Rudolf Steiner: „…zufrieden sein, was ich benennen möchte mit Oberflächenanschauung“. Pädagogik und Dreigliederung

Thema: Erneuerung der Pädagogik im Zusammenhang mit der sozialen Dreigliederung:
Heute liegt die Sache so, daß unser Erziehungswesen Menschenpflanzen an die Oberfläche treibt, die nicht das geringste Augenmaß haben für die Dinge, die um uns herum vorgehen… Würde auch nur ein Fünkchen von dem Wesen des dreigliedrigen sozialen Organismus in das menschliche Verständnis einziehen können, so würde man sehen, wie dasjenige, was uns vom Westen droht, die Überflutung alles politischen und Geisteslebens mit dem Wirtschaftsleben ist… Was wird heute schon von den untersten Schulstufen ab von Menschen, von kleinen Kindern, erlebt. Wenn das kleine Kind in die Schule geführt wird, dann ist für dasjenige, was da geschieht, fast alles andere maßgebend, nur nicht die Bedürfnisse, die Impulse des sich entwickelnden Menschen…
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RUDOLF STEINER
Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen
GA 192
Siebzehn Vorträge, gehalten in Stuttgart zwischen dem 21. April und 28. September 1919

SECHSTER VORTRAG
Stuttgart, 1. Juni 1919

Inhaltsübersicht:
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Heute sind wir ja nun durch unsere perversen Kulturverhältnisse leider so weit, daß man in seiner Spezialität der höchstentwickelte Mensch sein kann und blitzdumm sein kann in bezug auf alle großen Menschheitsfragen, nichts verstehen kann von diesen. Wir haben heute einmal die sonderbare Erscheinung vor uns, daß derjenige, der nur eine Volksschule, oder vielleicht diese nicht einmal ordentlich durchgemacht hat, aber durch das Leben gezerrt worden ist, über allgemein menschliche Verhältnisse Besseres zu sagen hat, als derjenige, der durch Hochschulbildung durchgegangen ist und ein exzellenter Mensch auf seinem Gebiet geworden ist…
Die Zeiten haben es mit sich gebracht, daß in vieler Beziehung die Menschen sich zufrieden gaben mit dem, was ich nennen möchte Oberflächenanschauung, Anschauungen, die an der Oberfläche des Daseins gewonnen worden sind
Man kann das menschliche Gemüt von Grund auf nicht stärker ruinieren, als wenn man in dieser Weise bei dem jungen Menschen dafür sorgt, daß seine Konzentrationskraft auf das allergründlichste zerstört wird. Dasjenige, wo angefangen werden müßte, auf dem Gebiete des Unterrichts zu sozialisieren, das ist vor allen Dingen der Stundenplan, diese Mördergrube für alles dasjenige, was wahrhafte Pädagogik ist…
Was wird heute schon von den untersten Schulstufen ab von Menschen, von kleinen Kindern, erlebt. Wenn das kleine Kind in die Schule geführt wird, dann ist für dasjenige, was da geschieht, fast alles andere maßgebend, nur nicht die Bedürfnisse, die Impulse des sich entwickelnden Menschen…
Der Stundenplan, der dann seine Fortsetzung findet durch alle Schulstufen, das ist dasjenige, was heute zuallererst bekämpft werden muß…
Notwendig ist, daß gesorgt werde, wenn überhaupt an eine Gesundung unseres Unterrichtswesens gedacht wird, daß in der Zukunft der heranwachsende Mensch so lange bei einer Sache bleiben kann, als das konzentrierte Verweilen auf einer Sache durch die Entwickelungszustände des Menschen notwendig ist…
Man kann ja diese Verkehrtheiten des Geisteslebens besonders studieren, wenn man an die hohen Schulstufen herangeht. Wie hat sich denn eigentlich unser Hochschulwesen entwickelt?…
Sagen wir also: Es ist nachzudenken darüber, wieviel man in einer bestimmten Lebensepoche von Arithmetik einem Menschen beizubringen hat, dann muß diese Lebensepoche damit abschließen, daß das junge sich entwickelnde Kind das Gefühl haben kann: Jetzt habe ich in dieser Sache etwas erreicht…
Würde auch nur ein Fünkchen von dem Wesen des dreigliedrigen sozialen Organismus in das menschliche Verständnis einziehen können, so würde man sehen, wie dasjenige, was uns vom Westen droht, die Überflutung alles politischen und Geisteslebens mit dem Wirtschaftsleben ist; wie dasjenige, was vom Osten zu uns dringt, auch aus Rußland heraus, der Aufschrei der Menschheit ist nach Herausrettung des Geisteslebens aus dem Wirtschaftsleben…
…die den so großartig angelegten deutschen Menschen zu einer Obrigkeitsmaschine machen; zu einer Maschine, die blind der Obrigkeit
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SECHSTER VORTRAG
Stuttgart, 1. Juni 1919

Heute kommt außerordentlich viel darauf an, daß die tieferen Zusammenhänge innerhalb der Gesellschaftsordnung der Menschheit wirklich gesehen werden. Die Zeiten haben es mit sich gebracht, daß in vieler Beziehung die Menschen sich zufrieden gaben mit dem, was ich nennen möchte Oberflächenanschauung, Anschauungen, die an der Oberfläche des Daseins gewonnen worden sind und die dann dazu geführt haben, daß man das eine für richtig hält, oder besser gesagt, daß der eine etwas für richtig hält, der andere für falsch, daß aber dann mit diesen Ansichten von Richtig und Falsch nichts anzufangen ist.

Es ist mit ihnen nichts anzufangen aus dem Grunde, weil man sich zwar Gedanken bilden kann, die an der Oberfläche liegen, doch kann niemals irgend etwas Vernünftiges geschehen, wenn man solche Gedanken in die Wirklichkeit umsetzt. Die Wirklichkeit läßt sich Oberflächenansichten nicht so leicht gefallen, wie die Dinge im menschlichen Kopfe. Da aber liegt ein Krebsschaden der heutigen Zeit. Und ein weiterer Krebsschaden ist der, daß die Menschen nicht wollen jene Selbstbesinnung aufbringen, die ihnen im rechten Moment sagen würde: Diese Dinge sind alle aus unserem persönlichsten Interesse heraus, die dürfen wir nicht etwa im sozialen Sinne auffrisieren; wir dürfen nicht sagen, wenn wir etwas in unserem persönlichen Interesse tun wollen, daß dies ein Zweig sei irgendeiner sozialen Wirksamkeit. In dieser Beziehung erlebt man ja so manches.

