Kunst und Anthroposophie – Die Zeit des Materialismus: „Den Gespenster entgegen wirken – daß man in sich in allem Ernste den künstlerischen Sinn so entwickelt, wie ihn Goethe seiner Nation anerziehen wollte“

Kurzauszug/R.Steiner:

„Denn so sonderbar es klingt: diese Zeit des Materialismus und der Phrase ist diejenige Zeit, in welcher der Geist mit seinem Inhalt sich aus der geistigen Welt heraus am stärksten der Menschheit mitteilen will.

Die Welt lebt in Gegensätzen. Niemals war der Mensch so nahe der geistigen Welt, wie er heute ist, trotzdem er äußerlich im Materialismus versumpft. Niemals waren die Menschen so nahe der geistigen Welt, aber sie merken es nicht, sie verkennen es. Und sonderbar ist es insbesondere, wenn einem immer wieder und wieder gesagt wird, man könne das, was die Anthroposophie bringt, nur glauben, oder man müsse es auf Autorität hin annehmen.

Bei nichts jedoch ist Autorität weniger notwendig, bei nichts ist sie weniger am Platze als bei der Anthroposophie. Denn sie redet von demjenigen, was heute in jedes Menschenwesen hinein will, was hinein will durch die Sinne, aber nicht eingelassen wird von der materialistischen Gesinnung der Zeit. Und diese Anthroposophie redet von dem, was heute aufsteigen will aus dem Innern in jedes Menschen Natur, was aber die Menschen nicht herauflassen aus dem Unterleib durch das Herz zum Kopf, und wovon sie natürlich nichts merken.

An die Menschen wollen heute heran nicht nur die sinnlichen äußeren Eindrücke, sondern diese sinnlichen äußeren Eindrücke wollen einfließen durch die menschlichen Sinne so, daß sie im menschlichen Wesen zu Imaginationen werden. Innerlich ist der Mensch heute dafür veranlagt, Imaginationen, bildhaftes Vorstellen über die Welt zu entwickeln.

Aber er haßt es, will es nicht haben; er sagt: Das ist Dichtung, Phantasie. – Er merkt nichts davon, daß ihm die Naturwissenschaft manches Gute geben kann, niemals aber die Wahrheit über den Menschen, und daß er die Wahrheit erleben würde, wenn er zu seinen Imaginationen kommen könnte. Und was in des Menschen Innerem lebt, das offenbart sich fortwährend, nur daß der Mensch nichts davon merkt, als Inspirationen. Niemals waren die Menschen so gequält von Inspirationen wie heute.

Denn sie merken, daß etwas aus ihrem Innern heraufsteigen will zu Herz und Kopf; sie aber empfinden es nur als Nervosität, weil sie es nicht heraufsteigen lassen wollen, oder sie betäuben sich durch irgend etwas anderes gegen diese Offenbarungen des Geistes.

Wir haben hier oft davon gesprochen, daß der Mensch außer seinem physischen Leibe, der mit Augen gesehen und mit Händen gegriffen werden kann, noch seinen ätherischen Leib hat. Sie wissen auch, daß der ätherische Leib nur demjenigen erkennbar sein kann, der sich wirklichen Imaginationen hingibt. Aber es gibt heute einen Weg, den menschlichen Ätherleib wirklich zu erfassen. Dieser Weg besteht darin, die Kunst im Goetheschen Sinne ernst zu nehmen. Goethe war sein ganzes Leben hindurch davon überzeugt, daß sich im künstlerischen Erfassen der Wirklichkeit auslebt die Wahrheit, daß die Kunst eine « Manifestation geheimer Naturgesetze ist, die ohne sie niemals zum Ausdruck kommen können.»

Unser Schulwesen aber läßt einen Gifttau auf alles träufeln, was die Wissenschaft durchsetzen sollte mit produktivem künstlerischem Geist. Die Menschheit unserer Wissenschaft glaubt dadurch der Wahrheit näherzukommen, indem sie alles das ausmerzt aus ihrem Inhalt, was von künstlerischem Geist durchzogen ist. Sie kommt dadurch der wahren Wahrheit immer ferner, nicht näher, und außerdem wird allmählich aus alledem, was wir der Jugend zu überliefern haben als Einzelwissenschaften, die wirkliche Wahrheit herausgepreßt…

Und wodurch könnten diese Gespenster der Welt zur Wirklichkeit werden?
Das könnte dadurch geschehen, daß man in sich in allem Ernste den künstlerischen Sinn so entwickelt, wie ihn Goethe seiner Nation anerziehen wollte, wenn man das aufnehmen könnte, was auflebt in einem produktiven Anschauungsvermögen –

Goethe nannte es «anschauende Urteilskraft» -, wenn man auflösen könnte das Gespenstige des Naturanschauens in der produktiven schaffenden Kraft des Geistes. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts wird diese schaffende Kraft des Geistes im deutschen Geistesleben so behandelt wie in meinem Märchen in dem einen Mysteriendrama die Phantasie von dem wilden Manne, der an diese Phantasie herankommt. So leben wir mit unsern Vorstellungen heute als Menschen in einer gespenstigen Welt, sind abergläubisch, ohne daß wir es wissen, spotten über den Aberglauben anderer und sind dabei dreimal so stark in diesen Aberglauben verstrickt als die, welche wir als abergläubische Leute verspotten.

Der Ätherleib des Menschen ist nicht nach demjenigen gebaut, was man als Naturgesetze kennt, sondern er ist nach künstlerischen Gesetzen gebaut. Keiner ergreift ihn, weder an sich noch an anderen, wenn er nicht künstlerischen Geist in sich hat. Und der Mangel an künstlerischem Geist in der Gegenwart ist es, was so verheerend, so vernichtend, so zerstörend eingreift in die Weltanschauungen der Gegenwart. Und außer seinem Ätherleib, das wissen wir, trägt der Mensch in sich noch den astralischen Leib. Dieser astralische Leib ist gerade von ganz besonderer Wichtigkeit in der Gegenwart…“

ZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 22. Juni 1919
Aus
RUDOLF STEINER
Geisteswissenschaftliche Behandlung
sozialer und pädagogischer Fragen
Siebzehn Vorträge, gehalten in Stuttgart
zwischen dem 21. April und 28. September 1919

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