Die monistische Lebensauffassung der Naturwissenschaft als alleingültige Tatsache… Die undurchdachten Vorurteile der Geisteswissenschaft gegenüber…

Rudolf Steiner:

Der Naturwissenschafter sagt: «man» darf von nichts anderem sprechen, als wovon wir sprechen; wir fordern nicht allein, daß man uns das zugibt, wovon wir wissen, sondern wir verlangen, daß man alles das für eitel Hirngespinst erklärt, wovon wir nichts wissen“.

„Wer sich mit der Geisteswissenschaft so bekanntmacht, wie es gegenwärtig schon möglich ist, der wird durch sie vor manchem Aberglauben bewahrt sein, aber die übersinnlichen Tatsachen in seinen Vorstellungsinhalt aufnehmen können, und dadurch allen anderen Aberglauben abstreifen… Wer sich zu dieser Anschauung durchzuringen vermag, der wird dann auch nicht mehr gehemmt sein durch die Vorstellung, er könne der Wirklichkeit und Praxis durch die Beschäftigung mit der Geisteswissenschaft entfremdet werden. Er wird dann eben erkennen, wie wahre Geisteswissenschaft nicht das Leben ärmer, sondern reicher macht. Er wird durch sie gewiß zu keiner Unterschätzung der Telephone, Eisenbahntechnik und Luftschiffahrt verführt; aber er wird manches andere Praktische noch sehen, das gegenwärtig unberücksichtigt bleibt, wo man nur an die Sinnenwelt glaubt und daher nur einen Teil, nicht die ganze Wirklichkeit, anerkennt“.

Vorurteile aus vermeintlicher Wissenschaft
[238] Es ist gewiß richtig, daß es im Geistesleben der Gegenwart vieles gibt, was demjenigen, der nach Wahrheit sucht, das Bekenntnis zu den geisteswissenschaftlichen (anthroposophischen) Erkenntnissen schwierig macht. Und dasjenige, was in den Aufsätzen über die «Lebensfragen der anthroposophischen Bewegung» gesagt ist, kann als Andeutung der Gründe erscheinen, welche insbesondere bei dem gewissenhaften Wahrheitsucher in dieser Richtung bestehen.
Ganz phantastisch muß manche Aussage des Geisteswissenschafters dem erscheinen, welcher sie prüft an den sicheren Urteilen, die er glaubt aus dem sich bilden zu müssen, was er als die Tatsachen der naturwissenschaftlichen Forschung kennengelernt hat. Dazu kommt, daß diese Forschung auf den gewaltigen Segen hinzuweisen vermag, den sie dem menschlichen Fortschritt gebracht hat und fortdauernd bringt. Wie überwältigend wirkt es doch, wenn eine Persönlichkeit, welche lediglich auf die Ergebnisse dieser Forschung eine Weltansicht aufgebaut wissen will, die stolzen Worte zu sagen vermag:

«Denn es liegt ein Abgrund zwischen diesen beiden extremen Lebensauffassungen: die eine für diese Welt allein, die andere für den Himmel. Bis heute hat jedoch die menschliche Wissenschaft nirgends die Spuren eines Paradieses, eines Lebens der Verstorbenen oder eines persönlichen Gottes aufgefunden, diese unerbittliche Wissenschaft, die alles ergründet und zerlegt, die vor keinem Geheimnis zurückschreckt, die den Himmel hinter den Nebelsternen ausforscht, die unendlich kleinen Atome der [239] lebenden Zellen wie der chemischen Körper analysiert, die Substanz der Sonne auseinanderlegt, die Luft verflüssigt, von einem Ende der Erde zum andern bald sogar drahtlos telegraphiert, heute bereits durch die undurchsichtigen Körper durchsieht, die Schiffahrt unter dem Wasser und in der Luft einführt, uns neue Horizonte mittelst des Radiums und anderer Entdeckungen eröffnet; diese Wissenschaft, die, nachdem sie die wahre Verwandtschaft aller lebenden Wesen unter sich und ihre allmählichen Formwandlungen nachgewiesen hat, heute das Organ der menschlichen Seele, das Gehirn ins Bereich ihrer gründlichen Forschung zieht.» (Prof. August Forel, Leben und Tod. München 1908, Seite 3.)