Es hat sich mancherlei vergrößert heute von dem, was ja seit Jahren vorhanden ist: daß immer wiederum dasjenige, was hier von dieser Stelle aus gewollt wird, umgesetzt wird in das persönliche Interesse einzelner Kreise, und dann gesagt wird, das sei irgendeine Konsequenz, eine Folge desjenigen, was von hier aus gewollt wird. Ich sage das aus dem Grunde, um aufmerksam zu machen, daß heute der gute Wille vorhanden sein müßte, in die Dinge tiefer hineinzuschauen, über Oberflächenanschauungen hinwegzukommen.

Nirgends mehr als auf pädagogischem Gebiete ist dieses Hinwegkommen über Oberflächenanschauungen notwendig, und nirgends mehr fehlt der gute Wille dazu, als gerade auf diesem pädagogischen Gebiet- Denn auf diesem pädagogischen Gebiet ist es notwendig, wenn wirklich sozial gedacht werden soll, ich möchte sagen, bis in die elementarsten Dinge hinein seine Aufmerksamkeit zu wenden.

Das haben Sie vielleicht schon gesehen aus den beiden vorigen an Pädagogisches anknüpfenden Vorträgen; das aber möchte ich insbesondere heute als etwas gewahrt wissen, das durch das ganze Anhören meines Vortrages durchgehen soll.

Was wird heute schon von den untersten Schulstufen ab von Menschen, von kleinen Kindern, erlebt. Wenn das kleine Kind in die Schule geführt wird, dann ist für dasjenige, was da geschieht, fast alles andere maßgebend, nur nicht die Bedürfnisse, die Impulse des sich entwickelnden Menschen. Und mit dem Aufrücken von Schulklasse zu Schulklasse wird das immer schlimmer und schlimmer.
Bereits in einem Alter, das solche Dinge nicht im geringsten verträgt, tritt zum Beispiel folgendes ein: Der junge Mensch geht in die Schule zur ersten Schulstunde des Morgens. In dieser ersten Schulstunde ist vielleicht angesetzt aus den Bequemlichkeiten des Lehrerkollegiums heraus, sagen wir, Mathematik, Rechnen. Dann folgt vielleicht Latein, dann folgt vielleicht eine weitere Stunde religiösen Unterrichts. Und dann folgt vielleicht Musik oder Gesang, oder vielleicht nicht einmal das, sondern es folgt vielleicht Geographie darauf. Man kann das menschliche Gemüt von Grund auf nicht stärker ruinieren, als wenn man in dieser Weise bei dem jungen Menschen dafür sorgt, daß seine Kon-zentrationskraft auf das allergründlichste zerstört wird. Dasjenige, wo angefangen werden müßte, auf dem Gebiete des Unterrichts zu sozialisieren, das ist vor allen Dingen der Stundenplan, diese Mördergrube für alles dasjenige, was wahrhafte Pädagogik ist. Der Stundenplan, der dann seine Fortsetzung findet durch alle Schulstufen, das ist dasjenige, was heute zuallererst bekämpft werden muß.
Notwendig ist, daß gesorgt werde, wenn überhaupt an eine Gesundung unseres Unterrichtswesens gedacht wird, daß in der Zukunft der heranwachsende Mensch so lange bei einer Sache bleiben kann, als das konzentrierte Verweilen auf einer Sache durch die Entwickelungszustände des Menschen notwendig ist. So daß zum Beispiel, sagen wir, sorgfältig herausgefunden werden müßte: für ein bestimmtes Lebensalter ist notwendig, dem heranwachsenden Menschen, sagen wir mathematische, physikalische Begriffe beizubringen. Dann müßte dazu nicht der schlechteste Weg gewählt werden, daß eine oder drei oder fünf wöchentliche Schulstunden dafür angesetzt werden, sondern es müßte dieses Sichaneignen eine Epoche werden beim heranwachsenden Menschen, das heißt, er müßte immerzu, ohne durch anderes fortwährend gestört zu werden, eine gewisse Zeit seines Lebens hindurch sich auf eines konzentrieren.

Das heißt, man müßte aus wirklicher pädagogisch-psychologischer Anthropologie heraus zum Beispiel sich klar sein darüber, in welchem Lebensalter dem Menschen beizubringen ist irgend etwas Arithmetisches. In diesem Lebensalter müßte die Hauptsache auf Arithmetik gelegt werden; in diesem Lebensalter müßte der ganze Tag dazu verwendet werden, um auf Arithmetik die Hauptaufmerksamkeit zu lenken. Das meine ich natürlich nicht so, daß nun der junge Mensch von morgens bis abends nur Mathematik treiben müßte, aber ich meine es so, wie ich genötigt war, es einmal zu machen, als ich ein psychopathisches Kind von elf Jahren zu erziehen bekam. Da versuchte ich, auf ökonomische Weise vorzugehen: da reservierte ich mir von allen Persönlichkeiten, die für die Erziehung des Kindes verantwortlich waren, daß ich selber in der Zeit, wo ich die Seele besonders konzentrieren wollte auf eine bestimmte Sache, nun den ganzen Plan zu entwerfen hatte für das, was sonst mit dem Kinde getrieben wurde: also soundsoviel durfte Klavier gespielt, soundsoviel durfte gesungen werden und so weiter. Es handelt sich nicht darum, nun etwa wiederum die Seele zu erfüllen mit irgendeinem Lehrstoff, sondern darum, die ganze Entwickelung so einzurichten, daß die Seele von selbst sich in einer bestimmten Lebensepoche auf eines konzentrieren kann, und daß man, bevor man zu etwas anderem übergeht, es wirklich dahin bringt, daß ein gewisser Abschluß erreicht ist in einem einzelnen Zweige der Menschenbildung. Sagen wir also:
Es ist nachzudenken darüber, wieviel man in einer bestimmten Lebensepoche von Arithmetik einem Menschen beizubringen hat, dann muß diese Lebensepoche damit abschließen, daß das junge sich entwickelnde Kind das Gefühl haben kann: Jetzt habe ich in dieser Sache etwas erreicht. – Dann darf erst zu einem anderen sogenannten Gegenstand übergegangen werden.

Sie sehen also: Dasjenige, was jetzt die Grundlage unseres Unterrichtens bis in die höchsten Hochschulstufen ausmacht, das trägt zugleich die allergründlichsten Schäden unseres Unterrichtswesens an sich. Es kann kaum etwas Widersinnigeres geben, als wenn der Hochschüler zur Hochschule geht, so wie ich es zum Beispiel in meiner Zeit erfahren habe, und etwa hört:
Von 7- 8 Uhr morgens praktische Philosophie, von 8- 9 Uhr morgens Geschichtswissenschaft, von 9-10 Uhr morgens Literaturgeschichte, von 10-11 Uhr morgens Staatsrecht und so weiter.

