Erziehung und Schule – Hochaktelle Gedanken zur Erneuerung der Pädagogik.

Rudolf Steiner – Aus: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus
und zur Zeitlage (1915 -­ 1921)
GA 24

Kurztext aus dem Kapitel: Freie Schule und Dreigliederung

Die öffentliche Pflege des Geisteslebens in Erziehung und Schule ist in der neueren Zeit immer mehr zur Staatssache geworden. Daß das Schulwesen eine vom Staat zu besorgende Angelegenheit sei, wurzelt gegenwärtig so tief im Bewußtsein der Menschen, daß, wer an diesem Urteil rütteln zu müssen vermeint, als ein weltfremder «Ideologe» angesehen wird. Und doch liegt gerade auf diesem Lebensgebiete etwas vor, das der allerernstesten Erwägung bedarf.
Denn diejenigen, die in der angedeuteten Art über «Weltfremdheit» denken, ahnen gar nicht, welch eine weltfremde Sache sie selbst verteidigen. Unser Schulwesen trägt ganz besonders die Charakterzüge an sich, die ein Abbild sind der niedergehenden Strömungen im Kulturleben der gegenwärtigen Menschheit. Die neueren Staatsgebilde sind mit ihrer sozialen Struktur den Anforderungen des Lebens nicht gefolgt. Sie zeigen zum Beispiel eine Gestaltung, die den wirtschaftlichen Forderungen der neueren Menschheit nicht genügt.

Sie haben diese Rückständigkeit auch dem Schulwesen aufgedrückt, das sie, nachdem sie es den Religionsgemeinschaften entrissen, ganz in Abhängigkeit von sich gebracht haben.

Die Schule auf allen ihren Stufen bildet die Menschen so aus, wie sie der Staat für die Leistungen braucht, die er (momentan) für notwendig hält. In den Einrichtungen der Schulen spiegeln sich die Bedürfnisse des Staates. Man redet zwar viel von allgemeiner Menschenbildung und ähnlichem, das man anstreben will; aber der neuere Mensch fühlt sich unbewußt so stark als ein Glied der staatlichen Ordnung, daß er gar nicht bemerkt, wie er von der allgemeinen Menschenbildung redet und eigentlich die Ausbildung zum brauchbaren Staatsdiener meint.

In dieser Beziehung verspricht die Gesinnung der sozialistisch Denkenden von heute nichts Gutes. Man will den alten Staat umwandeln in eine große Wirtschaftsorganisation. In diese hinein soll sich fortsetzen die Staatsschule. Diese Fortsetzung würde alle Fehler der gegenwärtigen Schule in bedenklichster Art vergrößern. Bisher (1915) steckte in dieser Schule noch manches, was Zeiten entstammte, in denen der Staat noch nicht Beherrscher des Unterrichtswesens war.

Man kann natürlich die Herrschaft des Geistes nicht zurückwünschen, der aus diesen alten Zeiten stammt. Aber man müßte bestrebt sein, den neuen Geist der fortentwickelten Menschheit in die Schule hineinzutragen. Dieser Geist wird nicht darinnen sein, wenn man den Staat in eine Wirtschaftsorganisation umwandelt und die Schule so umgestaltet, daß aus ihr Menschen hervorgehen, die die brauchbarsten Arbeitsmaschinen in dieser Wirtschaftsorganisation sein können. Man spricht heute viel von einer «Einheitsschule». Daß man sich theoretisch unter dieser Einheitsschule etwas sehr Schönes vorstellt, darauf kommt es nicht an. Denn, wenn man die Schule als ein organisches Glied einer Wirtschaftsorganisation (s. auch G8, G 7!) ausgestaltet, so kann sie nicht etwas Schönes sein.

Worauf es der Gegenwart ankommen muß, das ist, die Schule ganz in einem freien Geistesleben zu verankern. Was gelehrt und erzogen werden soll, das soll nur aus der Erkenntnis des werdenden Menschen und seiner individuellen Anlagen entnommen sein. Wahrhaftige Anthropologie soll die Grundlage der Erziehung und des Unterrichtes sein.

Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen. Dann wird in dieser Ordnung immer das leben, was die in sie eintretenden Vollmenschen aus ihr machen; nicht aber wird aus der heranwachsenden Generation das gemacht werden, was die bestehende soziale Organisation aus ihr machen will.

Ein gesundes Verhältnis zwischen Schule und sozialer Organisation besteht nur, wenn der letzteren immer die in ungehemmter Entwickelung herangebildeten neuen individuellen Menschheitsanlagen zugeführt werden. Das kann nur geschehen, wenn die Schule und das Erziehungswesen innerhalb des sozialen Organismus auf den Boden ihrer Selbstverwaltung gestellt werden.

Das Staats- und Wirtschaftsleben sollen die von dem selbständigen Geistesleben herangebildeten Menschen empfangen; nicht aber sollen sie, nach ihren Bedürfnissen, deren Bildungsgang vorschreiben können. Was ein Mensch in einem bestimmten Lebensalter wissen und können soll, das muß sich aus der Menschennatur heraus ergeben.

Staat und Wirtschaft werden sich so gestalten müssen, daß sie den Forderungen der Menschennatur entsprechen. Nicht der Staat oder das Wirtschaftsleben haben zu sagen: So brauchen wir den Menschen für ein bestimmtes Amt; also prüft uns die Menschen, die wir brauchen und sorgt zuerst dafür, daß sie wissen und können, was wir brauchen; sondern das geistige Glied des sozialen Organismus soll aus seiner Selbstverwaltung heraus die entsprechend begabten Menschen zu einem gewissen Grade der Ausbildung bringen, und Staat und Wirtschaft sollen sich gemäß den Ergebnissen der Arbeit im geistigen Gliede einrichten.

Da das Leben des Staates und der Wirtschaft nichts von der Menschennatur Abgesondertes sind, sondern das Ergebnis dieser Natur, so ist niemals zu befürchten, daß ein wirklich freies, auf sich selbst gestelltes Geistesleben wirklichkeitsfremde Menschen ausbildet.
Dagegen entstehen solche lebensfremde Menschen gerade dann, wenn die bestehenden Staats- und Wirtschaftseinrichtungen das Erziehungs- und Schulwesen von sich aus regeln. Denn in Staat und Wirtschaft müssen die Gesichtspunkte innerhalb des Bestehenden, Gewordenen eingenommen werden. Zur Entwickelung des werdenden Menschen braucht man ganz andere Richtlinien des Denkens und Empfindens.

Man kommt als Erzieher, als Unterrichtender nur zurecht, wenn man in einer freien, individuellen Weise dem zu Erziehenden, zu Unterrichtenden gegenübersteht. Man muß sich für die Richtlinien des Wirkens nur abhängig wissen von Erkenntnissen über die Menschennatur, über das Wesen der sozialen Ordnung und ähnliches, nicht aber von Vorschriften oder Gesetzen, die von außen gegeben werden.
Will man ernstlich die bisherige Gesellschaftsordnung in eine solche nach sozialen Gesichtspunkten überleiten, so wird man nicht davor zurückschrecken dürfen, das geistige Leben – mit dem Erziehungs- und Schulwesen – in seine eigene Verwaltung zu stellen. Denn aus einem solchen selbständigen Gliede des sozialen Organismus werden Menschen hervorgehen mit Eifer und Lust zum Wirken im sozialen Organismus; aus einer vom Staat oder vom Wirtschaftsleben geregelten Schule können aber doch nur Menschen kommen, denen dieser Eifer und diese Lust fehlen, weil sie die Nachwirkung einer Herrschaft wie etwas Ertötendes empfinden, die nicht hätte über sie ausgeübt werden dürfen, bevor sie vollbewußte Mitbürger und Mitarbeiter dieses Staates und dieser Wirtschaft sind.

Der werdende Mensch soll erwachsen durch die Kraft des von Staat und Wirtschaft unabhängigen Erziehers und Lehrers, der die individuellen Fähigkeiten frei entwickeln kann, weil die seinigen in Freiheit walten dürfen.

In meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» habe ich mich bemüht, zu zeigen, daß in der Lebensauffassung der parteimäßig führenden Sozialisten im wesentlichen nur die nach einem gewissen Extrem getriebene Gedankenwelt des Bürgertums der letzten drei bis vier Jahrhunderte weiterlebt. Es ist die Illusion dieser Sozialisten, daß ihre Ideen einen völligen Bruch mit dieser Gedankenwelt darstellen. Nicht ein solcher liegt vor, sondern nur die besondere Färbung der bürgerlichen Lebensauffassung aus dem Fühlen und Empfinden des Proletariats heraus. Dies zeigt sich ganz besonders stark in der Stellung, welche diese sozialistischen Führer zum Geistesleben und seiner Eingliederung in den gesellschaftlichen Organismus einnehmen. Durch die übersteigerte Bedeutung des Wirtschaftslebens in der bürgerlichen Gesellschaftsorganisation der letzten Jahrhunderte ist das Geistesleben in eine starke Abhängigkeit von dem Wirtschaftsleben gekommen. Das Bewußtsein von einem in sich selbst gegründeten Geistesleben, an dem die Menschenseele Anteil hat, ist verloren gegangen. Naturanschauung und Industrialismus haben diesen Verlust mitbewirkt.

Damit hängt zusammen, wie man in der neueren Zeit die Schule in den gesellschaftlichen Organismus eingliederte. Den Menschen für das äußere Leben in Staat und Wirtschaft brauchbar zu machen, wurde die Hauptsache. Daß er in erster Linie als seelisches Wesen erfüllt sein solle mit dem Bewußtsein seines Zusammenhanges mit einer Geistesordnung der Dinge und daß er durch dieses sein Bewußtsein dem Staate und der Wirtschaft, in denen er lebt, einen Sinn gibt, daran wurde immer weniger gedacht. Die Köpfe richteten sich immer weniger nach der geistigen Weltordnung und immer mehr nach den wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen. Beim Bürgertum wurde dieses zu einer empfindungsgemäßen Richtung des Seelenlebens. Die proletarischen Führer machten daraus eine theoretische Lebensauffassung, ein Lebensdogma.

Verheerend würde dieses Lebensdogma werden, wenn es grundlegend sein wollte für den Aufbau des Schulwesens in die Zukunft hinein. Da in Wirklichkeit ja doch aus einer noch so vortrefflichen wirtschaftlichen Gestaltung des sozialen Organismus sich keine Pflege eines wahren Geisteslebens, insbesondere auch keine produktive Einrichtung des Schulwesens ergeben kann, so müßte zunächst diese Einrichtung durch die Fortführung der alten Gedankenwelt herbeigeführt werden. Die Parteien, die Träger einer neuen Lebensgestaltung sein wollen, müßten das Geistige in den Schulen von den Trägern der alten Weltanschauungen fortpflegen lassen. Da aber unter solchen Verhältnissen ein innerer Zusammenhang der heranwachsenden Generation zu dem fortgepflegten Alten doch nicht aufkommen kann, müßte das geistige Leben immer mehr versumpfen. Die Seelen dieser Generation würden veröden durch das unwahrhaftige Stehen in einer Lebensauffassung, die ihnen nicht innerer Kraftquell werden könnte.

Die Menschen würden seelenleere Wesen innerhalb der aus dem Industrialismus hervorgehenden Gesellschaftsordnung.

Damit dieses nicht geschehe, erstrebt die Bewegung nach dem dreigliedrigen sozialen Organismus die völlige Loslösung des Unterrichtswesens von dem Staats- und Wirtschaftsleben. Die soziale Gliederung der am Unterrichtswesen beteiligten Persönlichkeiten soll von keinen anderen Mächten abhängen als nur von dem an diesem Wesen mitbeschäftigten Menschen. Die Verwaltung der Unterrichtsanstalten, die Einrichtung der Lehrgänge und Lehrziele soll nur von Personen besorgt werden, die zugleich lehren, oder sonst produktiv im Geistesleben sich betätigen. Jede solche Person würde ihre Zeit teilen zwischen Unterrichten oder sonstigem geistigen. Schaffen und Verwalten des Unterrichtswesens.

