„Heute ist die Naturwissenschaft dazu reif, sich hineinzuentwickeln in das Ergreifen des Geistigen“.

Rudolf Steiner – GA 197
Stuttgart, 21. September 1920

8. Vortrag

Sie wissen wohl, daß von vielen Seiten in der Gegenwart, wenn von Geisteswissenschaft die Rede ist, gesagt wird, das, worauf durch eine solche Geisteswissenschaft hingewiesen wird, könne niemals Gegenstand eines Wissens, einer Erkenntnis sein, das könne nur Gegenstand eines Glaubens sein, einer Art subjektiven Fürwahrhaltens. Aus einer
solchen Gesinnung geht dann die Unterscheidung hervor, die man überhaupt macht zwischen Wissen und Glauben, und ein großer Teil der Einwendungen, die auch gegen unsere anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft gemacht werden, besteht immer wieder darin, daß man sagt, man wolle hier dasjenige, was man eigentlich nur glauben
könne, was im Grunde genommen eine Art subjektiver Erkenntnis oder vielleicht gar nicht einer Erkenntnis, sondern eines subjektiven Fürwahrhaltens ist, das wolle man hier gewissermaßen hinaufheben und hinaufschrauben bis zu der Höhe einer sicheren, exakten Erkenntnis, einer wirklichen Wissenschaft.

Nun ist es erst in der neueren Zeit dahin gekommen, daß unterschieden wird überhaupt zwischen der Wissenschaft, die sich nur mit dem beschäftigen dürfe, was in der sinnlichen Welt geboten wird, was höchstens noch durch das Experiment erfaßt und erkundet werden kann, der Wissenschaft, die aus solchen Tiefen heraus einzig und allein eine sichere Erkenntnis liefere, und dem Glauben, der sich über das Sinnliche erhebe und von dem man niemals annehmen dürfe, daß seine Gegenstände umgewandelt werden könnten in sichere Erkenntnis.
Wissenschaft also auf der einen Seite – aber bloß für die sinnliche Welt; die übersinnliche Welt auf der andern Seite, für jeden annehmbar, soweit er sie annehmbar findet, aber nicht einer sicheren Erkenntnis zugänglich, sondern nur einem subjektiven Glauben.

Es müßte eigentlich jeder Mensch, der es mit dem Leben ernst nimmt, das, was da in weiten Kreisen über einen angeblichen Gegensatz zwischen Wissen und Glauben gesagt wird, als ein notwendig zu lösendes
Rätsel empfinden. Aber im Grunde genommen ist es nur möglich, von dem Standpunkt der Initiationswissenschaft aus eine wirkliche Auskunft zu geben, was es eigentlich für eine Bewandtnis hat, wenn in unserer Zeit – und schon lange, schon Jahrhunderte hindurch – darauf hingearbeitet wird, der Menschheit diesen Unterschied beizubringen zwischen
der Wissenschaft vom Endlichen, Vergänglichen, Sinnlichen und dem Glauben an ein Unendliches, ein Unvergängliches, ein Übersinnliches.
Denn Sie wissen, alles, was hier vom Gesichtspunkte anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft vorgebracht wird, atmet durchaus wissenschaftlichen Geist, macht darauf Anspruch, als Wissen, als Erkenntnis vom Übersinnlichen sich vollberechtigt neben die Wissenschaft vom Sinnlichen hinzustellen. Nur muß die Wissenschaft der Initiation
weit zurückgehen in der Zeit der Menschheitsentwickelung, wenn sie begreiflich machen will, warum in unserer Zeit ein solcher Gegensatz von Wissenschaft und Glauben der Menschheit beigebracht wurde.

Wenn wir in der Zeit zurückgehen, so finden wir in ganz alten Zeiten der Menschheitsentwickelung – wir haben das öfter besprochen – ein gewissermaßen als Erbschaft der Götter anzusehendes Urwissen, ein Wissen, welches so etwas wie beweisen, wie demonstrieren nicht kannte, ein Wissen, das ganz und gar darauf beruhte, daß im Inneren
des Menschen eine Kraft aufstieg, die nicht nur ein leeres, abstraktes Denken oder so etwas war, sondern die erfüllt war von göttlicher Lichtsubstanz, von göttlicher Lebenssubstanz, die sich fühlte wie im Verkehre mit den göttlichen Welten. Ein Wissen von diesem Zusammenhange des Menschen mit den göttlichen Welten hatte man, das man
noch empfand und das man wahrnahm, so wie man äußerlich Farben und Töne wahrnimmt, so daß man es nicht zu beweisen brauchte, weil man es ja in unmittelbarer Gegenwart wahrnehmbar hatte. Das Beweisen kannte man nicht, auch nicht das logische Demonstrieren, sondern einfach das Erfülltsein des Menschen mit dem, was in sein Inneres die Götter einträufeln ließen. Aber das war durchaus «Wissen» in den ältesten Zeiten der Menschheit und dieses Wissen war verbunden mit einer Erkenntnis des göttlichen Ursprunges des Menschen. Denn da man sich auf Erden in Verbindung mit den Göttern wußte, da man von den Eingeweihten, von den Initiierten jene Kraft bekam, die einen aufblicken
ließ zu dieser Verbindung mit den Göttern, so war man sich auch bewußt des göttlichen Ursprungs des Menschen, war sich bewußt, daß die Menschheit zur Erde heruntergestiegen ist aus einer Welt, in der sie in geistig-seelischer Gestalt vorhanden war. Dieser göttlichgeistige Ursprung der Menschheit war eine Selbstverständlichkeit für jenes Urwissen, das überall über die Erde hin in den alten Zeiten der Menschenentwickelung vorhanden war.