Nun liegt alledem nicht die Absicht zugrunde, die aber zugrunde Hegen müßte: keinen Kuddelmuddel anzurichten in dem sich entwickelnden Menschen, sondern es liegt lediglich die Absicht zugrunde, allen Bequemlichkeiten der äußeren Schuleinrichtung zu dienen. Das ist ganz vorurteilslos anzuschauen.

Da liegt heute eine eminenteste Aufgabe vor. Das ist eine Aufgabe, von der man aber kaum glauben kann, daß in weitesten Kreisen nach den heutigen Denkgewohnheiten eine Neigung besteht, sich ernsthaft damit zu befassen. Das ist es auch, was man meint, wenn man immer wiederum sagt: Heute ist die Zeit nicht der kleinen, sondern der großen Abrechnungen. Die Leute glauben vielfach, es werde der Zeit der großen Abrechnungen gedient, wenn man große Worte spricht. Ihr wird aber nur gedient, wenn man sich mit innerem Mut heranmacht an große Wandlungen, und wenn man nicht den Mut verliert, entgegenzutreten allem, was sich solchen großen Wandlungen entgegenstellt.

Ein anderes ist dasjenige, was heute für fast unerläßlich gehalten wird in den weitesten Kreisen, was insbesondere eine große Bedeutung für die unteren Schulstufen hat: das ist die sogenannte staatliche Schulaufsicht. Es kann nichts Ruinöseres geben für eine wirklich sachgemäße Entwickelung des Geisteslebens als eine solche amtliche oder halbamtliche Schulaufsicht.

Dasjenige, was Bedürfnis des Geisteslebens im Schulwesen ist – und derjenige, der in die Dinge innerlich hineinschaut, der könnte das wissen -, was zu einer wirklich gedeihlichen Fortentwickelung notwendig ist, das erfordert eine Rücksichtnahme auf alle einzelnen Augenblicke, die sich ergeben aus dem lebendigen Unterricht selber. Das kann und darf niemals beurteilt werden durch irgendeine außenstehende Schulaufsicht. Einem Menschen, dem man einmal in der Selbstverwaltung des Geisteslebens durch alle die Vorsichten, die dazu notwendig sind, das Vertrauen geschenkt hat, daß er auf irgendeiner Stelle Menschen erzieht oder unterrichtet, dem darf, solange er auf seinem Posten steht, niemand in seine Methodik oder dergleichen hineinreden. Das ist etwas, was viele Leute heute noch nicht verstehen; aber mit diesem Nichtverstehen verstehen sie zugleich nicht eine der Grundbedingungen alles wirklich heranreifenden Geisteslebens. Sie sehen daraus, in welch radikaler Weise Hand angelegt werden muß an all dasjenige, was heute die Leute als etwas Selbstverständliches hinnehmen, ja, dessen Erstarkung sie sogar noch fordern. Denn es gibt doch kaum irgendein, sagen wir, auch nur soziales Programm, das aus Parteidenken hervorgeht und nicht irgendwelche Punkte über amtliche oder halbamtliche Schulaufsicht hat. Damit ist nicht irgend jemand ein Vorwurf gemacht, auch nicht einer Partei ein Vorwurf gemacht, sondern einfach hingewiesen auf dasjenige, was sich ergeben hat gerade aus dem verkehrten Geistesleben, das allmählich heraufgekommen ist.

Man kann ja diese Verkehrtheiten des Geisteslebens besonders studieren, wenn man an die hohen Schulstufen herangeht. Wie hat sich denn eigentlich unser Hochschulwesen entwickelt? Das konnte man sogar noch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gut beobachten. Schließlich sind all diejenigen Menschen, die gerade innerhalb des deutschen Geisteslebens es irgendwie gebracht haben zu dem, was eine gewisse Weltbedeutung hat, noch herangewachsen, als das neuere System nicht zerstört hatte die Grundlage einer wirklich geistigen Entwickelung. Goethe hat schon genügend geschimpft über die Hindernisse, die ihm während seiner Schulausbildung gelegt worden sind. Man sollte sich erst einmal Rechenschaft darüber ablegen, wie
anders dasjenige, was in Goethes «Pichtung und Wahrheit» über Professor Ludwig und andere steht, sich ausnehmen würde, wenn Goethe hineingezwängt worden wäre mit achtzehn, neunzehn oder zwanzig Jahren in einen heutigen Hochschulzwang. Diese Dinge müssen heute durchaus angeschaut werden.

Was ist denn eigentlich ausgemerzt worden, nach und nach ausgemerzt worden? Sehen Sie, als das Gymnasium, das heute ja ein Schreckgespenst ist gegenüber den Forderungen der Zeit, die einzige Vorbereitungsstätte für das höhere Bildungswesen war, als es noch den Typus des alten Klostergymnasiums hatte, das natürlich für seine Zeit gar nicht so schlecht war, da hatte es noch einen letzten Rest von dem, was man etwa so charakterisieren könnte: Der Mensch nimmt etwas in sich auf, was ihn auf den Standpunkt einer allgemeinen Weltanschauung bringt.
Es figurierte im Studienplan der Gymnasien die sogenannte philosophische Propädeutik. Sie wurde allerdings nur in den beiden letzten Jahrgängen gepflegt. Es wurde zumeist zwar das gemacht, daß, was in den zweiten Jahrgang gehörte, in den ersten genommen wurde, und was in den ersten gehörte, in den zweiten genommen wurde. Nun aber, es war wenigstens etwas da: es war ein stehengebliebener Rest von dem, wofür in den älteren Hochschulen gesorgt wurde, daß die ersten Jahre, die der Mensch an der Hochschule zubringt, jedem die Möglichkeit gaben, etwas von allgemeiner Weltanschauung in sich aufzunehmen, etwas von dem in sich aufzunehmen, was ihm überhaupt erst die Berechtigung geben kann, sich in ein besonderes Berufsstudium hineinzubegeben. Denn niemand kann in Wirklichkeit in einem besonderen Berufsstudium etwas taugen, der nicht durch einen propädeutischen, einen vorbereitenden Unterricht die Möglichkeit gewonnen hat, über allgemein menschliche Angelegenheiten sich ein verständig empfindendes Urteil zu bilden. Man hält es heute für überflüssig, dem Menschen in einer wahren Gestalt etwas logische, etwas psychologische Begriffe beizubringen. Niemand kann vorteilhaft überhaupt irgendeinen Zweig des höheren Geisteslebens studieren, der nicht den Durchgang durch solche logischen und psychologischen Vorstellungen genommen hat, der sich nicht dadurch gewissermaßen erst die innere Berechtigung dazu erworben hat.

