Die Verbundenheit mit den Wesen höherer Hierarchien als natürliche Fähigkeit früherer Epochen. Rudolf Steiner

Evtl. ist es sinnvoll, sich vor diesem Text mit den Grundlagen der Anthroposophie zu beschäftigen:
Einführung in die Anthroposophie. Rudolf Steiner
hier weiter
===================================================================================

Rudolf Steiner
aus:
Mitteleuropa zwischen Ost und West
– GA 174b

10.Vortrag/Kurzauszug, 13. Mai 1917
…Die Verbundenheit mit den Wesen höherer Hierarchien als natürliche Fähigkeit früherer Epochen. Ein Wortlaut dazu bei Plato.

Das geistige Leben offenbarte sich noch in diesen uralten Zeiten der Menschheit, weil eben das Lebensalter rückläufig in der damaligen Zeit ein solches war, daß wir es vergleichen können mit dem jetzigen Lebensalter zwischen dem sechsundfünfzigsten und achtundvierzigsten Jahr, wie ich es vorgestern ausgeführt habe. Der Mensch hatte gewissermaßen die Unterweisung von geistigen Wesenheiten. Wie kamen diese geistigen Wesenheiten an den Menschen heran?

In der damaligen Zeit sah der Mensch nicht die Natur so an wie heute. Die Natur ist für den Menschen heute eben so eine Art mechanischer Ordnung. Abstrakte, fast mathematische Naturgesetze betrachtet der Mensch heute als sein Ideal, eine abstrakte Ordnung. Nehmen Sie die Bilder, wie sie um Sie herum ausgebreitet sind, wenn Sie hinausgehen in die Natur. Vergleichen Sie dasjenige, was da draußen ist, mit dem, was in den botanischen, in den zoologischen Lehrbüchern steht über Pflanzen und Tiere. Vergleichen Sie diese verzerrten, abstrakten Vorstellungen mit dem Leben, und Sie können sagen: Was da in diesen Büchern der Botanik, der Zoologie steht, das ist, was heute dem menschlichen Geiste sich offenbart. Solche Botanik, solche Zoologie, auf welche die heutige Menschheit so ungeheuer stolz ist, war in jenem Zeitalter nicht vorhanden. Wenn man dasjenige, was heutige Botanik, heutige Zoologie und heutige Biologie über die Natur zu sagen hat, vergleicht mit dem, was für jenes alte Erkennen in der Natur sprießte und sproßte, so kommt man eben zu einer anderen Gesinnung. Solche Botanik, solche Zoologie gab es damals nicht, aber es gab dafür etwas anderes, etwas, was der heutigen Menschheit noch recht wenig verständlich ist. Es kam aus der Natur selber heraus, und nennen mochte ich das, was da aus der Natur herauskam: das lichterfüllte, gestaltete Wort.

So wie wir durch unsere Sinne und unseren Verstand heute die Natur sehen, so sahen sie diese Menschen nicht, sondern die Natur entsendete ihnen Lichtgestalten, und diese Lichtgestalten tönten zugleich, sagten etwas, sprachen sich aus über das, was sie sind. Und jeder Mensch konnte in gewissen Zuständen seines Bewußtseins dieses atavistische Hellsehen erfahren, wodurch ihm aus der Natur heraus das lichterfüllte, gestaltete Wort entgegenkam; man könnte auch sagen Worte, denn es kam eine Fülle von solchen Gestalten, die sich aussprachen, heraus aus der Natur.
Der Mensch wußte: Auch du gehörst zu dieser Welt, aus der diese lichterfüllten Worte herauskommen. Du gehörst da auch hinein. Jetzt aber bist du hier in der Natur, wo dich Mineralien, Pflanzen und Tiere umgeben. Du bist dadurch in der Natur, daß du einen äußeren physischen Leib an dir trägst; dadurch gehörst du zu dieser Natur dazu. Aber die Natur läßt heraussprießen das lichterfüllte Wort: dem gehörst du deinem seelischen Wesen nach so an, wie dein fleischlicher Leib der äußeren mineralischen, pflanzlichen, tierischen Welt angehört. In dieser Welt des lichterfüllten, des lichtgestalteten Wortes bist du gewesen vor deiner Geburt oder Empfängnis, und du wirst darinnen sein nach deinem Tode. Du wirst darinnen wieder leben.

