„Der Materialismus, wenn er nur konsequent bleibt, ist eigentlich nicht zu widerlegen“ Rudolf Steiner

Einführende Gedanken:
Sehen Sie, es kommt daher, daß der Materialismus eben wahr ist.
Indem wir so überall theoretisch und praktisch auf den Materialismus aufstoßen und der Materialismus mächtig ist, werden wir beirrt in unserer Initiative. Und hat ein Anthroposoph Sinn dafür, so wird er überall bis in die intensivsten Impulse seines Willens hinein durch den theoretischen und praktischen Materialismus beirrt, zurückgestoßen. Das aber gestaltet in einer eigentümlichen Weise das Karma. Und wenn Sie recht sich selbst beobachten, so erfahren Sie etwas darüber in Ihrem Leben vom Morgen bis zum Abend. Und daraus muß dann das allgemeine Gefühl entstehen: Wie beweise ich theoretisch und praktisch dem Materialismus seine Falschheit? –
Und das ist ja der Drang, der nun in sehr vielen Anthroposophengemütern ist, irgendwie dem Materialismus die Falschheit zu beweisen. Das ist das Lebensrätsel, das vielen von uns theoretisch und praktisch aufgegeben ist: Wie kommt man damit zurecht, dem Materialismus die Falschheit zu beweisen? Der eine, der eine Schule durchgemacht hat, ein Gelehrter geworden ist – exempla sind in der Anthroposophischen Gesellschaft durchaus da -, fühlt, wenn er dann anthroposophisch aufgewacht ist, ungeheuer den Drang, den Materialismus zu widerlegen, den Materialismus zu bekämpfen, alles mögliche gegen den Materialismus zu sagen. Nun fängt er an, den Materialismus zu bekämpfen, zu widerlegen, glaubt vielleicht gerade dadurch, so recht in der Michaelischen Strömung drinnen zu sein. Ja, meistens gelingt das schlecht, und man kann schon sagen: Diejenigen Dinge, die gesagt werden gegen den Materialismus, sie werden ja sehr häufig aus sehr gutem Willen heraus gesagt, aber sie gelingen eigentlich nicht; sie machen keinen Eindruck auf diejenigen, die eben Materialisten in theoretischer oder praktischer Beziehung sind. Warum das? Das ist gerade dasjenige, was Klarheit des Urteils verhindert.
Da steht nun der Anthroposoph und will, um nicht stecken zu bleiben mit seiner Initiative, Klarheit haben über das, was ihm an den Materialisten entgegentritt. Er will die Unrichtigkeit des Materialismus in allen Hintergründen finden, und er findet in der Regel nicht viel. Er glaubt, den Materialismus zu widerlegen – aber der steht immer wieder auf. Woher kommt das? Jetzt kommt eben das, was, ich möchte sagen, das Ei des Kolumbus ist. Woher kommt das, meine lieben Freunde? Sehen Sie, es kommt daher, daß der Materialismus eben wahr ist – was ich schon öfter gesagt habe -, daß der Materialismus nicht unrecht hat, sondern recht hat! Davon kommt es. Und der Anthroposoph sollte auf eine besondere Art lernen, daß der Materialismus recht hat. Er sollte es nämlich auf die Weise lernen: daß der Materialismus recht hat, aber nur für die physische Leiblichkeit gilt. GA 237, 4-8-1924

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Inhaltsübersicht:
Eine Wendung im menschlichen Geistesleben. Erfolge der Naturwissenschaft gegenüber dem Idealismus. Materialismus ist nicht widerlegbar.
Der Geist ist unabhängig vom Materiellen. Bindungen zwischen Geist
und Materie…

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aus:

RUDOLF STEINER
Drei Perspektiven der Anthroposophie – Kulturphänomene
GA 225
geisteswissenschaftlich betrachtet
Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach
zwischen dem 5. Mai und 23. September 1923

1.Vortrag:
Das Wesen der geistigen Krisis des neunzehnten Jahrhunderts
Dornach, 5. Mai 1923

Heute möchte ich etwas von einer ganz anderen Seite aus beleuchten, was uns in den letzten Zeiten hier viel beschäftigt hat. Ich möchte
heute von einer, man kann sagen, historischen Seite aus nämlich die Tatsache beleuchten, daß im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in
der Tat eine entscheidende Wendung vorhanden war für das menschliche Geistesleben.