All diese Dinge hat das neuere Kulturgeistesleben absolut ausgemerzt. Dieses will gar nicht mehr auf den Menschen überhaupt sehen; dieses neuere Kulturgeistesleben will aus dem Geistesleben ganz fremden Impulsen heraus dieses Geistesleben dressieren.
Das hat aber dazu geführt, daß, was in unserem allgemeinen Geistesbetrieb drinnen steckt, eben gar nicht mehr irgendwie das Gepräge einer einheitlichen Kultur trägt. Es hat uns zersplittert, und es hat bis jetzt nicht bewältigen können, was wir bewältigen werden müssen. Wer Erfahrung hat in diesem Gebiet, der weiß, in wie unzähligen Lobreden gepriesen worden ist das sogenannte Spezialistentum der neueren Zeit. Man hat betont, unser Kulturleben habe eine solche Ausbreitung erfahren, daß der Mensch fruchtbar nur einen einzelnen speziellen Zweig beherrschen kann. Man hat damit auf etwas hingewiesen, was von der einen Seite her, ich möchte sagen, selbstverständlich ist.

Aber man hat sich aus innerer Bequemlichkeit zugleich dieser Selbstverständlichkeit mit wahrer Wollust hingegeben. Denn man braucht ja jetzt nichts anderes, als sich einzukapseln in irgendeine Spezialität, und gerade durch das Einkapseln in irgendeine Spezialität wurde man ein für die heutige Zeit besonders berechtigter Kulturmensch. Natürlich kann derjenige, dem die Kultur am Herzen hegt, nicht hoffen, und er kann es auch nicht wollen, daß das Spezialistentum sich umwandeln soll in einen allbeherrschenden Dilettantismus; aber was angestrebt werden muß, ist, daß die ganze Erziehung, das ganze Schulwesen für den Menschen so eingerichtet werde, daß er, ich möchte sagen, in einer unteren Schichte seines Bewußtseins immer die Möglichkeit hat, von seiner Spezialität aus verständnisvolle Fäden zu ziehen zur gesamten Kultur.

Das kann nicht anders geschehen, als wenn man jeder Hochschule einen Unterbau gibt von allgemeiner Menschenbildung. Diejenigen, die heute zu den Zöpfen gehören, die werden einwenden: Ja, was tun wir denn dann mit der Fachbildung? – Man sollte nur wirklich einmal prüfen, wie ökonomisch man dann, wenn die Spezialitäten beginnen, mit der Fachbildung vorgehen könnte, wenn man auf allgemein gebildete Menschen wirken kann, auf Menschen wirken kann, die wirklich etwas Menschliches in sich haben. Heute sind wir ja nun durch unsere perversen Kulturverhältnisse leider so weit, daß man in
seiner Spezialität der höchstentwickelte Mensch sein kann und blitzdumm sein kann in bezug auf alle großen Menschheitsfragen, nichts verstehen kann von diesen. Wir haben heute einmal die sonderbare Erscheinung vor uns, daß derjenige, der nur eine Volksschule, oder vielleicht diese nicht einmal ordentlich durchgemacht hat, aber durch das Leben gezerrt worden ist, über allgemein menschliche Verhältnisse Besseres zu sagen hat, als derjenige, der durch Hochschulbildung durchgegangen ist und ein exzellenter Mensch auf seinem Gebiet geworden ist.

Gegen diese Erscheinung hat man heute zu kämpfen, wenn man überhaupt nur daran denkt, in die Tiefe hinein diejenigen Impulse zu senden, die allein zu einer Besserung führen können, die nicht bloß dahin führen, an der Oberfläche allein Maßnahmen zu treffen, wie es die Leute wollen; die nicht dahin gehen, wohin zu gehen die Wirklichkeit fordert, wenn tatsächlich etwas geschehen soll. Natürlich haben wir heute das Übel schon so weit getrieben, daß wir ja für den Unterbau der Hochschule gar nicht mehr die geeigneten Persönlichkeiten haben, daß wir in der furchtbaren Lage sind, überhaupt keine Lehrer mehr zu haben für eine allgemeine Menschenbildung. Denn wir haben es ja dazu gebracht, daß gerade unsere Hochschulen verschlafen haben, ich möchte sagen, die alleräußersten Ranken der Kultur. Man kann es erleben, daß an unseren Hochschulen irgendeine Wissenschaft in der Stunde, in der sie angesetzt ist, aus dem Kollegienheft von irgendeinem Professor vorgelesen wird, daß der Student sich die Sache anhört, daß er sich dann irgendwelche Nachschriften kauft, um sich schriftlich für das Examen einzudressieren. Es ist das sogar ein ziemlich gewöhnlicher Vorgang. Was heißt das aber in Wirklichkeit?

Das heißt in Wirklichkeit: der junge Mann hat völlig versessen die Zeit, die er da zugehört hat; denn dasjenige, was wirklich geschehen ist, das ist ja nur das, daß er die Nachschriften sich eindressiert hat. Wenn er bloß das gemacht hätte, so hätte er wirklich alles das getan, was eine Wirklichkeit in der Sache ist. Das heißt: daß der Professor sich heraufstellt aufs Podium, sein Kollegheft abliest, ist eine völlig unnötige Sache, ist absolut überflüssig.

Nun wird leicht gesagt werden können: Da haben wir also einen solchen Botokuden vor uns, der die Abschaffung der Kollegien verlangt! Nein, das ist nicht der Fall.

Ich verlange ganz gewiß nicht die Abschaffung der Kollegien, ich mache nur darauf aufmerksam, daß die Kollegien heute gelesen werden mit Nichtberücksichtigung der kulturgeschichtlichen Tatsache, daß einmal die Buchdruckerkunst erfunden worden ist, daß dasjenige, was man bloß vorliest, wirklich besser in den Hirnkasten hineindringt, wenn es in einem ordentlich geschriebenen Buch gelesen wird. Aber ich mache auch darauf aufmerksam, daß das beste, was man durch ein gut geschriebenes Buch bekommen kann, kaum ein Zehntel von dem sein kann, was wirklich aus der unmittelbaren Persönlichkeit des Unterrichtenden so hervorgeht, daß eine seelische Verbindung entsteht zwischen dem Unterrichtenden und demjenigen, der unterrichtet wird. Das kann aber nur in einem auf sich selbst gestellten, sich selbst verwaltenden Geistesleben geschehen, wo die Individualität sich voll entfalten kann, wo nicht Traditionen, wie es bei den Universitäten oder anderen Hochschulen ist, jahrhundertelang herrschen, sondern wo der Einzelne die Möglichkeit hat, bis ins einzelnste hinein er selbst zu sein. Dann wird gerade von dem mündlichen Unterricht das ausgehen, wovon man sagen kann: Wir haben abgestoßen alles das, was auch durch die Buchdruckerkunst in die Menschheit kommen will, durch die Illustrationskunst und so weiter. Aber wir haben gerade dadurch, daß wir das abgestoßen haben, die Möglichkeit bekommen, ganz neue Lehrfähigkeiten zu entwickeln, die heute noch in der Menschheit schlafen. Diese Dinge gehören auch, und sie gehören sogar in allererster Linie zu den sozialen Fragen der Gegenwart. Denn erst, wenn man Herz und Sinn haben wird für diese Dinge, wird man auch eindringen können in dasjenige, was sonst vonnöten ist heute.