Im ersten nachatlantischen Zeitraum hörte man wenigstens noch einen Nachklang und sah einen Nachschein der Welt, in der man lebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, indem man in gewissen Bewußtseinszuständen die Natur anschaute.
Im zweiten nachatlantischen Zeitraum war es schon etwas anders. Da verlor sich für diese atavistischen Zustände das Wort. Die Gestalten sprachen sich nicht mehr aus, aber sie waren noch da, lichterfüllte Gestalten waren noch da, nur waren sie stumm geworden. Dasjenige, was äußerlich vor den Sinnen lag, das empfand man als die Dunkelheit in diesem lichterfüllt Gestalteten im Inneren, und seinen eigenen Leib empfand man als ein Stück von der Dunkelheit. So daß man sich sagen konnte: Licht und Dunkelheit! Der eigene Leib ist von der Dunkelheit beherrscht. Indem er aus dem Lichte kommt und in die Dunkelheit geht, geht er durch Geburt oder Empfängnis in das Erdenleben hinein; indem er durch die Todespforte geht, geht er durch die dunkle Welt wiederum ins Licht. In der Welt ist ein Kampf zwischen Lichtheit und Dunkelheit, zwischen Ormuzd und Ahriman. So sprach Zarathustra, der der Lehrer war dieser zweiten nachatlantischen Kulturepoche, zu seinen Schülern. Man versteht dasjenige, was der Zarathustrismus mit seiner Ormuzd- und Ahriman-Lehre meint, nicht, wenn man es nicht bezieht auf die Art der damaligen Anschauung der Menschen.
Wieder anders war die Sache geworden in der dritten nachatlantischen Zeitperiode. Wenn man auf das Äußere schaut, so hatten sich die lichterfüllten Gestalten für diesen äußeren Anblick in der dritten nachatlantischen Periode nach und nach verloren. Aber die Menschen hatten noch die Macht, sich, so wie wir uns heute in Schlaf versetzen, in einen Zwischenzustand zu versetzen zwischen Schlafen und Wachen. Sie mußten sich dazu nur ein wenig anstrengen. Beim Schlafen braucht man sich ja nicht anzustrengen, in diesem andersartigen Zustand aber mußte man sich etwas anstrengen. Wenn man sich aber anstrengte, dann konnte man eine solche Lichtwelt um sich herauszaubern, die jetzt aus dem Inneren kam und die ähnlich war derjenigen, die früher von der Natur, von außen kam.

Wie war also eigentlich der Fortgang von der zweiten nachatlantischen Kulturperiode zu der dritten, der ägyptisch-chaldäisch-babylonischen Zeit? Wie war der Übergang? Nun, in der zweiten, in der persischen Kulturperiode sahen die Menschen noch, indem sie nach außen blickten, die Lichtgestalten und konnten sich sagen: Meine Seele gehörte, bevor sie durch die Empfängnis ging, dieser lichtgestalteten Weit an. Von außen hinein schien diese lichtgestaltete Welt nicht mehr in der dritten Kulturperiode, aber der Mensch konnte sie gleichsam aus sich herauspressen; dann hatte er aus seiner Seele heraus sich selber das vor diese Seele hingezaubert, was vor seiner Geburt oder Empfängnis da war in der geistigen Welt, und was nach seinem Tode da sein wird in der geistigen Welt. So daß wir sagen können: die dritte nachatlantische Zeit hatte die Lichtwelt als Seelenerlebnis. Die Menschen hatten die Lichtwelt als Seelenerlebnis, der Mensch war also gewissermaßen von der Außenwelt mehr auf sein Inneres zurückgewiesen worden. Es war nicht mehr die naturgemäße Art beim Menschen, in die äußere Welt zu blicken und die Lichtwelt zu sehen, das heißt, die geistige Welt im Umkreis zu sehen. Daher war notwendig geworden in dieser Zeit, immer einen kleinen Kreis von Leuten auf Mysterienart einzuweihen, so daß sie in die Lage kamen, wieder zu sehen die äußere Lichtwelt, und daß sie Zeugnis dafür ablegen konnten, daß das, was aus dem Inneren der Seele heraufgeholt wurde, wirklich dasselbe war, was im geistigen Umkreis gelebt hat.

