Kinder brauchen Märchen – Märchendichtungen im Lichte der Geistesforschung / Rudolf Steiner

Rudolf Steiner:
Berlin, 6. Februar 1913 – GA 62:

… Aber wenn wir versuchen, ein Gefühl von dem zu bekommen, was da vorliegt, so ist dieses Gefühl dahingehend, dass wir uns sagen können, was sich in den verschiedenen Märchen zum Ausdruck bringt, …etwas so Tiefes in den Erlebnissen der Menschenseele, dass es allgemein menschlich ist. Wir können nicht sagen, dass irgendeine Menschenseele in einem bestimmten Lebensalter, die sich in eine bestimmte Situation hineinlebt, so etwas finden kann, sondern was im Märchen zum Ausdruck kommt, wurzelt so tief in der Seele, dass der Mensch das erlebt, gleichgültig, ob er Kind im ersten Kindheitsalter ist, ob er Mensch in mittleren Jahren ist, oder ob er Greis geworden ist.
Durch unser ganzes Leben zieht sich in den tiefsten Seelenerlebnissen dasjenige, was im Märchen zum Ausdruck kommt. Nur ist das Märchen von dem, was Erlebnis ist und als Erlebnis zugrunde liegt, ein freier, oftmals sogar spielerischer, bildhafter Ausdruck.
Der ästhetische künstlerische Genuss des Märchens ist von dem, dem das Märchen in den inneren Seelenerlebnissen entspricht, für die Seele vielleicht so weit entfernt der Vergleich kann gewagt werden, wie etwa das Geschmackserlebnis auf der Zunge, wenn wir eine Speise genießen, entfernt ist von den verborgenen, komplizierten Vorgängen, welche diese Speise im Gesamtorganismus durchmacht, um ihrerseits zum Aufbau des Organismus bei zutragen. Was da die Speise durchmacht, entzieht sich zunächst der menschlichen Beobachtung und Erkenntnis, und alles, was der Mensch hat, ist der Genuss im Geschmack. Beide haben zunächst scheinbar recht wenig miteinander gemein, und niemand ist imstande, aus dem, wie er eine Speise schmeckt, irgend etwas zu ergründen über die Aufgabe dieser Speise in dem ganzen Lebensprozesse des menschlichen Organismus. So ist das, was der Mensch im ästhetischen Genusse des Märchens erlebt, wohlweit, weit entfernt von dem, was in der menschlichen Seele, tief unten im Unbewussten, geschieht, wenn das, was das Märchen von sich ausströmt und ausgießt, mit der menschlichen Seele sich verbindet, weil diese Seele ein untilgbares Bedürfnis hat, durch ihre geistigen Adern den Stoff des Märchens rinnen zu lassen, wie der Organismus ein Bedürfnis hat, die Nahrungsstoffe, die Nahrungssubstanzen durch sich zirkulieren zu lassen:
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Kinder brauchen Märchen