Sehen wir uns einmal an, was aus der verkehrten höheren Bildung für die allgemeine soziale Lage herauskommt. Ich habe gestern sogar im öffentlichen Vortrag darauf aufmerksam machen müssen, daß wir im Grunde genommen gar keine Spiegelung der wirklichen sozialen Zustände, weder in der Nationalökonomie des Bürgertums noch in der Nationalökonomie des Proletariertums haben, weil wir einfach nicht die Kraft hatten, zu einer wirklichen sozialen Wissenschaft zu kommen. Was ist unter dem Bürgertum statt der sozialen Wissenschaft entstanden? Etwas, auf das man sehr stolz ist, das man nicht müde wird, immer wieder und wieder zu preisen: das ist die moderne Soziologie.

Nun, diese moderne Soziologie ist das unsinnigste Kulturprodukt, das überhaupt hat entstehen können. Denn diese Soziologie sündigt wider alle elementarsten Notwendigkeiten, die eine soziale Wissenschaft haben müßte. Diese Soziologie sucht ihre Größe darin, daß sie absieht von allem, was zum sozialen Wollen, zum sozialen Impuls führen könnte, daß sie bloß historisch und statistisch verzeichnet die sogenannten soziologischen Tatsachen, damit sie den Beweis scheinbar liefert, daß der Mensch eine Art soziales Tier ist, daß der Mensch in der Gesellschaft drinnen lebt. Diesen Beweis, den hat sie, allerdings unbewußt, recht stark geliefert, diese Soziologie; sie hat ihn dadurch geliefert, daß sie nichts anderes zutage förderte, als die plattesten soziologischen Urteile, das heißt diejenigen, welche allgemein, welche Gemeingut sind, Trivialitäten. Nirgends aber ist der Wille vorhanden, die Erkenntnisse der Gesellschaftsgesetze so zu finden, wie sie einlaufen müssen in das menschliche soziale Wollen. Damit ist aber auf diesem Gebiet die Kraft des Geisteslebens überhaupt gelähmt. Wir haben in allen nicht proletarischen Schichten heute, das muß ruhig zugestanden werden, überhaupt kein soziales Wollen. Das soziale Wollen fehlt vollständig, weil gerade da, wo es hätte gepflegt werden sollen, im Hochschulunterricht, Soziologie an die Stelle von Sozialwissenschaft getreten ist; ohnmächtige Soziologie an die Stelle von den Willen durchpulsender, den Menschen anregender Sozialwissenschaft.

Bis in die Tiefen des Kulturlebens hinein gehen diese Dinge. Da müssen sie aufgesucht werden, sonst kommt man ihnen überhaupt niemals bei. Man denke sich nur einmal, wie anders die Menschen im Leben drinnen stehen würden, wenn erfüllt würde, was in einer vorigen Betrachtung hier ausgesprochen worden ist. Statt daß die Menschen den Blick abgewendet bekommen zu urältesten Kulturepochen, die unter ganz anderen Gesellschaftsverhältnissen ihre Struktur empfangen haben, müßte gerade in dem Lebensalter, wo die Empfindungsseele fein vibrierend zum Dasein kommt, vom vierzehnten, fünfzehnten Jahre aufwärts, der Mensch unmittelbar eingeführt werden in das aller-, allernächstliegende gegenwärtige Leben. Er müßte kennenlernen, was auf dem Acker vor sich geht, er müßte kennenlernen, was im Gewerbe vor sich geht, er müßte die verschiedenen Handelsverbindungen kennenlernen.

Das alles müßte der Mensch aufnehmen. Und man denke sich, wie er dann ganz anders ins Leben hinaustreten würde, wie er ein selbständiger Mensch wäre, und wie er nicht sich aufdrängen lassen würde dasjenige, was heute oftmals gerade als die höchste Errungenschaft der Kultur gepriesen wird, was aber nichts anderes ist als die wüsteste Dekadenzerscheinung.
Nur auf dem Boden eines sich selbst verwaltenden Geisteslebens kann zum Beispiel auch wirkliche Kunst gedeihen. Und wirkliche Kunst ist Volkssache; wirkliche Kunst ist im eminentesten Sinne etwas Soziales. Derjenige, der den griechischen, den romanischen, den gotischen Baustil studiert in dem Sinne, wie das heute oftmals geschieht, der weiß über das, was in Betracht kommt, im Grunde genommen noch recht wenig. Erst derjenige kennt, was im griechischen, im romanischen, im gotischen Baustil liegt, welcher weiß, wie die ganze soziale Struktur der Zeit, als diese Stile herrschten, in Formen, in Linienführung, in Abbildlichkeit innerhalb dieser Stile zu sehen war, wie die Kunst fortschwang in den menschlichen Seelen.
Was der Mensch im Alltag tat, bis in die Fingerbewegung hinein, war ein Fortschwingen desjenigen, was er sah, wenn er diese Dinge betrachtete, die ihm die Möglichkeit boten, die wirklich reale Wesenheit, sagen wir, eines Baustiles In sich aufzunehmen. Man bedarf heute der Einsetzung der Ehe zwischen Kunst und Leben, die aber nur auf dem Boden eines freien Geisteslebens gedeihen kann. Oh, welcher Jammer, meine lieben Freunde, daß unsere Kinder in Schulstuben geführt werden, die wahrhaftig barbarische Umgebungen für die jungen Gemüter sind! Man denke sich jede Schulstube – nicht in der dekorativen Weise künstlerisch ausgestaltet, wie man sich das heute oftmals denkt, aber man denke sie sich von einem Künstler so ausgestaltet, daß dieser Künstler die einzelnen Formen in Einklang gebracht hat mit dem, worauf das Auge fallen soll, während es das Einmaleins lernt.