Die Sicherheit, mit welcher man auf solcher Grundlage zu bauen glaubt, verrät sich in den Worten, welche Forel an die obigen Auslassungen knüpft:
«Indem wir von einer monistischen Lebensauffassung ausgehen, die allein allen wissenschaftlichen Tatsachen Rechnung trägt, lassen wir das Übernatürliche beiseite und wenden wir uns an das Buch der Natur.»

So sieht sich der ernste Wahrheitsucher vor zwei Dinge gestellt, die einer bei ihm etwa vorhandenen Ahnung von der Wahrheit der geisteswissenschaftlichen Mitteilungen starke Hemmungen in die Wege stellen. Lebt in ihm ein Gefühl für solche Mitteilungen, ja empfindet er durch eine feinere Logik auch ihre innere Begründung:
er kann zur Unterdrückung solcher Regungen gedrängt werden, wenn er sich zweierlei sagen muß.
Erstens finden die Autoritäten, welche die Beweiskraft der sicheren Tatsachen kennen, daß alles «Übersinnliche» nur der Phantasterei und dem unwissenschaftlichen Aberglauben entspringt.
Zweitens laufe ich Gefahr, durch die Hingabe [240] an solches Übersinnliche ein unpraktischer, für das Leben unbrauchbarer Mensch zu werden. Denn alles, was für das praktische Leben geleistet wird, muß fest im «Boden der Wirklichkeit» wurzeln.

Es werden nun nicht alle, die in einen solchen Zwiespalt hineinversetzt sind, sich leicht durcharbeiten bis zu der Erkenntnis, wie es sich mit den beiden charakterisierten Dingen wirklich verhält. Könnten sie das, dann würden sie zum Beispiel in bezug auf den ersten Punkt das folgende sehen:
Mit der naturwissenschaftlichen Tatsachenforschung stehen die Ergebnisse der Geisteswissenschaft nirgends in Widerspruch. Überall, wo man unbefangen auf das Verhältnis der beiden hinsieht, zeigt sich vielmehr für unsere Zeit etwas ganz anderes. Es stellt sich heraus, daß diese Tatsachenforschung hinsteuert zu dem Ziele, das sie in gar nicht zu ferner Zeit in volle Harmonie bringen wird mit dem, was die Geistesforschung aus ihren übersinnlichen Quellen für gewisse Gebiete feststellen muß…
…Man könnte, wenn man eine größere Anzahl solcher Dinge zusammenstellte, leicht zeigen, wie sich wahre Naturwissenschaft in einer Richtung bewegt, die sie in der Zukunft einmünden lassen wird in den Strom, der gegenwärtig schon bewässert werden kann aus den Quellen der Geistesforschung. Es kann gar nicht scharf genug betont werden:
Mit den Tatsachen der Naturwissenschaft steht Geistesforschung nirgends im Widerspruch. Wo von ihren Gegnern ein solcher Widerspruch gesehen wird, da bezieht er sich eben gar nicht auf die Tatsachen, sondern [243] auf die Meinungen, welche sich diese Gegner gebildet haben und von denen sie glauben, daß sie aus den Tatsachen sich notwendig ergeben.
…Diese Meinung stellt sich als nichts anderes dar denn als ein Glaube, den sich viele aus ihrem am Sinnlich-Wirklichen haftenden Glaubensbedürfnis heraus gebildet haben und den sie neben die Tatsachen hinstellen. Dieser Glaube hat etwas stark Blendendes für den Gegenwartsmenschen. Er verführt zu einer inneren Intoleranz ganz besonderer Art.
Die ihm anhängen, verblenden sich dahin, daß sie ihre eigene Meinung nur für allein «wissenschaftlich» ansehen und die Anschauung anderer als nur aus Vorurteil und Aberglauben entspringen lassen.
So ist es doch wirklich sonderbar, wenn in einem eben erschienenen Buche über die Erscheinungen des Seelenlebens (Hermann Ebbinghaus, Abriß der Psychologie) die folgenden Sätze zu lesen sind:
«Hilfe gegen das undurchdringliche Dunkel der Zukunft und die unüberwindliche Macht feindlicher Gewalten schafft sich die Seele in der Religion. Unter dem Druck der Ungewißheit und in dem Schrecken großer Gefahren drängen sich dem Menschen nach Analogie der Erfahrungen, die er in den Fällen des Nichtwissens und Nichtkönnens sonst gemacht hat, naturgemäß Vorstellungen zu, wie auch hier geholfen werden könnte, so wie man in Feuersnot an das rettende Wasser, in Kampfesnot an den helfenden Kameraden denkt.» «Auf den niederen Kulturstufen, wo der Mensch sich noch sehr machtlos und auf Schritt und Tritt von unheimlichen [244] Gefahren umlauert fühlt, überwiegt begreiflicherweise durchaus das Gefühl der Furcht und dementsprechend der Glaube an böse Geister und Dämonen. Auf höheren Stufen dagegen, wo der reiferen Einsicht in den Zusammenhang der Dinge und der größeren Macht über sie ein gewisses Selbstvertrauen und ein stärkeres Hoffen entspringt, tritt auch das Gefühl des Zutrauens zu den unsichtbaren Mächten in den Vordergrund und eben damit der Glaube an gute und wohlwollende Geister. Aber im ganzen bleiben beide, Furcht und Liebe, nebeneinander, dauernd charakteristisch für das Fühlen des Menschen gegenüber seinen Göttern, nur eben je nach Umständen beide in verschiedenem Verhältnis zueinander.» – «Das sind die Wurzeln der Religion… Furcht und Not sind ihre Mütter; und obwohl sie im wesentlichen durch Autorität fortgepflanzt wird, nachdem sie einmal entstanden ist, so wäre sie doch längst ausgestorben, wenn sie aus jenen beiden nicht immer wieder neu geboren würde.»