Nun kam die vierte nachatlantische Periode, die griechisch-lateinische. In dieser vierten Periode kam nicht mehr Licht herauf, wenn der Mensch sich in einen besonderen Zustand versetzte, wie in der dritten Periode. Das Licht kam nicht mehr, es kam nicht mehr dasjenige herauf aus dem Untergrund des Menschenwesens, was ein Nachklang gewesen wäre des Lebens der Seele vor der Empfängnis und des Lebens der Seele nach dem Tode. Aber es kam noch eine Gewißheit herauf, daß das Innere des Menschen seelenerfüllt ist. Diese Gewißheit kam herauf. Man verspürte noch etwas von dem, was man früher geschaut hatte, wenn man die Seele innerlich zum Schauen brachte. Man schaute nicht mehr das Licht, aber man verspürte noch des Lichtes Wärme.
So war es in der griechisch-lateinischen Zeit. Da müssen wir sagen: Es wurde nicht mehr die Lichtwelt als Seelenerlebnis im Inneren erfahren, aber es wurde die Seele selbst als Seelenerlebnis erfahren.
Aber naturgemäß mußte das immer schwächer und schwächer werden im Verlaufe der Zeit.

Und wie drückt sich dann das ganze Verhältnis überhaupt aus? Es drückte sich aus in der folgenden Art. Namentlich auf die Griechen werden wir schauen müssen, wenn wir die Sache verstehen wollen: Die Griechen hatten, wie der Durchschnittsmensch von heute, das Bewußtsein ihres Leibes. Aber durch das, was ich geschildert habe, hatten sie auch das Bewußtsein: die Seele durchseelt den Leib. Sie verspürten die Seele als belebend, den Leib durchlebend. Diese Empfindung, die die Griechen noch hatten, ist verlorengegangen. Daß die Geschichte davon nichts spricht, daß diese Empfindung heute verlorengegangen ist, das ist nur, weil wir im Zeitalter des Materialismus leben. Niemand versteht Homer in Wirklichkeit, niemand versteht Sophokles oder Äschylos, wenn er sie nicht liest mit der Empfindung, daß der Grieche noch eine andere Seelenerfahrung hatte als der heutige Mensch. Würde man Äschylos mit dieser Empfindung lesen, so würde man andere Übersetzungen liefern als diejenigen, die heute geliefert und manchmal bewundert werden, und die gerade in den intimsten Dingen dem Äschylos wahrhaftig nicht ähnlich sehen. Aber daß das so war, hatte für den Griechen eine ganz bestimmte Folge, nämlich daß der Grieche gerade während der Zeit zwischen Geburt und Tod im Leibe das belebende Seelenelement fühlte, und daher auch
zu einer anderen Empfindung noch kam, zu der Empfindung, daß der Leib und die Seele eigentlich ganz innig zusammengehören. Niemals in der Menschheitsentwickelung ist diese Empfindung überhaupt so rege gewesen wie in der Griechenzeit. Denn in früheren Epochen, die der Griechenzeit vorausgingen, hatten die Menschen eigentlich immer das Gefühl, das Seelische gehöre der Lichtwelt, der Wortwelt, der Welt des Logos an, in der der Mensch lebt vor der Geburt und nach dem Tode.

Jetzt, im materialistischen Zeitalter, ist es so, daß der Mensch die Seele zunächst überhaupt nicht mehr verspürt. In der Griechenzeit, und etwas abgeschwächt und ins Trockene und Verstandesmäßige umgesetzt in der römischen, der lateinischen Zeit, war die Empfindung vorhanden des innigen Zusammengehörens von Leib und Seele. Den Leib betrachtete der Grieche als die äußere Gestalt für die Seele. Wachstum und Verfall des Leibes erschien den Griechen als Ausdruck für Wachstum und Verfall des Seelenlebens. Der Grieche liebte den Leib, so wie er die Seele liebte. Diese Empfindung, wie sie in dem Griechen vorhanden war, war früher in derselben Weise nicht vorhanden – wie ich eben ausgeführt habe – und ist heute wieder nicht vorhanden. Aber die Folge davon war jene Empfindung, die so tief ausgedrückt ist in den Worten, die Achilleus in den Mund gelegt werden:

«Lieber ein Bettler in der Oberwelt als ein König im Reich der Schatten.»