Die Gedanken, die sozial wirken sollen, können nicht sozial wirken, wenn nicht, während diese Gedanken sich formen, in einer Nebenströmung des geistigen Lebens in die Seele dasjenige einzieht, was aus einer wirklich lebensgemäßen Umgebung herkommt. Dazu aber bedarf es auch, sagen wir, für das Künstlertum eines ganz anderen Lebensganges, als ihm heute gegönnt ist während des Heranwachsens.
Es wird ja heute gerade derjenige, der den künstlerischen Trieb in sich fühlt, gar nicht die Möglichkeit haben, dem Leben nahezukommen. Fühlt er in sich, sagen wir, den Trieb, Maler zu werden, dann drängt ihn das Leben dazu, möglichst früh irgendwelche Schinken anzustreichen, denn er meint, es käme darauf an, irgend etwas zu schaffen, was innere Befriedigung gibt. Selbstverständlich kommt es darauf an; aber es handelt sich darum, ob zuerst der Impuls für diese innere Befriedigung den Weg hinaus ins Leben gefunden hat, so daß man die größte innere Befriedigung dann empfindet, wenn man das Leben zuerst fragt: was ist zu schaffen? und wenn man auch immer die Verpflichtung, die gewissenhafte Verpflichtung fühlt, daß man dem Leben nichts entnimmt, was man ihm nicht wieder zurückgibt.

Dadurch daß heute, sagen wir, die Maler Landschaften liefern für diejenigen Leute, die doch nicht viel verstehen davon, dadurch wird nicht Kunst gefördert, sondern Kunst in den Abgrund hineingeworfen. Wir haben so eine unnötige Luxuskunst neben einer barbarischen Gestaltung unserer Lebensumgebung. Denken wir uns nur einmal, daß der Zustand eintritt, den herbeizuführen bestrebt ist mein Buch über die soziale Frage, wo aus dem einfachen Grunde, daß jedes Produktionsmittel nur so lange etwas kosten kann, bis es fertig ist, es nach Fertigstellung frei in den Gesellschaftsbau übergeht. Denken wir uns, wie da wegfallen würde jedes individuelle egoistische Interesse, wie ganz von selbst, instinktiv, intuitiv aufkeimen würde in jedem, der schafft, die Tendenz, für die ganze Menschheit zu schaffen, und wie er suchen würde diese Möglichkeit, für die ganze Menschheit zu schaffen, statt dessen, was heute bei vielen vorliegt, daß sie für die Kapitalisten schaffen, nach deren Unbedürfnissen.

Das ist ja vor allen Dingen die Aufgabe: so zu sozialisieren, daß unter der Sozialisierung nicht alles Geistesleben unter die Räder kommt. In diesem Punkte haben ja unsere leitenden, führenden Kreise überhaupt noch nicht einmal den allerersten Impuls, auf das Richtige zu sehen. Diese Kreise skandalisieren sich heute über Spartakisten, Bol-schewisten und so weiter. Ja, die Spartakisten, die Bolschewisten haben sich nicht selber gemacht. Wer hat sie gemacht? Unsere leitenden, führenden Kreise! Denn die haben keinen Impuls in sich gefühlt, eine wirkliche Volkskultur zu begründen. Es gäbe keinen Bolschewismus und keinen Spartakismus, wenn die leitenden, führenden Kreise ihre Pflicht getan hätten. Abgesehen davon, daß auch Spartakismus und Bolschewismus nicht so sind, wie die Leute in den führenden Kreisen heute sie sich ausmalen, um Schauerstückchen vor die Welt hinzustellen und ihre Kanonen zu rechtfertigen. Das nur nebenbei.

Heute wäre insbesondere in den leitenden, führenden Kreisen notwendig ein klares und ungefärbtes In-sich-Einkehren. Dazu ist wenig, wenig Neigung vorhanden.
Sehen Sie, das Zeug zu einer Besserung der Seele, das hat wahrhaftig die Menschheitsentwickelung noch nicht aus dieser Seele herausgerissen, das wäre noch immer da; das wäre selbst, und sogar in besonderem Maße, im deutschen Volke da. Aber dieses deutsche Volk, das hat seit langer, langer Zeit stets abgesehen davon, die Keimkräfte der eigenen Gedanken, der eigenen Empfindungen, der eigenen Impulse in sich zu entwickeln.
Und in die unterste Schulstufe sind die Impulse eingeimpft worden, die den so großartig angelegten deutschen Menschen zu einer Obrigkeitsmaschine machen; zu einer Maschine, die blind der Obrigkeit folgt. Es ist ein Zusammenhang zwischen all dem, was heute so furchtbar uns vor Augen tritt, und dieser falschen Erziehung, dieser Erziehung, die den Menschen nicht frei und selbständig macht, weil sie selbst nicht frei und selbständig ist. Diese Erziehung, die sich um so wohler fühlt, je mehr sie in den Staat eingeschnürt sein kann, damit sie sich dann weiter wohl fühlen kann, wenn in unzähligen Versammlungen der Beschluß gefaßt werden kann: Wir stehen voll Vertrauen zu der Regierung, die in Versailles jetzt das Nötige dazu beiträgt, uns den Kragen abzuschneiden. In unzähligen Versammlungen werden die Beschlüsse gefaßt: Wir stehen fest hinter dieser Regierung. Während in Wahrheit in dieser Regierung kaum ein Mensch sitzt, der hineingehört, während die ersten Anforderungen wären,
offen und frei zu gestehen: Alles dasjenige, was da geschieht, ist nur die Fortsetzung jenes Unheils, das sich in deutschen Gauen vollzogen hat im Unglücksjahr 1914. In diese Dinge hinein ergießen sich die Fehler unseres Erziehungswesens. Und diese Fehler unseres Erziehungswesens, sie haben dem Menschen alle Möglichkeit benommen, Augenmaß zu haben für die Ereignisse des Lebens.
Wie ich Ihnen heute geschildert habe, daß auf der einen Seite vernünftiges Schulwesen, das auf Konzentration sieht, nicht auf den verruchten Stundenplan, hineinbringen würde in den Menschen selbständige Verstandeskraft und Vernünftigkeit, so würde wahres Durchdringen unserer Gesellschaft schon von der Erziehung aus mit sozialer Kunst eine richtige Willenskultur zustande bringen. Denn niemand kann wollen, der nicht den Willen anerzogen hat durch echte künstlerische Erziehung. Dieses Geheimnis vom Zusammenhang der Kunst mit dem Leben und namentlich mit dem Willenselement des Menschen, dieses zu erkennen, das ist eine der allerersten Anforderungen künftiger psychologischer Pädagogik, und alle zukünftige Pädagogik muß psychologisch sein. Die Erbauer dieser Psychologie werden sogar kaum, so wie die Dinge jetzt stehen, wo alle Psychologie den Leuten ausgetrieben ist, andere Menschen sein können als die Künstler, die noch ein wenig Psychologie in ihren Adern haben, während Psychologie sonst aus unserer Bildung verschwunden ist. In der wissenschaftlichen Bildung ist auch nicht ein Atömchen davon mehr vorhanden. Eine solche Hineinstellung ins Leben, die wäre möglich, wenn wirklich einer für alle und alle für einen arbeiten würden, weil dann die Produktionskräfte so angewendet würden, daß die Zeit vorhanden wäre zu solcher Erziehung. Denn viel Humbug, der heute geredet wird, brauchte gar nicht geredet zu werden, wenn man ernst und offen reden wollte, wenn erfüllt würde, was dem Geistesleben auch nur nützen könnte, daß ineinander arbeitet Handarbeit und Geistesarbeit, was in der Zukunft doch angestrebt werden müßte. Dann würde auf der ganzen Erde, wenn jeder – nun, der Jeder wird es nicht sein können, aber eine gewisse Annäherung an das Ideal kann stattfinden – seinen Teil Handarbeit verrichten würde, kein Mensch mehr als höchstens drei bis vier Stunden am Tage handzuarbeiten brauchen. Eine wenigstens approximative Rechnung ergibt dieses. Was über drei bis vier Stunden hinaus handgearbeitet wird, das bewirken nicht die in der Menschheitsentwickelung liegenden Notwendigkeiten, das bewirken – das kann man ohne Emotion, ohne alle Aufregung heute sagen als vollständig objektive Tatsache -, das bewirken die unzählig unter uns wandelnden Faulenzer und Rentengenießer. Aber diesen Dingen muß eben ganz notwendig ehrlich und aufrichtig ins Auge geschaut werden. Denn die Korrektur dieser Verhältnisse hängt nicht allein davon ab, daß im kleinen da oder dort etwas geändert wird, sondern sie hängt davon ab, daß wir unsere Erziehung, unsere Volkspädagogik so einrichten, daß die Menschen durch die Erziehung, durch das Schulwesen, Augenmaß für das Leben bekommen.