Wie ist in diesen Behauptungen alles verschoben, alles durcheinandergeworfen; wie ist das Durcheinandergeworfene von falschen Punkten aus beleuchtet. Wie stark ferner steht der Meinende unter dem Einfluß des Glaubens, daß seine Meinung eine allgemein-verbindliche Wahrheit sein muß. Zunächst ist durcheinandergeworfen der Inhalt des religiösen Vorstellens mit dem religiösen Gefühlsinhalt. Der Inhalt des religiösen Vorstellens ist aus dem Gebiete der übersinnlichen Welten genommen. Das religiöse Gefühl, zum Beispiel Furcht und Liebe gegenüber den übersinnlichen Wesenheiten, wird ohne weiteres zum Schöpfer des Inhaltes gemacht und ohne alle Bedenken angenommen, daß dem religiösen [245] Vorstellen etwas Wirkliches gar nicht entspreche.
Nicht im entferntesten wird an die Möglichkeit gedacht, daß es eine echte Erfahrung geben könne von übersinnlichen Welten und daß an die durch solche Erfahrung gegebene Wirklichkeit sich hinterher die Gefühle von Furcht und Liebe klammern, wie ja schließlich auch keiner in Feuersnot an das rettende Wasser, in Kampfesnot an den helfenden Kameraden denkt, wenn er nicht Wasser und Kamerad vorher gekannt hat. Geisteswissenschaft wird in solcher Betrachtung dadurch für eine Phantasterei erklärt, daß man das religiöse Fühlen zum Schöpfer von Wesenheiten werden läßt, welche man einfach für nicht vorhanden ansieht.
Solcher Denkungsart fehlt eben ganz das Bewußtsein davon, daß es möglich ist, den Inhalt der übersinnlichen Welt zu erleben, wie es möglich für die äußeren Sinne ist, die gewöhnliche Sinnenwelt zu erleben. – das Sonderbare tritt bei solchen Ansichten oft ein: sie verfallen in diejenige Art der Schlußfolgerung für ihren Glauben, die sie als die anstößige bei den Gegnern hinstellen. So findet sich in der obenangeführten Schrift von Forel der Satz: «Leben wir denn nicht in einer hundertmal wahreren, wärmeren und interessanteren Weise in dem Ich und in der Seele unserer Nachkommen von neuem als in der kalten und nebelhaften Fata morgana eines hypothetischen Himmels unter den ebenso hypothetischen Gesängen und Trompetenklängen vermuteter Engel und Erzengel, die wir uns doch nicht vorstellen können und die uns daher nichts sagen.»

