Europäische Kultur – ihr Zusammenhang mit der lateinischen Sprache – Rudolf Steiner

RUDOLF STEINER. Drei Perspektiven der Anthroposophie – Kulturphänomene
geisteswissenschaftlich betrachtet
GA 225

Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach
zwischen dem 5. Mai und 23. September 1923

Kurzauszug aus dem Vortrag:
DIE EUROPÄISCHE KULTUR UND IHR ZUSAMMEN-
HANG MIT DER LATEINISCHEN SPRACHE

Dornach, 8. Juli 1923

Da tritt dann die ungeheure Autoritätdessen, was eine Dependance des Lateinischen ist, den Menschen
entgegen. Der Respekt vor dem Lateinischen nämlich, der steckt in dem Autoritätsglauben, der unserer heutigen Wissenschaft entgegen gebracht wird.
Denken Sie doch nur einmal, was es durch Jahrhunderte geheißen hat, wenn so ein Bauernbüblein ins Klostergymnasium gekommen ist und da Lateinisch gelernt hat! Dann ist es in den Ferien nach Hause gekommen, hat Lateinisch gekonnt! Keiner hat etwas verstanden von dem, was das Bauernbüblein gelernt hatte, die ändern alle wußten aber, nun ja, daß man nichts verstehen darf und kann, was zur Wissenschaft, was zur Erkenntnis führt. Das wußten sie ja nun.

Denn das Bauernbüblein, das in das Klostergymnasium gekommen ist, das sprach in einer Sprache, in der man eben die Erkenntnis sucht, und die ändern Bauernbuben, die Kartoffeln ausnahmen – nun, das war in früheren Zeiten nicht der Fall -, die also, sagen wir, auf der Wiese oder auf dem Acker irgendwie arbeiteten, die hatten einen
ungeheuren Respekt.
Denn einen Respekt hat man nicht vor dem, was man weiß, sondern vor dem, was man nicht wissen kann. Und dieses setzte sich fest als ein ungeheurer Respekt vor dem, was man nicht wissen kann, wo man von vornherein darauf verzichtet. Ja, das setzt sich dann fort, und solche Dinge nehmen Wege, die man nur dann verfolgen kann, wenn man wirklich den guten Willen hat, die geistigen Wege der Menschheit zu verfolgen.

Das Bauernbüblein im 13., 12. Jahrhundert, das draußen nur den Pflug hielt und sonst mithalf, vielleicht
höchstens noch beim Zerkleinern des Schweinespecks zu Grammeln und so weiter mitwirkte, das Bauernbüblein, das wußte: Wir können nichts wissen, wir werden niemals etwas wissen können, weil nur diejenigen etwas wissen können, die Lateinisch lernen. –
Das Bauernbüblein sagt das, und dann geht das die geheimen Wege, und dann, dann hält in neueren Jahrhunderten ein Naturforscher eine Rede vor der erleuchteten Naturforscherversammlung, und es gipfelt diese Rede in denselben Worten, die im 12. Jahrhundert der Bauernbub von dem Klosterbauernbüblein gesagt hat: Wir werden nicht wissen –
ignorabimus!
Würde man nämlich heute den Sinn dafür haben, den geschichtlichen Tatsachen nachzugehen, dann würde man, wenn man
um Jahrhunderte zurückgeht, den Ursprung des Du Bois-Reymondschen Impulses finden bei dem Bauernbub, der nicht Lateinisch gelernt hat, gegenüber dem Bauernbüblein, das Lateinisch gelernt hat.

Nun hat eine Sprache, wenn sie tot wird, eine Sprache, welche diesen Rückschritt durchmacht, den die lateinische Sprache durchgemacht hat, die Tendenz, eben auch in ihren Worten zum Toten hinzuneigen. Das Tote der Welt ist aber das Materielle. Und so hat die lateinische Sprache auch da, wo sie besonders herrschend war, die Dinge zum Toten hin getrieben, nämlich zum Materiellen. Ursprünglich wußte man überall, ich habe das schon einmal berührt,
was die Verwandlung des Brotes und Weines in den Leib und in das Blut Christi bedeuten, weil man die Sache noch aus dem lebendigen Erleben heraus wußte. Das Volk hätte es auch wissen können, aber die Volksalchimie galt ja als abergläubisch, die war ja nicht m lateinischer Sprache.
Die lateinische Sprache aber konnte das Spirituelle nicht festhalten. Und so entstand der triviale Glaube, daß dasjenige, was man sich unter Materie des Brotes und Weines vorstellte, sich verwandeln soll, und es entstanden die ganzen Diskussionen über die Abendmahlslehre eigentlich so, daß diejenigen, die diskutierten,
damit nichts anderes bewiesen, als daß sie diese Lehre in lateinischer Sprache übernommen hatten. Aber da hatten die Worte nur mehr einen toten Charakter, und man verstand das Lebendige nicht mehr, wie die heutigen Anatomen aus dem toten Leichnam auch nicht mehr den lebendigen Menschen verstehen.

Mitteleuropa hat in tief tragischer Weise das durchgemacht, indem seine Sprache nichts hatte von dem, was die lateinische Sprache heraufbrachte. Mitteleuropa hatte eine Sprache, die angewiesen gewesen
wäre, in das Lebendige hineinzuwachsen. Aber das Denken war, weil ja auch dieses Denken eine Dependance war des Lateinischen, das Denken war tot. Und so fanden die Begriffe die Worte nicht und die Worte die Begriffe nicht.

So hätte zum Beispiel das Wort «Seele» ebenso das Lebendige finden können, wie einstmals das Wort «Psyche» im Griechischen das Lebendige gefunden hat. Aber die Vorbildung war Lateinertum, und da wußte man nichts von diesem Lebendigen und tötete das Lebendige, das in den Volksworten war, eben auch damit ab…

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