schaffen von Rudolf Steiner kennzeichnet: wie Kunst und Erkenntnis, wenn sie aus demselben geistigen Quell ihren Ursprung nehmen, Wege zu einem neuen Kulturstil bahnen können.» Die hier ausgesprochenen Gesichtspunkte waren schließlich auch mit ausschlaggebend, dass man seitens des Rudolf Steiner Verlages zunächst probeweise vergrößerte Reproduktionen (Format 24 x 16) anfertigen ließ. Das Ergebnis war überzeugend und überwältigend zugleich, so dass man sich für das Großformat entschied. Hierdurch kommt der Charakter der Originale, die zumeist eine Größe von ca. 150 x 100 haben, wesentlich besser zur Geltung als dies bei der Verkleinerung auf das übliche Buchformat der Fall war.

Mancher wird sich fragen, ob es denn überhaupt nötig sei, alle Tafelzeichnungen zu reproduzieren, das heißt z. B. auch solche, auf denen lediglich ein waagerechter Strich, ein Dreieck oder gar nur ein Name zu sehen ist. Hierzu antwortete Assja Turgenieff in ihrer kurzen Einführung anlässlich einer Ausstellung von Tafelzeichnungen Rudolf Steiners im Archiv der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung im Sommer 1958, der auch die vorangehenden Zitate entnommen waren, wie folgt: «Unzählige Male hat Rudolf Steiner auf die Tafel ein Dreieck oder einen Kreis gezeichnet. Nichts ist bekannter als die Vorstellung von einem Dreieck, von einem Kreis, und doch: hat man das gezeichnete Bild vor sich, so wird eine andere Tätigkeit als nur die vorstellungsmäßige angesprochen. Ist der Kreis von Hand, also nicht abgezirkelt, gezeichnet, so appelliert er umso mehr an den die Wahrnehmung belebenden Willen. Dieses aktive Element braucht aber vor allem der Leser von Rudolf Steiners Schriften.»

Für die Aufnahme aller Originaltafelzeichnungen in die neue Edition ist ferner ausschlaggebend, dass sie ein wesentlicher Teil des Gesamtwerkes sind, woraus sich zwangsläufig ergibt, dass sie vollständig wiederzugeben sind, da in einer Gesamtausgabe nicht nur eine Auswahl erscheinen kann.

Zur Wiedergabe der Wandtafelzeichnungen in den Bänden der Gesamtausgabe
So mancher wird sich die Frage stellen, warum die «Tafeln» nicht schon früher reproduziert wurden. Der wohl gewichtigste Grund, der zugleich auch der äußerlichste ist, ist der, dass in früheren Jahren die Herstellung solcher Reproduktionen mit einem großen Herstellungs- und damit auch Kostenaufwand verbunden waren, der die Möglichkeiten des Verlages bei weitem überstieg. Ferner war es erst über einen längeren Zeitraum hin möglich, die Tafelzeichnungen gesamthaft zu erfassen, da sie sich an verschiedenen, zum Teil zunächst unbekannten Orten befanden. Da sich der Herstellungsaufwand aufgrund moderner Reproduktionstechniken in den letzten Jahren erheblich verringert hat, wurde es nun möglich, eine solch umfassende Edition in die Wege zu leiten. Dass man trotz der Schwierigkeiten auch schon früher an eine Reproduktion der Zeichnungen gedacht hat, sei an folgendem Beispiel verdeutlicht: Beim ersten Druck der Vorträge «Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos» in den Mathematisch-Astronomischen Blättern 1940-1942, die im Rahmen der Mathematisch-Astronomischen Sektion am Goetheanum herausgegeben wurden, hat Louis Locher mit der Reproduktion der Tafeln begonnen, aber nach 6 Tafeln aufgehört und dabei auf die Wiedergabe von Figuren überhaupt verzichtet, ausgenommen eine einzige Tafel, die er für das Verständnis offenbar für unerlässlich hielt, die Tafel 19. Über die Gründe dieser Vorgehensweise ist nichts Näheres bekannt, jedoch drängt sich der Verdacht auf, dass es bei der Zuordnung der Zeichnungen Probleme gegeben hat, denn wie sich bei einer erneuten Durchsicht der Vortragsstenogramme anlässlich der Neuauflage 1988 ergeben hat, sind «die einzelnen Figuren nicht brav der Reihe nach auf die Tafeln gezeichnet worden, so wie man einen Briefbogen beschreibt, sondern der Redende hat offensichtlich dort an die Tafel gezeichnet, wo er gerade stand» (G. A. Balastèr, in «Beiträge» Nr. 99/100). Die Stenografin, Frau Finckh, hat glücklicherweise in ihrem Stenogramm Anmerkungen zu den Zeichnungen gemacht, so dass erst anhand des Stenogramms eine gesicherte Zuordnung der Zeichnungen zum Text möglich wurde.