„Es ist leicht zu sagen, die Mythen und Märchen sind Vorstellungen, die den Kindheitsstufen der Menschheit entsprungen sind. Gewiß haben die Menschen den Engeln nicht physisch gegenübergestanden, von denen die Mythen und Märchen gesprochen haben. Aber mit dem Nachdenken durch Philosophie ist in der geistigen Welt nichts anzufangen. Dieses Wissen hat keine Bedeutung in den geistigen Welten. Es ist leicht zu sagen, Märchen beruhen auf keiner Wahrheit. So gescheit ist der Geistesforscher auch immer gewesen, daß er gewußt hat, daß feurige Drachen nicht durch die physische Luft fliegen, aber gewußt hat er immer, daß die Imagination des feurigen Drachen zu bilden notwendig ist. Denn indem diese Vorstellung in der Seele ist, wirft sie Geisteslicht auf die geistige Welt. Kraftvorstellungen sind das. So sind alle Mythen beschaffen, weniger um äußerlich abzubilden, sondern um in der geistigen Welt wirklich leben zu können. Die Materialisten sagen: Mythen und Märchen entspringen der Kindheitsstufe der Menschheit. – Aber die Menschen wurden eben in ihrer Kindheit von Göttern unterrichtet. Die Mythen und Märchen gehen so in dieser Weise der Menschheitsevolution verloren, aber die Kinder sollte man nicht so aufwachsen lassen. Es ist ein großer Unterschied, ob man das Kind mit oder ohne Märchen aufwachsen läßt. Die die Seele beschwingende Kraft der Märchenbilder tritt erst später hervor. In einem Lebensüberdruß zeigt es sich später, wenn nicht Märchen gegeben wurden, in einer Langeweile. Ja sogar physisch kommt es zum Ausdruck, auch gegen Krankheiten können Märchen helfen. Was durch die Märchen hineingeträufelt wird, das kommt als Lebensfroheit, Lebenssinn später heraus, kommt als Möglichkeit, mit dem Leben fertigzuwerden, noch im spätesten Alter zum Vorschein. Es müssen die Kinder in ihrer Jugend, wo sie sie noch erleben können, erleben die Kraft des Märcheninhaltes. Wer nicht vermag mit Vorstellungen zu leben, die für den physischen Plan keine Wirklichkeit haben, der stirbt für die geistige Welt. Und viele Philosophien, die sich nur stützen wollen auf den physischen Plan, sind Sterbemittel für die Seele. Aus der äußeren Evolution werden die Sterbemittel für die geistige Welt. Die Menschheit muß kommen zu einem Urteil, das nicht gestützt ist auf Äußeres, sondern in sich selbst sich stützt. Immer mehr muß sie kommen zu dem: Ich glaube, was ich weiß.“ (Lit.: GA 154, S. 129f)

„Nun, man mag denken wie man will über den geistigen Gehalt der äußeren sinnlichen Wirklichkeit, aber Gift ist es für den werdenden Menschen, wenn er gerade in der Zeit zwischen dem 6., 7. und dem 9. Jahre nicht gerade auf märchenhafte Art die Phantasie entwickelt bekommt. Ist der Lehrer selber kein Phantast, so wird er zunächst alles dasjenige, was er an das Kind über die Umgebung des Menschen heranbringen will – das Kind unterscheidet sich ja noch nicht von der Umgebung, das tritt erst später, im 9. Jahre ein – , alles das, was er entwickelt über Tier, Pflanze, über die übrige Natur, er wird es dem Kinde in Märchenform beibringen. Wenn man nur einmal sich damit vertraut machte, welch gewaltiger Unterschied darinnen liegt, ob man dem Kinde Märchen liest oder man solche Märchen selber erst ausgestaltet! Ich bitte, lesen Sie noch so viel Märchen und erzählen Sie gelesene Märchen Ihren Kindern, sie wirken nicht so, als wenn Sie viel schlechtere Märchen selber ausgestalten und sie an die Kinder heranbringen, und zwar weil der Prozeß des Gestaltens in Ihnen – das ist ja eben das, was ich meine mit dem Lebendigen – auf das Kind nachwirkt, weil er sich wirklich dem Kinde mitteilt. Das sind die Imponderabilien des Umgangs mit dem Kinde.“ (Lit.: GA 301, S. 84f)

„Und weil das Märchen so mit dem Innersten der Seele zusammenhängt, mit dem, was so tief mit dem Innersten der Menschenseele zusammenhangend ist, deshalb ist das Märchen gerade diejenige Form der Darstellung, die für das kindliche Gemüt am angemessensten ist. Denn man darf vom Märchen sagen, es habe es dahin gebracht, das Allertiefste im geistigen Leben in der allereinf achsten Weise zum Ausdruck zu bringen. Man empfindet eigentlich nach und nach, daß es in allem bewußten künstlerischen Leben keine so große Kunst gibt als die Kunst, die den Weg vollendet von den unverstandenen Tiefen des Seelenlebens zu den reizvollen, oftmals spielerischen Bildern des Märchens.

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