Der Grieche hat die schöne Harmonie, die er empfunden hat zwischen Leib und Seele, zu bezahlen gehabt damit, daß ihm, wenn er nicht Angehöriger der Mysterien war, eine Vorstellung davon, wie es der Seele in der geistigen Welt nach dem Tode ergeht, ganz geschwunden war. Nun, das Merkwürdige ist eben, daß der große griechische Philosoph Aristoteles, der ein großer Denker, aber nicht in die Mysterien eingeweiht war, in einer grandiosen Weise über das Erleben der Seele nach dem Tode so gesprochen hat, wie man sprechen konnte in der damaligen Zeit, wenn man die innige Harmonie zwischen Leib und Seele ins Auge zu fassen vermochte nach der Art des griechischen Zeitalters.
Und als dann im Mittelalter in der sogenannten scholastischen Philosophie Aristoteles wieder aufgelebt ist, da haben die Scholastiker gesagt: In der Philosophie muß man so denken über die Seele, wie Aristoteles gedacht hat. Will man mehr darüber wissen, so kann das nur aus dem Glauben kommen. Mit der bloßen menschlichen Forschung kann man nicht weiter kommen als Aristoteles. —

Wie weit ist Aristoteles denn gekommen, er, der so recht der philosophische Ausdruck für die griechische Art der Anschauung über Leib und Seele ist? Er ist wirklich zu dem gekommen, was man so schön mit den Worten des kürzlich verstorbenen meisterhaften Aristoteles-Forschers Franz Brentano aussprechen kann, der sagt: Wenn der Mensch ein Glied verloren hat, so kann er sich dieses Gliedes nicht mehr bedienen, er ist gewissermaßen nicht mehr ein ganzer Mensch. Wenn er zwei Glieder verloren hat, ist er noch weniger ein ganzer Mensch. Wenn er nun den ganzen Leib verloren hat — so sagt Aristoteles und mit ihm Franz Brentano – und noch nach dem Tode Seele ist, was Aristoteles nicht leugnet, so ist er in einem Zustande der Unvollständigkeit gegenüber dem Zustand, in dem er ist zwischen Geburt und Tod. Er ist kein vollständiger Mensch. –

Und das ist in der Tat die wahre Unsterblichkeitslehre des Aristoteles, des größten Denkers der Griechenwelt, daß der Mensch nur hier zwischen Geburt und Tod ein vollständiger, ein vollkommener Mensch ist. Geht er durch die Pforte des Todes, so ist er nur ein Stück des Menschen; er ist zwar unsterblich, aber auf Kosten dessen, daß er kein ganzer Mensch mehr ist. Das ist in der Tat dasjenige, womit das Griechentum seine Schönheit, seine Harmonie zu bezahlen hatte, daß es in dasjenige Menschenalter hineinkam –

Sie wissen, verglichen mit dem menschlichen Lebensalter -, wo man aus dem Inneren herauf zwar die Seele verspüren konnte, wo man aber noch nicht das Leben der Seele in der geistigen Welt schauen konnte, wo man von der Seele sagen mußte: sie ist nach dem Tode kein vollständiger Mensch mehr. Nur denjenigen, die in die Mysterien eingeweiht wurden, denen also Erkenntniskräfte einverleibt wurden, die über das Normale hinausgingen, enthüllte sich dasjenige, was die Seele durchlebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Das ist ja der große Unterschied zwischen Plato und Aristoteles, daß Plato in die Mysterien eingeweiht war und Aristoteles nicht. Daher muß Plato in ganz anderem Sinne verstanden werden als Aristoteles, der zum «Chimborasso des Denkens» kam, aber nicht zu den Geheimnissen der geistigen Welt dringen konnte.