Aber dieses Urwissen wollte sich weiter fortentwickeln. Wäre dieses Urwissen geblieben, so wären die Menschen zwar in einer gewissen Beziehung fortdauernd gotterfüllte Wesen geblieben, aber zur Freiheit, zur freien Willensentschließung hätten sie nicht kommen können. Sie hätten, wenn nur ihre Arme sich bewegten, gewissermaßen sich sagen
müssen: Ein Gott in mir bewegt meine Arme – , oder wenn sie gingen, hätten sie sich sagen müssen: Ein Gott in mir bewegt meine Füße. – So haben auch durchaus die Urmenschen empfunden. Sie haben gewissermaßen
innerhalb ihrer Haut ein göttlich-geistiges Wesen, das mit ihnen war, empfunden, und daher ist auch jene Bezeichnung geblieben, von der wir von verschiedenen Gesichtspunkten aus schon gesprochen haben, der menschliche Leib sei ein Tempel des Gottes, weil der Mensch in der Urzeit in der Tat wie das irdische Wohnhaus des Gottes war, der selber herunterstieg auf die Erde, um Wohnung zu nehmen unter den Menschen.

Aber der Mensch sollte selbständig werden. Daher kam es, daß das ursprüngliche göttliche Wissen immer mehr und mehr verglomm, daß diese Göttererbschaft immer mehr und mehr zurückging.
Um zur Freiheit zu kommen, mußte der Mensch aus seiner eigenen Kraft ein Wissen, eine Erkenntnis, ein Denken, ein Fühlen, ein Wollen entwickeln. Er wurde gewissermaßen von den Göttern verlassen, aber er wurde – wenn ich mich so ausdrücken darf – zu seinem eigenen Heil von den Göttern verlassen. Damit er eine menschliche Wissenschaft entwickeln könne, zog sich die göttliche Wissenschaft von ihm zurück…
Der Mensch sollte immer materieller und materieller werden, …um mit seinem Seelisch-Geistigen immer gründlicher und gründlicher in das Körperliche hineinzusteigen.
…Und so hat sich die Wissenschaft entwickelt. So hat sie jenen Weg genommen, den ich im einzelnen oftmals charakterisiert habe, ist bis zu jenem Zustande gekommen, den sie hatte in der Mitte des 15. Jahrhunderts,
als der fünfte nachatlantische Zeitraum begonnen hat, und ist bis in unsere Zeit hineingekommen, wo aber für diese Wissenschaft nun wieder – nach der Wissenschaft der Initiation der Gegenwart – ein neuer Wendepunkt da ist.

Heute ist diese Wissenschaft dazu reif, gewissermaßen in die Freiheit des Menschen gestellt zu werden. Heute
ist diese Wissenschaft, die ja im wesentlichen doch sich heute noch so verhält, daß sie nur Sinnlich-Physisches als exakt, als sicher betrachtet, das was durch Beobachtung oder durch das Experiment gewonnen wird, die Wissenschaft ist dazu reif, wie ich oft ausgeführt habe, sich hineinzuentwickeln in die Erfassung der Imagination, der inspirierten,
der intuitiven Welt, sich hineinzufinden in das Erleben, in das Ergreifen des Geistigen. Fortzuwachsen ist diese Wissenschaft berufen, um im Fortwachsen anzunehmen die Gestalt eines geistigen Schauens. Dazu ist sie heute reif.
Damit aber diese Wissenschaft sich regulär fortentwickeln kann, muß jene Gesinnung in der Menschheit ausgebildet werden, die da will, daß dieselben gewissenhaften Untersuchungs- und Forschungstendenzen, die für die äußere sinnliche Welt in Botanik, Physik, Chemie und so weiter vorhanden sind zum Triumphe der äußeren Wissenschaft, auch angewendet werden im Inneren der Menschen, daß dasjenige, was Gesinnung in der äußeren Wissenschaft ist, übergeführt werde in ein solch lebendiges Ergreifen der übersinnlichen Welt, wie es angedeutet ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», in der «GeheimWissenschaft im Umriß» oder in andern entsprechenden Büchern.

aus:

RUDOLF STEINER
Gegensätze in der
Menschheitsentwickelung
West und Ost
Materialismus und Mystik
Wissen und Glauben

Elf Vorträge, gehalten in Stuttgart
zwischen dem 5. März und 22. November 1920

GA 197

siehe dazu ergänzend:

Das abstrakte Denken, das wir heute haben, ist der tote Überrest dessen, was wir im vorirdischen Dasein im lebendigen Denken hatten… Rudolf Steiner
hier weiter

Visionäres Hellsehen und die Fähigkeit des gründlichen Denkens… Rudolf Steiner
hier weiter

Anthroposophische Geisteswissenschaft: „Wer nicht die Schulung durchgemacht hat durch die moderne Naturwissenschaft, der kann im Grunde genommen nur Nebuloses auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft hervorbringen“.
hier weiter

Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie
hier weiter

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