Heute liegt die Sache so, daß unser Erziehungswesen Menschenpflanzen an die Oberfläche treibt, die nicht das geringste Augenmaß haben für die Dinge, die um uns herum vorgehen. Daher sind alle die Nachrichten, die zum Beispiel von Versailles kommen, so unsinnig, weil niemand ein Urteil darüber hat, welches Gewicht das eine oder das andere hat, aus welchen Motiven heraus das eine oder andere Volk urteilt, was bei dem einen oder anderen Volk aus seiner menschlichen Wesensgrundlage eine Notwendigkeit ist. Daher wird man auch nicht verstanden, wenn man über solche Dinge redet. Würde auch nur ein Fünkchen von dem Wesen des dreigliedrigen sozialen Organismus in das menschliche Verständnis einziehen können, so würde man sehen, wie dasjenige, was uns vom Westen droht, die Überflutung alles politischen und Geisteslebens mit dem Wirtschaftsleben ist; wie dasjenige, was vom Osten zu uns dringt, auch aus Rußland heraus, der Aufschrei der Menschheit ist nach Herausrettung des Geisteslebens aus dem Wirtschaftsleben.

Zwei Pole stehen sich entgegen, der Westen und der Osten, und wir in der Mitte haben die Aufgabe, auf den Westen hinzusehen und seine Schäden nicht bei uns aufkommen zu lassen; auf den Osten hinzusehen und dasjenige aus uns selbst zu pflegen, was er uns sonst nicht nach Jahrhunderten, sondern nach Jahrzehnten auferlegen muß, weil der Menschheit das auferlegt werden muß, was sie sich nicht selber auferlegt. Wir haben die Aufgabe, hier in der Mitte Europas dasjenige zu pflegen, was nur aus den drei Gliedern des sozialen Organismus heraus gepflegt werden kann. Würde heute eine Übermacht der Kultur des Ostens entstehen, dann würde die Erde überschwemmt werden mit nebuloser Mystik, die Erde würde überschwemmt werden mit wirklichkeitsfremder Theosophie. Würde die Übermacht im Westen entstehen, dann würde die Erde überschwemmt werden, tyrannisiert werden durch das bloße materielle Leben. Diese Aufgabe hätten wir: zwei furchtbare Schädigungen der Menschheit abzuhalten durch eine vernünftige Dreigliederung des sozialen Organismus, dadurch, daß wir das Wirtschaftsleben, das Geistesleben verselbständigen und dem Staate die Möglichkeit benehmen, diese Dinge so weit zu treiben, bis von Westen und Osten, über uns zusammenbrechend, unser Untergang kommt.

Ein objektiver Blick nach dem Westen hin ergibt das heute vor allen Dingen, wie sehr man aufmerksam sein müßte auf alles dasjenige, was ausgeht von den romanischen Völkern. Denn nichts Gefährlicheres könnte für uns sein, als wenn wir uns Illusionen hingeben würden darüber, daß aus sehr tiefen, tiefen Grundlagen heraus vor allen Dingen Frankreich an unserem Untergang arbeitet. Wenn wir Frankreich daran verhindern, dann kommen wir über dasjenige, was uns von englischer Seite droht, leicht hinweg. Aber dazu gehört Unterscheidungsvermögen, ein Augenmaß für die Dinge. Dazu ist vor allen Dingen notwendig die Einsicht, daß, vielleicht mit wenig Ausnahmen, alle diejenigen, die von Deutschland aus – ich weiß nicht, wie man sagen soll, damit man niemand kränkt – heute in Versailles über das Schicksal Deutschlands verhandeln, nicht weiter als Instrumente verwendet werden für diese Verhandlungen. Das sind Dinge, die eben heute gesehen werden müßten ungeschminkt, die heute so gesehen werden müssen, meine lieben Freunde, daß man gar keine Konzessionen auch in seinem inneren Urteil macht. Sieht man das aber heute ein, dann nimmt man durch ein solches Sehen den ersten Impuls auf, den man insbesondere für Volkspädagogik braucht; man sieht, was die bisherige Volkspädagogik an die Oberfläche getrieben hat an Menschen, die heute Menschenschicksal machen.

Es ist natürlich bequemer, die allertrivialsten Urteile an dasjenige anzugliedern, was hier eigentlich gemeint ist, als ausgehend von den Anregungen, die gegeben werden, auf die verschiedenen Menschenfelder zu sehen, damit auf diesen verschiedenen Menschenfeldern das Richtige getroffen werden kann. Als ich vor längerer Zeit in unserem Bau in Dornach gesprochen habe von der Dreigliederung des sozialen Organismus, da verging einige Zeit, und es tauchte nachher auf ein ganz sonderbarer Plan. Als ein groteskes Beispiel, wie die Menschen heute erzogen sind, darf ich vielleicht diesen Plan anführen. Da ist der Bau, an dem Bau beschäftigt einige Menschen, damit verbunden andere, die nichts zu tun haben, und die in der Umgebung leben. Über die Dreigliederung des sozialen Organismus wurde gesprochen. Nun entstand in einigen Köpfen, die heute, möchte ich sagen, selbstverständliche Idee, man müsse doch irgendwo anfangen. Und man wollte nun irgendwo zu sozialisieren anfangen, indem man in der wüstesten Weise sektiererisch ein kleines Gebiet ins Auge faßt und in diesem kleinen Gebiet die wüstesten Pflanzen der Selbstsucht aufsprießen läßt, und dann sagt, man hat doch irgendwo mit dem Sozialisieren angefangen. Also sollte zunächst das, was an Menschentum um den Bau herum gruppiert war, sozialisieren, den dreigliedrigen sozialen Organismus in Szene setzen. Pläne wurden entworfen, wie die Dornacher den dreigliedrigen sozialen Organismus in Szene setzen. Man konnte nichts anderes tun, als den Leuten sagen: Was soll denn das eigentlich heißen?