Wer sich vorurteilslos in eine Beurteilung des geistigen Lebens einzulassen vermag, der kann einsehen, daß die lebendige Kraft, die man zum Organisieren und Verwalten des Erziehungs- und Unterrichtswesens braucht, nur in der Seele erwachsen kann, wenn man tätig im Unterrichten oder sonstigem geistigen Hervorbringen drinnen steht.

Voll zugeben wird dieses für unsere Gegenwart wohl nur derjenige, der unbefangen sieht, wie eine neue Quelle des Geisteslebens sich eröffnen muß zum Aufbau unserer zusammengebrochenen Gesellschaftsordnung.
Im Aufsatz «Marxismus und Dreigliederung» habe ich auf den richtigen, aber einseitigen Gedanken Engels hingewiesen: «An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen.» So richtig das ist, so wahr ist das andere, daß in den gesellschaftlichen Ordnungen der Vergangenheit das Leben der Menschen nur möglich war, weil mit der Leitung der wirtschaftlichen Produktionsprozesse zugleich die Menschen mitregiert wurden. Hört dieses Mitregieren auf, so müssen die Menschen aus dem frei auf sich gestellten Geistesleben die Lebensantriebe empfangen, welche durch die bisherigen Regierungsimpulse in ihnen wirkten.

Zu alledem kommt noch ein anderes. Das Geistesleben gedeiht nur, wenn es als Einheit sich entfalten kann. Aus derselben Entwickelung der Seelenkräfte, aus der eine befriedigende, den Menschen tragende Weltauffassung stammt, muß auch die produktive Kraft kommen, die den Menschen zum rechten Mitarbeiter im Wirtschaftsleben macht.

Praktische Menschen für das äußere Leben werden doch nur aus einem solchen Unterrichtswesen hervorgehen, das in gesunder Art auch die höheren Weltanschauungstriebe zu entwickeln vermag. Eine Gesellschaftsordnung, die nur Sachen verwaltet und Produktionsprozesse leitet, müßte nach und nach auf ganz schiefe Wege kommen, wenn ihr nicht Menschen mit gesund entwickelten Seelen zugeführt würden.

Ein Neuaufbau unseres gesellschaftlichen Lebens muß daher die Kraft gewinnen, das selbständige Unterrichtswesen einzurichten. Wenn nicht mehr Menschen über Menschen in der alten Art «regieren» sollen, so muß die Möglichkeit geschaffen werden, daß der freie Geist in jeder Menschenseele so kraftvoll, als es in den menschlichen Individualitäten jeweilig möglich ist, zum Lenker des Lebens wird.

Dieser Geist läßt sich aber nicht unterdrücken. Einrichtungen, die aus den bloßen Gesichtspunkten einer wirtschaftlichen Ordnung das Schulwesen regeln wollten, wären der Versuch einer solchen Unterdrückung. Sie würde dazu führen, daß der freie Geist aus seinen Naturgrundlagen heraus fortdauernd revoltieren würde. Die kontinuierliche Erschütterung des Gesellschaftsbaues wäre die notwendige Folge einer Ordnung, die aus der Leitung der Produktionsprozesse zugleich das Schulwesen organisieren wollte.

Wer diese Dinge überschaut, für den wird die Begründung einer Menschengemeinschaft, welche die Freiheit und Selbstverwaltung des Erziehungs- und Schulwesens energisch erstrebt, zu einer der wichtigsten Zeitforderungen.
Alle anderen notwendigen Zeitbedürfnisse werden ihre Befriedigung nicht finden können, wenn auf diesem Gebiete das Rechte nicht eingesehen wird. Und es bedarf eigentlich nur des unbefangenen Blickes auf die Gestalt unseres gegenwärtigen Geisteslebens mit seiner Zerrissenheit, mit seiner geringen Tragkraft für die menschlichen Seelen, um dieses Rechte einzusehen.