Daher kam es, daß diejenigen, welche die Macht hatten in diesem Zeitalter, nach etwas anderem strebten als das, was man im normalen Menschenleben erreichen kann. Wer waren die Männer, die die Macht hatten, die in der Lage waren, diese Macht zu entwickeln? Gewiß, es gab eine große, bedeutsame Welt der Initiation, die durch die Mysterien da und dorthin ausgebreitet war und die damalige Kulturwelt erfüllte; aber diese Mysterien, sie gaben den Menschen dasjenige, von dem Plato sagte, daß es die Menschen über den Schlamm der Vergänglichkeit hinweghebe. Diejenigen, welche die Macht hatten in diesem vierten nachatlantischen Zeitraum, suchten vor allen Dingen nach einem solchen in der Seele, wodurch sie teilnehmen konnten an der geistigen Welt.
Nach dem allgemeinen Menschheitskarma mußte man im Sinne des Initiationsprinzips der damaligen Zeit normalerweise warten, bis man in die Mysterien hereingeholt wurde. In Griechenland war das allgemein üblich.
Das brauchten die römischen Cäsaren nicht. Die römischen Cäsaren, die sich allmählich zur Beherrschung der damaligen Welt aufwarfen, die konnten ihre Macht dazu verwenden, sich einweihen zu lassen in die Mysterien. Und so sehen wir denn, daß schon von Augustus an die römischen Cäsaren die Initiation anstrebten, einfach durch ihre Machtfülle. Sie zwangen die eine oder andere Priesterschaft, sie in die Mysterien einzuweihen. So daß in diesem vierten Zeitraum eine eigentümliche Erscheinung zu beobachten ist: Wir haben auf der einen Seite das Mysterienprinzip, das Mysterienwissen, das noch da war, das aber allmählich hinschwand, allmählich niederging -ich habe öfter geschildert, warum das so kommen mußte: weil eben das Mysterium von Golgatha an die Stelle trat -, auf der anderen Seite wurden die Priester gezwungen, ihre Geheimnisse den römischen Cäsaren zu enthüllen. Augustus war der erste Kaiser, der eingeweiht wurde im vierten nachatlantischen Zeitraum; aber auch seine Nachfolger waren solche Eingeweihte, solche Initiierte. Sie unterschieden sich in ihrem Wesen von den anderen Initiierten, die auf Grund moralischer Eigenschaften, moralischer Entwickelung namentlich, in die Mysterien eingeweiht waren. Die römischen Cäsaren wurden auf Grund ihrer Machtfülle eingeweiht dadurch, daß sie die Priesterschaften zwingen konnten, ihnen ihre Geheimnisse zu enthüllen.
Und so sehen wir denn, daß auch solch ein Nachfolger des Augustus wie Caligula ein Initiierter war. Dadurch aber war ein solcher Mensch wie Caligula bekannt mit den Geheimnissen des geistigen Weltenalls. Er war bekannt damit, daß die Impulse dieses geistigen Weltenalls in der Seele wieder aufleben, daß das Ich des Menschen ein Göttliches in dem Göttlichen ist. Dasjenige, was eine heilige Wahrheit der Demut bei den initiierten Priestern war, das wurde den Cäsaren ein Symbolum der äußeren Weltenmacht.
Denn was wußte solch ein Caligula? Die anderen starrten dasjenige an, was ihnen an mythologischen Figuren der Götter heruntergekommen war aus alten Zeiten; das beteten sie an. Solch ein Eingeweihter wie Caligula wußte, was diese Götter zu bedeuten hatten. Er wußte vor allen Dingen, daß der Mensch derselben Welt mit seiner innersten Wesenheit angehört. Aus Erfahrung wußte Caligula, daß er derselben Welt angehörte wie diejenigen Wesen, die in diesen Göttern: Bacchus, Herkules, Merkur, Apollo, Zeus ihre Abbilder haben. Caligula wußte das Geheimnis, wie er in einem schlafähnlichen Zustande mit den Göttern der Mondenwelt verkehren konnte. Und es ist nicht eine bloße Mythe, sondern durchaus eine Wahrheit, wenn gerade von Caligula erzählt wird, daß er, wie man sagte, im Schlafe – es ist aber gemeint, in einem anderen Bewußtseinszustande – mit Luna, der Mondgöttin, Umgang pflegte, und daraus Nahrung söge für sein Machtbewußtsein. In mir lebt die Welt – sagte er sich – denn ich bin in ihr drinnen. – Indem er auf die Götter blickte, sah er sich selbst als einen Gott unter Göttern an. Und das war von den initiierten römischen Kaisern ganz ernst gemeint, wenn sie das sagten. Der initiierte Priester wußte, wie er in die Wohnung der Götter kam, und so erzwang sich der römische Cäsar die Gemeinschaft mit den Göttern. «Mein Bruder Jupiter», «Mein Bruder Zeus»: das waren Bezeichnungen, die gerade Caligula immer wieder gebrauchte. Und Caligula war es, der einmal an einen Tragöden die Frage richtete, wer größer sei, Jupiter oder er, Caligula. Und als der Tragöde nicht antworten wollte, Caligula sei größer als Jupiter, ließ er ihn geißeln.