Diese entscheidende Wendung hat sich in den verschiedensten Tatsachen ausgelebt. Und diese Tatsachen sind ja im wesentlichen die Untergründe für all, ich möchte sagen, den Jammer, der die Menschheit im 20. Jahrhundert ergriffen hat, denn die Untergründe für all diesen Jammer liegen dennoch im Geistigen.
Nun möchte ich aber vorausschicken eine kurze Charakteristik über das eigentliche Wesen der geistigen Krisis vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Es ist ja in dieser Zeit so gewesen, daß auf der einen Seite stand der Materialismus, der Materialismus des äußeren Lebens, und hinter ihm der Materialismus der Weltanschauung. Und man möchte sagen, wie verschämt und allmählich die Position vollständig aufgebend war der Idealismus als Weltanschauung. Ich habe gerade auf diesen Gegensatz zwischen dem Materialismus, der oftmals keiner sein wollte und doch einer war, und dem Idealismus im
vorletzten Hefte des «Goetheanum» hinzuweisen versucht. Da habe
ich mit ein paar Strichen angedeutet, wie in dieses letzte Drittel des
19. Jahrhunderts hineinragten idealistische Geister, gewisse Geister,
welche den Idealismus von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fortsetzten, wie aber diese Geister, diese Denker gerade deshalb, weil sie das geistige Leben nur in der Idee kannten, nicht durchdringen konnten gegen alles das, was sich geltend machen konnte auf jener Grundlage, die die Naturwissenschaft gewissermaßen souverän erklärte, die die Naturwissenschaft, gegen die ja gar nichts eingewendet werden kann, über ihren Geltungsbereich hinausführte, so, als ob über alle Weltangelegenheiten durch reine Naturwissenschaft entschieden werden könne.

Diese Naturwissenschaft hatte ja in der charakterisierten Zeit ihre großen Erfolge, Erfolge in bezug auf die Erkenntnis, Erfolge in bezug auf das äußerlich praktisch-technische Leben. Auf diese Erfolge konnten diejenigen hinweisen, die alles das zurückweisen wollten, was eben nicht nach ihrer Ansicht aus den Ergebnissen dieser Naturwissenschaft folgte.

Und so standen einander gegenüber, ich möchte sagen, die Erfolgreichen, welche die Naturwissenschaft souverän erklärten und die
doch nichts anderes vertraten und bis heute nichts anderes vertreten als einen Materialismus, und auf der ändern Seite standen diejenigen
Denker, die Behüter des Idealismus sein wollten. Aber sie kannten das geistige Leben nur in den Ideen. Sie sahen sozusagen hinter dem
materiellen Wesen der Welt nur Ideen, und hinter den Ideen nichts weiter, keinen wirkenden Geist. Die Ideen waren ihnen Abschluß,
das Letzte, zu dem sie kommen konnten. Aber diese Ideen sind eben abstrakt. Sie waren so, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
von diesen Denkern gepflegt worden sind, abstrakt und blieben abstrakt, so wie sie von den Idealisten in dem letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts noch ausgesponnen wurden.

Und so konnten sich diese Idealisten mit den abstrakten Ideen, was für sie der einzige Geist war, eben nicht halten gegenüber den, ich möchte sagen, handfesten Resultaten der naturwissenschaftlichen Weltanschauung.

Das ist das äußere Historische. Aber das innere Historische, das dahinter liegt, ist noch etwas anderes. Das ist, daß der Materialismus,
wenn er nur konsequent bleibt und Geist hat – wenn er auch den Geist ableugnet, kann der Materialismus sehr viel Geist haben -,
eigentlich nicht zu widerlegen ist. Der Materialismus kann nicht widerlegt werden.

Es ist ganz vergeblich, zu glauben, daß der Materialismus eine Weltanschauung ist, die widerlegt werden kann. Es gibt keine Gründe, mit denen man beweisen kann, daß der Materialismus unrichtig ist. Daher das ganz überflüssige Reden derjenigen, die immer mit irgendwelchen theoretischen Gründen den Materialismus
widerlegen wollen.