Ja, aber was hat es denn mit der Wahrheit zu tun, was «man» «wärmer», «interessanter» findet? Wenn es schon richtig ist, daß aus Furcht und Hoffnung nicht ein geistiges Leben [246] abgeleitet werden soll, ist es dann richtig, dieses geistige Leben zu leugnen, weil man es «kalt» und «uninteressant» findet? Der Geistesforscher ist gegenüber solchen Persönlichkeiten, welche auf dem «festen Boden wissenschaftlicher Tatsachen» zu stehen behaupten, in der folgenden Lage. Er sagt ihnen: was ihr an solchen Tatsachen vorbringt, aus Geologie, Paläontologie, Biologie, Physiologie und so weiter, nichts wird von mir geleugnet. Zwar bedarf manche eurer Behauptungen sicherlich der Korrektur durch andere Tatsachen. Doch solche Korrektur wird die Naturwissenschaft selbst bringen. Abgesehen davon sage ich «Ja» zu dem, was ihr vorbringt. Euch zu bekämpfen fällt mir gar nicht bei, wenn ihr Tatsachen vorbringt. Nun aber sind eure Tatsachen nur ein Teil der Wirklichkeit. Der andere Teil sind die geistigen Tatsachen, welche den Verlauf der sinnlichen erst erklärlich machen. Und diese Tatsachen sind nicht Hypothesen, nicht etwas, was «man» sich nicht vorstellen kann, sondern das Erlebnis, die Erfahrung der Geistesforschung. Was ihr vorbringt über die von euch beobachteten Tatsachen hinaus, ist, ohne daß dies von euch bemerkt wird, nichts weiter als die Meinung, daß es solche geistige Tatsachen nicht geben könne. In Wahrheit bringt ihr zum Beweis für diese eure Behauptung nichts vor, als daß euch solche geistige Tatsachen unbekannt sind. Daraus folgert ihr, daß sie nicht existieren und daß diejenigen Träumer und Phantasten seien, welche vorgeben, von ihnen etwas zu wissen. Der Geistesforscher nimmt euch nichts, aber auch gar nichts von eurer Welt; er fügt zu dieser nur noch die seine hinzu. Ihr aber seid damit nicht zufrieden, daß er so verfährt;
ihr sagt – wenn auch nicht immer klar -, [247] «man» darf von nichts anderem sprechen, als wovon wir sprechen; wir fordern nicht allein, daß man uns das zugibt, wovon wir wissen, sondern wir verlangen, daß man alles das für eitel Hirngespinst erklärt, wovon wir nichts wissen. Wer auf solche «Logik» sich einlassen will, dem ist allerdings vorläufig nicht zu helfen.

aus:

Steiner, Rudolf:
Aus der Akasha-Chronik.
Gesammelte Artikel aus der Zeitschrift „Lucifer-Gnosis“ 1904/05.

GA 11

s. dazu auch:

…die physische Leiblichkeit des Menschen müssen wir denken wie eine Verdichtung eines einstmals nur geistig-seelischen Menschen. hier weiter

… seien wir „selbstlose Egoisten!“ Aphorismen, Gedankensplitter zur Gestaltung der eigenen Biographie:
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Einführung in übersinnliche Weltanschauung und Menschenbestimmung
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Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen
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„Heute ist die Naturwissenschaft dazu reif, sich hineinzuentwickeln in das Ergreifen des Geistigen“.
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Von dem Vertrauen, das man zu dem Denken haben kann, und von dem Wesen der denkenden Seele.
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Das Erkennen des Wesenhaft-Seelischen… und: Das Auftreten der «Erkenntnisgrenzen» Rudolf Steiner
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