Was nottut

Man wird den Wirklichkeitssinn, der in der Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus lebt, nicht finden, wenn man diese mit den Gedanken vergleicht, die man sich über das praktisch Mögliche aus den Überlieferungen heraus angeeignet hat, in welche man durch Erziehung und Lebensgewohnheiten hineingewachsen ist. Daß diese Überlieferungen zu Denk- und Empfindungsgewohnheiten geführt haben, über welche das Leben hinausgewachsen ist, dies ist ja gerade der Grund unserer gesellschaftlichen und staatlichen Wirrnis.
Wer daher sagt: die Dreigliederung berücksichtige nicht, aus welchen Antrieben bisher die menschlichen Einrichtungen erwachsen sind, der lebt in dem Wahn, die Überwindung dieser Antriebe sei eine Sünde wider jede mögliche Gesellschaftsordnung. Die Idee von der Dreigliederung ist aber auf der Erkenntnis aufgebaut, daß der Glaube an die weitere Tragkraft dieser Antriebe das stärkste Hemmnis bildet für einen gesunden, mit der gegenwärtigen Entwickelungsstufe der Menschheit rechnenden Fortschrittsimpuls.

Daß die alten Antriebe nicht weiter fortgepflegt werden können, das sollte man aus der Tatsache erkennen, daß sie ihre Stoßkraft für das produktive Arbeiten der Menschen verloren haben. Die alten wirtschaftlichen Antriebe der Kapitalrentabilität und des Lohnerträgnisses konnten ihre Stoßkraft nur so lange behaupten, als von den alten Lebensgütern noch genügend übriggeblieben war von dem, für das der Mensch Neigung und Liebe entwickeln konnte. Diese Lebensgüter zeigen sich deutlich in dem abgelaufenen Zeitalter erschöpft.
Und immer zahlreicher wurden die Menschen, die als Kapitalisten nicht mehr wußten, wofür sie Kapital anhäufen sollten; immer zahlreicher auch wurden die Menschen, die, im Lohnverhältnis stehend, nicht wußten, wofür sie arbeiteten.

Die Erschöpfung der im Staatsgefüge wirkenden Antriebe zeigte sich darin, daß es in der neuesten Zeit für viele Menschen fast zu einer Selbstverständlichkeit wurde, den Staat für einen Selbstzweck anzusehen und zu vergessen, daß der Staat um der Menschen willen da ist.

Man kann den Staat nur als einen Selbstzweck ansehen, wenn man die innere individuelle Selbstbehauptung des Menschenwesens so weit verloren hat, daß man für diese Selbstbehauptung und aus ihr heraus nicht die entsprechenden Staatseinrichtungen fordert. Dann muß man nämlich in allerlei Einrichtungen des Staates dessen Wesen suchen, die seiner eigentlichen Aufgabe zuwiderlaufen. Man wird erfüllt werden, mehr in die Einrichtungen des Staates hineinzulegen, als für die Selbstbehauptung der in ihm vereinigten Menschen notwendig ist. Jedes solche mehr des Staates ist aber ein Zeugnis für ein Weniger der den Staat tragenden Menschen.

Im geistigen Leben offenbart sich die Unfruchtbarkeit der alten Antriebe in dem Mißtrauen, das man dem Geiste überhaupt entgegenbringt. Was aus den ungeistigen Lebensverhältnissen erwächst, dafür hat man Interesse; darüber bildet man sich Anschauungen und Gedanken.
Was aus geistiger Produktion stammt, das betrachtet man am liebsten als persönliche Angelegenheit des produzierenden Menschen. Man behindert es eher, als daß man es förderte, wenn es in das öffentliche Leben aufgenommen werden will. Es gehört zu den verbreitetsten Eigentümlichkeiten unserer zeitgenössischen Menschen, daß ihnen ein offener Sinn für individuelle Geistesleistungen ihrer Mitmenschen fehlt.