Warum kann der Materialismus nicht widerlegt werden?
Nun, sehen Sie, aus dem folgenden Grunde kann er nicht widerlegt werden.
Nehmen wir dasjenige Stück der Materie, welches im Menschen selber die Grundlage für die geistige Tätigkeit abgibt, nehmen wir das Gehirn oder im weiteren Umfange das Nervensystem. Dieses Gehirn, im weiteren Umfange das Nervensystem, ist richtig ein Abbild des Geistes. Alles, was im Geiste des Menschen vorkommt, kann man auch in irgendeiner Form, in irgendeinem Vorgang des Gehirns beziehungsweise des Nervensystems nachweisen.
So daß alles, was man geistig anführen kann als Äußerung des Menschen, sich einfach in seiner Abbildung, in seinem materiellen Gegenbilde, im Gehirn,
im Nervensystem findet.
Wie sollte also jemand, der auf dieses Nervensystem hinweist, nicht sagen können: Nun seht ihr, alles das, was ihr von der Seele, was ihr vom Geiste redet, das ist ja im Nervensystem enthalten.
Wenn jemand ein Porträt ansieht und sagen würde: Dies ist das einzige vom Menschen, was da abgebildet ist, es gibt überhaupt kein Original – und man könnte den Menschen nicht auftreiben, von dem das Porträt ist, so könnte man vielleicht auch da nicht nachweisen, daß es ein Original gibt. Man kann gar nicht aus dem Porträt den Beweis liefern, daß es das Original gibt. Ebensowenig kann man aus der materiellen Nachbildung der geistigen Welt den Beweis liefern,
daß es Geist gibt. Es gibt keine Widerlegung des Materialismus.

Es gibt nur einen Weg, hinzuweisen auf den Willen, wie man den Geist als solchen findet. Man muß den Geist ganz unabhängig von dem Materiellen finden, dann findet man ihn allerdings auch schöpferisch wirksam im Materiellen. Aber durch irgendwelche Beschreibungen des Materiellen, durch irgendwelche Schlüsse aus dem Materiellen kann nie auf den Geist hin geschlossen werden, weil im Materiellen alles im Abbild ist, was im Geiste ist.

Das ist das Geheimnis, warum in einer Zeit wie dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wo die Menschen nicht den direkten Zugang zum Geiste hatten, der Materialismus eben unwiderlegt, unwiderleglich dastand, und warum diejenigen, die nun nicht auf den Geist, sondern nur auf das abstrakte tote Restgebilde des Geistes, auf die Ideen im Menschen hinweisen konnten, warum diese idealistischen
Denker nicht aufkommen konnten in dieser Zeit gegen die materialistischen Denker.
Der Streit konnte sich eben durchaus nicht abspielen in Beweis und Gegenbeweis. Er spielte sich sozusagen unter dem Einflüsse der sich gegenüberstehenden größeren oder geringeren Macht der streitenden Parteien ab. Und im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts hatten eben diejenigen die größere Macht, die hinweisen konnten auf die ja leicht einzusehenden, weil handfest daliegenden
Fortschritte und Erfolge der Naturwissenschaft mit ihren technischen
Ergebnissen.

Gewiß, jene Menschen, die als Idealisten, als idealistische Denker, wie ich es charakterisiert habe in der vorletzten Nummer des «Goetheanum», die Traditionen von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewahrten, sie waren die geistvolleren, die tieferen Denker, sie waren diejenigen, deren Ausführungen den Menschen viel mehr ins Gemüt gehen konnten als die Ausführungen der Materialisten; aber die Materialisten waren die Mächtigeren. Und der Streit entschied sich nicht durch Beweise, er entschied sich damals als eine Machtfrage. Dem muß man nur ganz ohne Illusion ins Auge schauen.

Man muß sich klar sein darüber, daß zum Geiste gelangen die Notwendigkeit vor-
aussetzt, direkt einen Weg zu ihm zu suchen, nicht um ihn zu erschließen, ihn beweisen wollen aus den materiellen Erscheinungen.

Denn alles, was im Geiste ist, findet sich auch in der Materie. Wenn also
jemand keinen direkten Weg zum Geistigen hat, so findet er irgendwo in der Materie alles, was er in der Welt konstatieren kann.

Da nun selbst die edelsten Geister im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht einen Zugang zum Geiste eröffnen konnten, so kamen sie, weil in ihnen doch noch die Bedürfnisse und Sehnsuchten nach dem Geistigen lebten, geradezu in eine Unsicherheit der ganzen menschlichen Seelenverfassung hinein. Und hinter mancher wirklich außerordentlich bedeutsamen Persönlichkeit vom letzten Drittel des
19. Jahrhunderts steht wie ein Hintergrund eigentlich die Haltlosigkeit, steht das, daß sich die Leute sagten, die, trotzdem sie außerordentlich intellektualistisch sind, oftmals außerordentlich gemütvoll
sind:
Ja, da ist die materielle Welt, da sind die Ideen. Die Ideen sind das einzige, das man finden kann hinter den Natur- und Menschheitserscheinungen, hinter Natur und Geschichte. – Aber dann fühlten doch wieder diese Menschen: Die Ideen sind etwas Abstraktes, etwas Totes…

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weiterführendes Thema:

„Heute ist die Naturwissenschaft dazu reif, sich hineinzuentwickeln in das Ergreifen des Geistigen“.
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Die Philosophie der Freiheit / R.Steiner
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