Nehmt einmal an, ihr macht Ernst mit der Sache: Dann käme als erstes die Selbständigkeit des Wirtschaftslebens. Ja, dann müßtet ihr euch natürlich vor allen Dingen Kühe anschaffen und melken und alles dasjenige tun, was scheinbar eine Wirtschaftsoase herbeiführen kann. Und dann könnten, weil mit dieser Wirtschaftsoase nach außen hin in Verbindung stehen müssen andere Menschen, die schönsten Parasiten der Wirtschaft werden, denn jede solche sektiererische Ab-schließung ist nichts anderes als ein Wirtschaftsparasitismus. Man kann in einem geschlossenen Wirtschaftsgebiet drinnen ja nur sozial egoisieren; wenn man etwas ausschließt, so lebt man auf Kosten anderer.
Es ist erst recht der wüsteste Kapitalismus. Und das Rechtsleben: nun, ich möchte sehen, falls ihr ein Gericht einsetzt, wenn einer etwas ausfrißt, und ihm das Urteil sprecht, ich wollte sehen, was dann der schweizerische Staat sagen würde, wenn ihr diese Dreigliederung hättet! Und das Geistesleben: seit wir eine anthroposophische Bewegung haben, ist gerade für das Geistesleben dasjenige angestrebt worden gegen alle Widerstände, was Unabhängigkeit ist nach allen Seiten hin. Das haben wir getan, solange wir existieren, und ihr seht gar nicht einmal, daß dies gleich in Angriff genommen worden ist. So wenig Verständnis dafür ist da, daß gemeint wird, auch das noch solle eingerichtet werden.

Darauf kommt es nicht an, daß heute irgend jemand sagt: Ja, an irgendeinem Punkte muß man doch anfangen. – Mit diesem Anfangen ist zumeist nur ein wüstes kapitalistisches Individualisieren gemeint, und dieses muß ja damit beginnen, daß man zunächst kapitalistisch eine solche Kolonie begründet. Damit ist man ganz ferne von dem, was mit den wirklich sozialen Gedanken gemeint sein kann. Aber damit soll nicht eine Kritik über den Einzelnen ausgeübt werden; denn ich bin der letzte, der verkennt, welche Schwierigkeiten der Einzelne hat, wenn er sich heute hineinversetzen soll in die großen Aufgaben der Zeit. Aber etwas anderes möchte ich damit an Ihr Herz legen: sich nicht in Illusionen zu wiegen, sondern wenn Sie eben kapitalistisch individualisieren wollen, so gestehen Sie es sich ein. Sie sind aus den heutigen Verhältnissen heraus genötigt, noch kapitalistisch zu individualisieren zu Ihrer Wohlfahrt.
Gestehen Sie sich bitte die Wahrheit, denn Wahrheit wird dasjenige sein, von dem auch wirklich alles soziale Leben wird ausgehen müssen. Wahrheit sollte nicht einmal in den Sätzen verleugnet werden. Man sollte vor die Menschheit auch nicht einmal in der Formulierung von Sätzen hintreten mit einer Unwahrheit.

Es geht ja heute durch die Lande der Ruf: Unentgeltlichkeit des Schulwesens. -Ja, was soll denn das überhaupt heißen? Es könnte doch nur der Ruf durch die Lande gehen: Wie sozialisiert man, damit ein jeder die Möglichkeit hat, seinen gerechten Beitrag zum Schulwesen zu schaffen? Unentgeltlichkeit des Schulwesens ist ja nichts weiter als eine soziale Lüge, denn entweder verbirgt man dahinter auf der einen Seite, daß man erst einer kleinen Clique den Mehrwert in die Tasche liefern muß, damit die ihr Schulwesen gründet, durch das sie die Menschen beherrscht, oder man streut allen Sand in die Augen, damit sie
nur ja nicht wissen, daß unter den Pfennigen, die sie aus dem Portemonnaie nehmen, auch diejenigen sein müssen, von denen die Schulen unterhalten werden. In der Formulierung unserer Sätze müssen wir schon so gewissenhaft sein, daß wir nach Wahrheit streben.

Die Aufgabe ist groß, aber die Größe der Aufgabe sollte sich jeder vor Augen halten. Dasjenige, was in der Anthroposophie als Ideal hingestellt worden ist innerhalb einer kleinen Bewegung seit Jahrzehnten, das, meine lieben Freunde, kann ja natürlich nicht jeder erfüllen : der eine hat Rücksicht zu nehmen auf sein Amt, der andere auf seine Frau, die andere auf ihren Mann, der andere hat Rücksicht zu nehmen auf die Erziehung seiner Kinder. Das müßte rückhaltlos jeder sich gestehen, damit er einen Überblick darüber erhält, wie wenig er dem nachkommt, um was es sich handelt. Denn das anthroposo-phische Ideal ist ja ein solches, daß es die Einsetzung des ganzen Menschen notwendig macht. Das können ja heute viele nicht.
Aber sie sollen sich nicht die Illusion, den Nebel vormachen, daß sie nun schon genug getan haben, sondern sie sollen sich die Wahrheit über sich selbst gestehen. Aber auf der anderen Seite sollen sie durchdrungen sein davon, daß es heute ums Stehen oder Fallen geht, gerade bei der Pflege eines wirklich kulturgemäßen Geisteslebens. Und niemand kann über dasjenige, was dem Geistesleben und damit dem sozialen Leben notwendig ist, zu richtigen Anschauungen kommen, der es nicht wagt, mutig sich zu gestehen: Der Radikalismus muß bis in die Abänderung des verruchten Stundenplanes, bis in manche Kleinigkeiten hinein gehen; denn aus diesen Kleinigkeiten heraus entwickeln sich jene Schneebälle, welche dann zu Lawinen anwachsen, die heute als die großen Kulturschäden da sind.
Das bitte ich zu bedenken. Davon wollen wir dann ein nächstes Mal weiter sprechen.

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