Das sind keine Mythen, das sind historische Dinge. Daher auch die Aufzüge, in denen Caligula als Bacchus mit Thyrsus und Epheukranz sich vor dem Volke zeigte, weil er das Bewußtsein hatte, daß er sich
verwandeln dürfe in diejenigen Gestalten, die er als Abbilder der Götter kannte. Als Herkules erschien er mit der Keule und der Löwenhaut, als Merkur mit dem Hermesstab, als Apollo mit der Strahlenkrone und von Chören umgeben. So trat er auf, um seinem Volke das Bewußtsein beizubringen, daß er zu den Göttern und nicht zu den Menschen gehöre.

So war es in jener Zeit, in welcher, möchte man sagen, sich in der römischen Welt das minder gute Bild dessen zeigte, was in der Griechenwelt groß war. Natürlich sah das niemand besser ein als solch ein Caligula oder andere initiierte Kaiser wie Commodus und andere. Caligula hörte einmal, daß eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hatte, in der ein Richter einen Angeklagten zum Tode verurteilte. Und als ihm die Sache, da es ein besonderer Fall war, berichtet wurde, da sagte er: Ebensogut hätte der Richter zum Tode verurteilt werden können, denn er sei ebenso viel wert wie der andere. – So sah er die moralische Verfassung seiner Zeit an. Im Römertum erscheint wirklich das Gegenteil des Griechentums.