Die Gegenwart bedarf des Hinschauens auf diese ihre Abgebrauchtheit in bezug auf die wirtschaftlichen, die staatlichen, die geistigen Antriebe. Aus diesem Hinschauen muß sich ein energisches soziales Wollen entzünden. Ehe man nicht erkennt, daß in unserer wirtschaftlichen, staatlichen, geistigen Not nicht bloß äußere Lebensverhältnisse wirksam sind, sondern die Seelenverfassung des neueren Menschen, ist die Grundlage zu dem notwendigen Neubau noch nicht gegeben.

Es ist ein Zwiespalt in die Seelenverfassung der Menschheit eingetreten. In den instinktiven, unbewußten Regungen der Menschennatur rumort ein Neues. In dem bewußten Denken wollen die alten Ideen den instinktiven Regungen nicht folgen. Wenn aber die besten instinktiven Regungen nicht von Gedanken erleuchtet sind, die ihnen entsprechen, dann werden sie barbarisch, animalisch. In eine gefährliche Lage treibt die Menschheit der Gegenwart hinein durch die Animalisierung ihrer Instinkte. Rettung ist nur zu finden durch Erstreben neuer Gedanken für eine neue Weltlage.

Ein Ruf nach Sozialisierung, der dieses nicht berücksichtigt, kann zu nichts Heilsamem führen. Die Scheu, den Menschen als seelisches, als geistiges Wesen zu betrachten, muß überwunden werden. Einseitige Umwandlung des Wirtschaftslebens, einseitige Neugestaltung der staatlichen Struktur ohne die Pflege einer sozial gesunden und fruchtbaren Seelenverfassung ist geeignet, die Menschheit in Illusionen zu wiegen, statt sie mit Wirklichkeitssinn zu durchdringen. Und weil nur wenige sich entschließen können, die Lebensfrage der Gegenwart und der nächsten Zukunft in dem umfassenden Sinne einer Frage der äußeren Einrichtung und der inneren Erneuerung zu sehen, darum kommen wir auf dem Wege zur sozialen Neugestaltung so langsam vorwärts.

Wenn viele sagen: die innere Erneuerung erfordere eine lange Zeit, man dürfe sie nicht überstürzen, so lauert hinter solchen Reden eben die Scheu vor dieser Erneuerung. Denn die rechte Stimmung kann nur die sein: alles tatkräftig ins Auge zu fassen, was zur Erneuerung führen kann, und dann zuzusehen, wie langsam oder wie schnell die Lebensfahrt vorwärts kommen wird.

Die Ereignisse der letzten Jahre haben eine gewisse Ermüdung über die Seelenverfassungen der Zeitgenossen ausgegossen. Um der kommenden Generationen willen, um der Kultur der nächsten Zukunft willen, muß diese Ermüdung bekämpft werden. Aus solchen Empfindungen heraus ist die Idee der Dreigliederung an die Öffentlichkeit getreten. Sie mag vielleicht unvollkommen, sie mag ganz schief sein; ihre Träger werden verstehen, wenn man sie vom Gesichtspunkte anderer neuer Ideen bekämpft.
Daß man sie oft «unverständlich» findet, weil sie dem gewohnten Alten widerspricht, das können sie aber nicht als ein Zeichen betrachten, daß bei solchen Bekämpfern der Ruf gehört wird, der aus der Entwickelung der Menschheit für unsere Zeit sich doch, wie man glauben sollte, deutlich genug vernehmen läßt.

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Rudolf Steiner: „…zufrieden sein, was ich benennen möchte mit Oberflächenanschauung“. Pädagogik und Dreigliederung
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„Untersuchungen zeigen, dass die Früheinschulung dem Lebenskräfteorganismus nachhaltig schadet. Kindern die Zeit zu lassen, die sie für ihre Entwicklungsschritte brauchen, ist ein gesellschaftliches Ideal, für dessen Umsetzung auch auf Seiten der Waldorfpädagogik immer noch zu wenig getan werde – meint Dr. Christoph Meinecke, Kinderarzt und Psychotherapeut am Klinikum Havelhöhe in Berlin.“
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