Es wird sich auch schon so mancher Leser der Gesamtausgabe gefragt haben, wie es denn zu den Zeichnungen in den Bänden gekommen ist. Es wurde ja oben schon darauf hingewiesen, dass die meisten Originaltafelzeichnungen nicht erhalten geblieben sind. Die Herausgeber haben in diesem Fall als einzige Arbeitsgrundlage die Skizzen der Stenografen. bzw. weiterer mitschreibender Zuhörer. Diese Skizzen wurden im gedruckten Text, so weit feststellbar, dort eingefügt, wo sie sinngemäß hingehören. Dass eine solche Zuordnung bisweilen mit großen Problemen verbunden ist, vor allem dann, wenn keine exakten Angaben seitens des Stenografen vorliegen, wird jeder nachvollziehen, der sich mit den jetzt im Druck erscheinenden Tafelzeichnungen intensiver beschäftigt.

In Bezug auf jene Tafelzeichnungen, von denen Originale erhalten sind, wurde ja schon gesagt, dass eine Reproduktion aus verschiedenen Gründen nicht in Frage kam. Daher beauftragte Marie Steiner als verantwortliche Herausgeberin der Jahre 1908-1948 nach dem Tod Rudolf Steiners die Grafikerin Assja Turgenieff mit der Übertragung der oft sehr komplexen Tafelzeichnungen in mehr schematische Zeichnungen, die sie in einer von ihr selbst – nach Angaben Rudolf Steiners – entwickelten Schwarzweiß-Schraffurtechnik ausgeführt hat. Die Angaben Rudolf Steiners bezogen sich allerdings nicht auf die Übertragung der Tafelzeichnungen, denn von diesen war damals noch nicht die Rede. Es handelte sich vielmehr um grundsätzliche Angaben einer Schraffurtechnik. Gelegentlich wird an dieser Methode für die Übertragung von Rudolf Steiners Wandtafelzeichnungen Kritik geübt, denn er selbst habe doch nicht in dieser Schraffurtechnik an die Tafel gezeichnet. Zudem seien die Zeichnungen oft nicht deutlich genug, so dass der Leser Mühe hätte, sich zurechtzufinden. Wenn man die Maßstäbe eines mit Illustrationen versehenen Fachbuches anlegt, so sind diese Einwände sicherlich bisweilen berechtigt. Marie Steiner aber hatte damals vor allem im Sinn, die Zeichnungen Rudolf Steiners in wirklich künstlerischer Weise zu übertragen, wobei selbstverständlich der erklärende Charakter nicht zu kurz kommen sollte. Seit dem Tode von Assja Turgenieff (1966) werden die Zeichnungen von anderen ausgeführt, doch sind Methode und Stil von Assja Turgenieff weiterhin maßgebend, denn sie haben sich – ausgenommen hiervon sind mathematische und geometrische Zeichnungen – als die beste Übertragungsart erwiesen.

Die Zeichnungen werden auch bei künftigen Neuauflagen im Text belassen. Zusätzlich wird mit Marginalien auf die separat erscheinenden Reproduktionen der Originaltafelzeichnungen verwiesen. Über die Zusammenstellung der 28 Bände und ihren Bezug zu den Bänden der Gesamtausgabe gibt ein ausführlicher Prospekt «Rudolf Steiner. Wandtafelzeichnungen zum Vortragswerk» Auskunft. Er kann über jede Buchhandlung oder direkt beim Verlag bezogen werden.

Zu guter Letzt: Wer soll das alles zahlen?
Die geplante Gesamtedition aller Wandtafelzeichnungen als Teil der Rudolf Steiner Gesamtausgabe ist eine Aufgabe, deren Durchführung und Erfüllung in hohem Maße von der Aufnahme durch die an ihr Interessierten abhängt. Je nach dem, wie groß oder gering die Nachfrage nach den jeweils erscheinenden Bänden sein wird, können weitere für den Druck eingeplant werden. Um eine wirtschaftlich vertretbare Auflage, die zugleich die Voraussetzung für einen tragbaren Einzel-Verkaufspreis ist, drucken zu können, müsste ein Anfangsbedarf von etwa 500-600 Stück durch feste Bestellungen gesichert sein. Auf dieser Basis wäre es möglich, die Gesamtedition mit vier bis sechs Bänden jährlich in etwa sechs bis sieben Jahren zum Abschluss zu bringen.

Die Herausgeber und der Verlag bitten deshalb alle, die mit dem Werk Rudolf Steiners arbeiten und denen an dieser Herausgabe gelegen ist, von der Möglichkeit einer Bestellung der Gesamtedition Gebrauch zu machen. Zum anderen bitten wir Sie herzlich, den arbeits- und kostenintensiven Aufwand von Archiv und Verlag durch einen finanziellen Beitrag zu unterstützen.“

Dieser Beitrag von Walter Kugler (Zur Edition der Wandtafelzeichnungen Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe) erschien in Heft 103, Michaeli 1989 „Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe“.

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