Man hat gar keine Vorstellung mehr von der inneren Verfassung des Römertums der Cäsarenzeit. Man muß sich aber eine Vorstellung davon verschaffen, denn das ist eine der Wurzeln, aus denen unsere neue, unsere fünfte Kulturepoche im Fortströmen sich entwickelt hat.
Auch Nero war ein solcher Eingeweihter, ein initiierter Kaiser. Und dadurch gerade konnte Nero etwas ganz Besonderes einsehen. Diejenigen, die in die Mysterien eingeweiht waren in der damaligen Zeit, wußten: die Entwickelung ist bis zu einem gewissen Punkte abwärts gegangen; sie muß wiederum aufsteigen, aber sie muß sich auch mehr vergeistigen. Das ist ja in Wirklichkeit dasjenige, was gemeint ist mit der «Parusie», mit dem neuen Zeitalter, von dem auch der Christus Jesus spricht.
Wenn Sie das, was in all diesen alten Kulturepochen bis zum Griechentum lebendig ist, vergleichen mit der späteren Zeit, so finden Sie:
In diesen alten Kulturepochen offenbart sich in einer gewissen Weise durch das Körperliche noch das Seelisch-Geistige. Dann hört das auf; es offenbart sich nicht mehr, es muß jetzt durch anderes gesucht werden. Wenn der Mensch durch das, was er mit Augen sehen, mit Ohren hören kann, das Geistig-Seelische suchen will, so kann er es nicht mehr finden.
Die Reiche der Himmel, sie offenbarten sich früher durch die Leiber, jetzt müssen sie im Geiste heraufkommen. Die Reiche der Himmel müssen nahe kommen. Das ist die Prophetie des Täufers Johannes. Das ist auch, was der Christus Jesus mit der Parusie meint. Nur stehen in einer gewissen Weise die Theologen bis heute noch immer auf dem sonderbaren Standpunkte, daß sie glauben, der Christus hätte mit der Parusie gemeint, die Erde müsse sich physisch verwandeln. Auch die Blavatsky tadelt den Ausspruch des Christus Jesus über die Parusie, das Heraufkommen der Reiche der Himmel, indem sie sagt: Da wurde vorausgesagt, daß die Reiche der Himmel auf die Erde kommen, das Getreide ist aber nicht besser geworden; die Weintrauben sind nicht reicher als früher; es sind keine Himmel auf die Erde gekommen. -Alle die Leute, die so reden, verstehen nicht, was gemeint ist. Was der Christus Jesus gemeint hat, was Johannes gemeint hat, das war schon gekommen: die Reiche der Himmel waren schon auf die Erde herabgekommen, indem der Christus selber sich in dem Jesus von Nazareth verkörpert hatte. Der Vorgang ist durchaus als ein geistiger aufzufassen.
Aber ein Initiierter wie Nero, der wußte das auch aus den Mysterien heraus; er lehnte sich dagegen auf. Der kam wirklich zu der Wahnidee, daß er sich sagte: Nun ja, die Welt ist im Niedergang, so soll sie auch untergehen‘ – Und das ist eigentlich der psychologische Grund, warum der Nero Rom hat anzünden lassen – was er wirklich getan hat -, weil er wenigstens das Schauspiel haben wollte, daß von da aus der Feuerbrand komme, der die ganze Welt verbrennt. Denn er hielt nichts mehr von dieser Welt. Er wollte die Erneuerung nicht zulassen, die durch das Mysterium von Golgatha kam. Nur war er, wenn er auch ein Wahnsinniger war, doch ein Genie. Durch seine Machtfülle hatte er sich seine Initiation erzwungen, daher waren alle die Ideen groß bei ihm, größer als sie bei anderen sind, die nicht diese Vorbedingung hatten. Daher ist Nero auch in einem gewissen Sinn der erste Psychoanalytiker, aber ein großzügiger, nicht ein Psychoanalytiker wie diejenigen, die Freud oder anders heißen. Denn Nero vergötterte das Leibliche, indem er wirklich wie der Psychoanalytiker aus dem Unterbewußten das Geistig-Seelische heraufholen wollte.
Der heutige Psychoanalytiker sagt: Was ist denn da unten in der Seele? Enttäuschungen, allerlei verglommenes Leben und so weiter -, und dann sagt er: Der animalische Grundschlamm der Seele ist da unten, viel Schönes ist da unten nicht. – Wenn man heute den Psychoanalytiker hört, so ist es so, wie wenn ein Mensch einen Acker beschreibt, der eben gedüngt worden und dann bebaut worden ist mit den Saaten für die nächste Zeit, aber der Mensch sieht nur den Dünger, den Mist. So sieht der Psychoanalytiker nur das in der Seele, was wirklich Mist ist, vergleichsweise gesprochen, selbstverständlich. Er sieht nicht das Ewige in der Seele, das, was von Leben zu Leben geht. Daher ist die Psychoanalyse so gefährlich, weil sie zwar zu dem Unterbewußten hinuntergeht, aber statt des seelisch-geistigen Wesenskernes den animalischen Grundschlamm sieht, wie wenn man nicht die keimende Saat, sondern nur den Mist sieht. Nero war ein großer Psychoanalytiker, indem er sagte: Im Menschen ist überhaupt nichts anderes als der animalische Grundschlamm, alles andere ist einfach Schein; früher war es anders, als die Menschen noch dem Göttlichen nahe waren, aber jetzt besteht der Mensch nur noch aus diesem animalischen Grundschlamm, es gibt auch nicht einen kleinsten Teil, der keusch ist, alles ist verlottert im Menschen -, so sagte Nero.
Man sieht daraus, man fühlt gerade bei denjenigen, die auf diese Weise sich die Initiation erzwungen hatten, das Materialistisch werden der Welt. Man übersetzte ja überhaupt das alte, spirituelle Initiationsprinzip in diesen Kreisen recht ins Materielle.

+++

Anthroposophische Geisteswissenschaft: „Wer nicht die Schulung durchgemacht hat durch die moderne Naturwissenschaft, der kann im Grunde genommen nur Nebuloses auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft hervorbringen“.
hier weiter

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*